25 July 2025

Wenn es passiert

Zur Halbzeit des Justiz-Projekts

Wir haben uns für dieses Jahr 2025 vorgenommen, herauszufinden, wie sehr und an welchen Stellen genau die unabhängige und unparteiische Justiz in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Strategien autoritärer Populisten verwundbar ist. Lasst uns Szenarien entwickeln, was auf uns zukommen könnte, hatten wir gesagt. Lasst uns das machen, bevor sie sich verwirklichen. Lasst uns die Zukunft antizipieren. Lasst uns Spielräume nutzen, um Gegenstrategien zu entwickeln, solange sie noch vorhanden sind. Damit wir vorbereitet sind. Wenn es passiert.

Etwas mehr als die Hälfte des Jahres ist um. Wir stecken mittendrin in den Recherchen. Wir haben mehr als 50 intensive und ausführliche Gespräche geführt, mit allen möglichen Stakeholdern aus Justiz und Verwaltung in sämtlichen Bundesländern. Wir haben uns tief hineingefuchst in die verwinkeltsten Einzelheiten des Gerichtspersonal- und organisationsrechts. Wir haben eine Fülle von Szenarien identifiziert, wie die autoritär-populistische Strategie die Justiz in die Zange nehmen könnte, wenn sie die Gelegenheit dazu erhält. Gegen Ende des Jahres wird ein Buch erscheinen, das unsere Erkenntnisse gebündelt in die Öffentlichkeit trägt.

Unterdessen hat sich die Wirklichkeit auf eine Weise weiterentwickelt, die unsere Vermutung zu bestätigen scheint, dass da auch auf uns in unserem scheinbar so wohl behüteten bundesdeutschen Rechtsstaat etwas zurollt, auf das wir uns dringend vorbereiten müssen. Mehr noch: Was, wenn es nicht mehr nur um Antizipation der Zukunft geht? Was, wenn wir schon weiter sind? Was, wenn es nicht mehr nur um das „wenn“ geht? Sondern es bereits passiert?

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The University Center for Human Values at Princeton University invites practitioners, faculty members of any discipline and independent scholars to apply for a fellowship in law and normative thinking for 2026-27. The program is open to senior and junior scholars, domestic and international scholars, and those based in law schools or in the practice of law and those who are based in other disciplines. The deadline for submission is December 4, 2025. More information here.

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Bevor etwas passieren kann, muss man zuerst im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankern, dass etwas passieren muss. Dass da etwas nicht stimmt mit diesen elitären Richter*innen und ihrer Unabhängigkeit. Dass es so nicht weitergehen kann. Das muss als Faktum breit akzeptiert sein. Die Bedingungen dafür selber herzustellen, ist der Kern der autoritär-populistischen Strategie. In Polen hatten Jarosław Kaczyński und seine PiS-Partei jahrelang die Behauptung gestreut, die Justiz sei insgesamt von korrupten postkommunistischen Kadern durchsetzt, die sich verschworen hätten, das „wahre Volk“ Polens  an der Verwirklichung seines Willens zu hindern. Jedes Gerichtsverfahren, das sie verloren, war ihnen als scheinbarer Beweis für diese Behauptung nützlich. Dass da eine kopierbare Strategie dahintersteckt, kann man in den USA, Mexiko, Israel und in allen möglichen anderen Ländern sehen. Die Diffamierung und Delegitimierung der unabhängigen Justiz ist oft der erste Schritt zu deren Umbau mit dem Ziel, sie als rechtsstaatliche Kontrollinstanz zu neutralisieren und zu einem autoritären Tool der Regierung umzuschmieden.

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass die orchestrierte Kampagne rechter Klein- und Kleinstmedien und Social-Media-Accounts gegen die aktuellen Wahlvorschläge der SPD für das Bundesverfassungsgericht nicht bloß Niedertracht, sondern Teil eben dieser Strategie war und ist – und zwar eine, gegen die kein legalistisches Resilienzreformkraut gewachsen ist. Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold werden irgendwelche Abtreibungs-, Plagiats-, Impfpflicht- und Klimadiktatur-Schurkereien angedichtet. Ob das stimmt oder nicht, spielt kaum eine Rolle. Die schiere Tatsache, dass sie und ihre Unterstützer sich eine solche Behandlung nicht gefallen lassen, ist den Verfolgern dieser Strategie nützlich genug. Sie liefert den Anschein von Evidenz für die Behauptung, solche Personen seien leider viel zu polarisierend und umstritten und politisch belastet für das höchste Amt in der deutschen Justiz. Und wenn dann keine Zweidrittelmehrheit für die Besetzung dieser Stelle zustande kommt – dann muss etwas passieren. Dann muss die Zweidrittelmehrheit eben abgeschafft werden, auf dass die Regierungsmehrheit fortan ohne Einbezug der Opposition darüber bestimmen kann, wer in Karlsruhe über sie und ihre Gesetze zu Gericht sitzt.

Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Politik der Zurückweisung Asylsuchender an den deutschen Grenzen, die Bundesinnenminister Alexander Dobrindt seit seinem Amtsantritt verfolgt, in einem schillernd strategischen Licht. Jeder weiß, dass diese Praxis europarechtswidrig ist – und so entschied auch das Verwaltungsgericht Berlin. Was folgte, war eine mediale Kampagne gegen das Gericht. Der Vorsitzende Richter sah sich – statt mit juristischer Gegenargumentation – mit politischen Vorwürfen konfrontiert. Ein „linker Richter“, so das Narrativ, der sich angeblich über das Gesetz erhebt. Bezeichnend: nicht die Begründung des Urteils stand im Mittelpunkt, sondern die Parteimitgliedschaft des Richters.

Natürlich müssen gerichtliche Entscheidungen in einem demokratischen Rechtsstaat kritisierbar bleiben – auch scharf. Doch was wir erleben, geht über Kritik hinaus. Es ist ein Angriff auf die Autorität der Justiz als gewaltbegrenzende Institution. Wir haben in den letzten Wochen zahlreiche Gespräche mit Richter*innen geführt. In keinem dieser Gespräche wurde der Umstand angezweifelt, dass die Justiz sich inhaltlicher Kritik zu stellen und ihre Autorität durch juristische Argumentation zu verteidigen hat. Im Gegenteil, in all unseren Recherchegesprächen hat sich uns eine Justiz präsentiert, die sich selbstkritisch reflektiert und bemüht, durch bessere Rechtskommunikation mehr Transparenz zu schaffen. Aber ebenso deutlich wurde: Die Justiz kann sich nicht allein verteidigen. Ihr fehlt es an effektiven Durchsetzungsmitteln. Sie ist darauf angewiesen, dass andere Staatsorgane ihre Entscheidungen respektieren und öffentlich verteidigen.

Dass der amtierende Bundesinnenminister Dobrindt mit seiner verwaltungsgerichtlichen Niederlage nicht einverstanden ist – geschenkt. Dass er öffentlich verkündet, das Urteil sei nur eine „Einzelfallentscheidung“ und die Praxis werde fortgesetzt, ist bereits bedenklich. Natürlich wirkt ein Urteil zunächst inter partes – also zwischen den Beteiligten. Unser Verwaltungs- und Rechtsstaat funktioniert aber auch gerade deshalb, weil der Staat als „Ehrenmann“ sich immer wieder kritisch selbst hinterfragt, ob eine gerichtliche Entscheidung im Einzelfall einen relevanten Rückschluss darauf zulässt, dass eine Verwaltungspraxis generell rechtmäßig ist. Tut er das nicht, bringt er den Rechtsstaat schon rein faktisch an seine Grenzen.

Noch bedenklicher ist sein langes Schweigen angesichts der medialen Angriffe auf die Richter*innen. Gerade als Innen- und somit Verfassungsminister hätte er sich von Anfang an schützend und in aller Deutlichkeit vor das Gericht stellen müssen – und tat es viel zu lange nicht.

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Logo Universität Wien - Weiß auf Blau

An der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ist eine auf fünf Jahre befristete Universitätsprofessur für Öffentliches Recht zu besetzen. Bewerber*innen sollen über einen methodisch fundierten wissenschaftlichen Ausweis im österreichischen Staats- und Verwaltungsrecht verfügen und fähig und bereit sein, dieses in seiner ganzen Breite in der Forschung sowie im Lehr- und Prüfungsbetrieb zu vertreten. Eine facheinschlägige Habilitation oder eine international anerkannte gleichwertige Qualifikation im Staats- und Verwaltungsrecht ist erwünscht. Nähere Informationen entnehmen Sie bitte der Ausschreibung.


Die Bewerbungsfrist läuft bis 17. September 2025.

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Der strategische Zweck der Diffamierung und Delegitimierung unabhängiger Richter*innen ist es, den Boden zu bereiten für künftige autoritäre „Justizreformen“, um das angebliche Übel, das man erst selbst als angebliches Faktum in der Öffentlichkeit etabliert hat, aus der Welt zu schaffen. Hier kommt unser Justiz-Projekt ins Spiel: Wir erkunden, wie solche „Justizreformen“ aussehen und welchen Schaden sie anrichten könnten – zumal sie häufig als sehr technische, sehr kleinteilige, scheinbar harmlose Vorschläge daherkommen. Wenn sie die Finanzierung der Gerichte betreffen, beispielsweise. Oder die IT-Ausstattung. Oder die Modalitäten der Richter*innen-Ernennung. Oder die Zuständigkeiten bestimmter Kammern. Lauter schwer zu skandalisierende, leicht zu übersehende Dinge. Sind sie erst einmal in Kraft, wird man sie nur sehr schwer wieder los. Das ist unsere Mission. Darauf wollen wir uns vorbereiten. Damit wir erkennen, womit wir es zu tun haben, wenn der nächste Schritt folgt, die entsprechenden Mehrheiten in Bund und Ländern vorausgesetzt. Dieses Wissen wollen wir in die Öffentlichkeit tragen. Bis Herbst, wenn alles glatt geht, sind wir so weit. We’ll keep you posted.

Bis dahin bleiben Sie uns bitte gewogen und unterstützen Sie unsere Arbeit. Mit einer wiederkehrenden Spende von 50 Euro im Monat leisten Sie einen unschätzbar wertvollen Beitrag zu unserer finanziellen Sicherheit und Unabhängigkeit. Weniger ist auch ok. Mehr ist immer willkommen!

Damit verabschiedet sich das Verfassungsblog-Editorial in die Sommerpause. Wir sehen uns am 12. September wieder, hoffentlich gut erholt und gestärkt für das, was vor uns liegt. Bis dahin Kopf hoch, alles Gute und Sonnencreme nicht vergessen!

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Editor’s Pick

von EVA MARIA BREDLER

Die letzten Tage bin ich etwas verloren durch Berlin geirrt. Ich habe gearbeitet, Leute getroffen, Kaffee getrunken, was man eben so macht. Aber es fühlte sich irgendwie mechanisch an, disconnected. Da fiel mir „On Connection“ von Kae Tempest in die Hände, im BuchHafen in Neukölln (große Empfehlung!). Tempest schreibt darüber, wie Kreativität – „the ability to feel wonder and the desire to respond“ – Verbundenheit bewirke – „the feeling of landing in the present tense“. Dazu zitiert Tempest Carl Jung, William Blake und eine Studie, die 2017 herausfand, dass sich der Herzschlag von Zuschauer:innen bei einem Theaterstück synchronisiert. Doch wie verbindet man sich (außerhalb des Theaters)? Tempest rät zu Selbstlosigkeit: „Let go of yourself. Tune in to other people.“ Als ich da so im Körnerpark saß und das las, wurde mir klar: Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. In diesem Moment lächelte mir eine junge Frau zu, die mit ihrem Sohn vorbeispazierte.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER

Seit Oktober 2023 – dem Monat, in dem die Hamas Israel brutal überfiel – hat eine Gruppe renommierter israelischer Völkerrechtswissenschaftler*innen zahlreiche Briefe und Memoranden verfasst, in denen sie ihre völkerrechtlichen Bedenken zu Aspekten des Gaza-Kriegs äußert. Die bislang größtenteils unveröffentlichten Dokumente wurden an den Generalstaatsanwalt Israels, den Militärgeneralanwalt, den Verteidigungsminister und andere Politiker*innen sowie an Medienvertreter*innen und den Obersten Gerichtshof gerichtet. Sie thematisieren u.a. die Totalblockade humanitärer Hilfe, die Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs, die Aufstachelung zum Genozid, die Misshandlungen und den Tod palästinensischer Gefangener. Bis heute bleiben die Briefe unbeantwortet. KAI AMBOS (EN) hat die Dokumente systematisch aufgearbeitet. Sie zeigen, so Ambos, nicht nur ein bedingungsloses Bekenntnis zum (humanitären) Völkerrecht – sondern auch, dass jede Form des Boykotts juristischer Kolleg*innen in Israel kontraproduktiv sei und nicht nur der Rechtsstaatlichkeit in Israel, sondern auch dem Völkerrecht einen Bärendienst erweise.

Für HENNING LAHMANN (EN) haben auch Merz und Steinmeier dem Völkerrecht einen Bärendienst erwiesen, genauer: Deutschlands völkerrechtlicher Glaubwürdigkeit. Dabei bedrohe nicht der Völkerrechtsbruch selbst die normative Stabilität, sondern wie die internationale Gemeinschaft darauf reagiere.

Völkerrechtliche Verantwortung hat das BVerfG dagegen letzte Woche zurückgewiesen, als es um Drohneneinsätze von der US-Air-Base Ramstein ging. SUÉ GONZÁLEZ HAUCK und JENS T. THEILEN (DE) halten das Urteil – trotz Lücken in der Maßstabsbildung – auch für die umstrittenen Waffenlieferungen an Israel für bedeutsam.

Auch bei Schutzsuchenden aus Gaza ist Deutschland seiner Verantwortung ausgewichen: Anderthalb Jahre dauerte der Entscheidungsstopp aufgrund einer „ungewissen Lage“ im Gazastreifen. Nun hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärt, wieder über Anträge zu entscheiden. Ein längst überfälliger Schritt, findet MARK NIKLAS CUNO (DE). Neben subsidiärem Schutz lägen oft aber auch ipso-facto-Schutz oder Flüchtlingseigenschaft nahe.

Und noch ein U-Turn im Migrationsrecht: Nachdem erst im Februar 2024 § 62d AufenthG in Kraft trat, der bei der Anordnung von Abschiebungshaft eine anwaltliche Vertretung verpflichtend machte, soll die Norm nun wieder abgeschafft werden. Für JARA AL-ALI und HANNAH FRANZ (DE) verkennt die Gesetzesbegründung den Normzweck: Freiheitsrechte und Rechtsstaatlichkeit dürften nicht dem politischen Ziel schnellerer Abschiebungen untergeordnet werden.

Einen U-Turn gab’s auch in Berlin, das bald autofrei werden könnte: Nachdem die Senatsverwaltung das Volksbegehren „Berlin autofrei“ gestoppt hatte, hat der VerfGH nun den Weg dafür frei gemacht. Es läge bereits kein grundrechtlicher Eingriff vor. JAKOB HOHNERLEIN (DE) begrüßt das grundsätzlich, doch hätte es für überzeugender gefunden, eine Eingriffsqualität anzuerkennen.

Berlin soll nicht nur autofrei werden, sondern auch ansteckerfrei – jedenfalls im Bundestag, wenn es nach dessen Präsidentin ginge. Julia Klöckner ist in diesem Amt bemerkenswert um „Neutralität“ besorgt und hat zuletzt etwa untersagt, eine Kufiya zu tragen und die Regenbogenflagge zum CSD zu hissen. Doch was heißt „Neutralität“ hier eigentlich? GÜNTER FRANKENBERG (DE) macht sich auf die Suche nach einem parlamentarischen Neutralitätsbegriff.

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Währenddessen stemmen sich in den USA die unteren Gerichte weiter gegen die Trump-Regierung. Nachdem es der Supreme Court in Trump v. CASA für unzulässig hielt, die executive order des Präsidenten zu birthright citizenship per injunction bundesweit auszusetzen, hat nun ein Richter aus New Hampshire einen neuen Versuch gestartet, diesmal per class action. SUZETTE MALVEAUX (EN) zeichnet die Unterschiede nach – und wie der Supreme Court sich nun auch die class action vorknöpfen könnte.

Der US-Kongress knöpfte sich letzte Woche die Entwicklungszusammenarbeit und den öffentlichen Rundfunk vor und kürzte deren Mittel drastisch. So etwas ist dem öffentlichen Rundfunk der USA in den 60 Jahren seines Bestehens noch nicht passiert. Was dahintersteht und was das für das First Amendment bedeutet, erklärt JANE KIRTLEY (EN), anhand einer kurzen Geschichte des US-amerikanischen Rundfunks.

DAVID SUPER (EN) ergänzt Kirtleys Analyse: Die Mittelkürzungen zeigten, wie der Kongress immer mehr seiner verfassungsrechtlichen Haushaltsgewalt ab- bzw. aufgebe – und damit seine institutionelle Identität.

Erst kurz zuvor hatte der US-Kongress ein anderes hochumstrittenes Gesetz verabschiedet, die sogenannte „One Big, Beautiful Bill“ (die ihrem Namen leider weiß Gott nicht gerecht wird). Eine Regelung sieht vor, dass Dienstleistungen von Planned Parenthood, die vor allem Familienplanung und Abtreibung betreffen, für ein Jahr nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt werden. Nach Medina v. Planned Parenthood zeige sich daran ein zunehmender rechtlicher Angriff auf Bürgerrechte und Gesundheitsversorgung für Arme, so AZIZA AHMED (EN).

Bessere Nachrichten für reproduktive Gesundheit gibt es aus England und Wales: Dort hat das Unterhaus letzten Monat Abtreibung vollständig entkriminalisiert – allerdings nur für Schwangere, nicht für Personen, die Abtreibungen durchführen oder erleichtern. Das Gesetz könne Armut so kriminalisieren und das Versammlungsrecht einschränken, warnt RUTH FLETCHER (EN) und erklärt, wie ein ganzheitlicher Ansatz zu reproduktiver Freiheit aussehen würde.

Einen ganzheitlichen Ansatz zu sexueller Autonomie will dagegen Schweden verfolgen, indem es Sexarbeit nun auch online verbietet. Doch zu welchem Preis? THOMAS JOYCE (EN) argumentiert, dass das neue Gesetz riskiere, Autonomie zu bestrafen, Privatsphäre einzuschränken und digitale Freiheiten zu erodieren – ohne dabei irgendjemanden zu schützen.

Mit Autonomie hadert auch der deutsche Gesetzgeber: Obwohl das BVerfG schon 2020 ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ anerkannt hat, konnte sich der Bundestag bislang nicht auf ein Gesetz einigen. Der BVerfG-Beschluss von Dienstag zeigt einmal mehr: Sterbehilfe muss dringend gesetzlich geregelt werden. England und Frankreich haben es dieses Jahr vorgemacht. THOMAS WEIGEND (DE) stellt die Regelungen vor und zieht Schlüsse für die deutsche Debatte.

Ob Großbritannien und Frankreich auch im Asylrecht als Vorbild dienen können, ist dagegen fragwürdig: Letzte Woche einigten sie sich auf ein Pilotprojekt nach dem Prinzip „one in, one out“: UK schickt Bootsflüchtlinge zurück nach Frankreich und nimmt im Gegenzug Asylsuchende mit familiären Bindungen nach Großbritannien auf. Das markiere eine neue Entwicklung in der europäischen Migrationspolitik, sagen AGOSTINA PIRRELLO und SILVIA BARTOLINI (EN): Erstmals verhindere ein EU-Staat nicht nur Ankünfte, sondern blockiert aktiv Abreisen vom eigenen Boden.

Kreative Entwicklungen gibt es auch in Taiwan. Vor achtzehn Monaten haben die Bürger*innen ein neues Parlament gewählt, das seitdem massiv seine Macht verschiebt und verfassungsmäßige Kontrollmechanismen erodiert. Deswegen greifen taiwanische Bürger*innen nun zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sie nutzen das veraltete Instrument des „Recall“, um die Legislative in die Schranken zu weisen. YOU-HAO LAI (EN) beschreibt die beispiellose Kampagne und was sie über Taiwans Verfassungskultur verrät.

Beispiellos ambitioniert sollen die neuen Klimaziele der EU sein, die die Kommission nun vorgestellt hat. Dabei sollen internationale CO2-Zertifikate eine zentrale Rolle spielen. INGO VENZKE (EN) erklärt, warum die Zertifikate problematisch sind und die flexiblen Standards in der Klimapolitik eine vielsagende Geschichte haben.

Mit dieser Flexibilität könnte es bald vorbei sein: Der Juli brachte gleich zwei historische völkerrechtliche Entscheidungen zur Klimakrise. Eine kennen Sie schon aus unserem Symposium „Human Rights Protection in the Climate Emergency: The Inter-American Court of Human Rights’ Advisory Opinion No. 32“ (EN): Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat als erster internationaler Gerichtshof das Menschenrecht auf ein gesundes Klima anerkannt. VERENA KAHL und JOSÉ DANIEL RODRÍGUEZ-ORÚE zeichnen die Entstehung dieses neuen Rechts nach und stellen die transformativsten Elemente für Theorie und Praxis heraus. SARAH DORMAN, MONICA IYER KELSEY und JOST-CREEGAN erklären, was die Entscheidung für Unternehmen und Menschenrechte bedeutet. ARMANDO ROCHA, MARIA ANTONIA TIGRE und MIRIAM COHEN untersuchen schließlich, was die Advisory Opinion zu Wiedergutmachung und Schäden sagt.

Die zweite historische Entscheidung ist Thema unseres neusten Symposiums, das wir gemeinsam mit dem Sabin Center for Climate Change Law herausgeben: „The ICJ’s Advisory Opinion on Climate Change“ (EN). Darin bezeichnet der IGH den Klimawandel als „existenzielle Bedrohung“. MARIA ANTONIA TIGRE, MAXIM BÖNNEMANN und ANTOINE DE SPIEGELEIR fassen zum Auftakt die zahlreichen Pflichten zusammen, die der IGH bestätigt und die die Konturen des Umweltvölkerrechts und globaler Klimapolitik bedeutend schärfen könnten. Stay tuned – das ist diesmal als aktiver Imperativ gemeint, denn wir werden Sie leider nicht über unsere nächsten Beiträge auf dem Laufenden halten können: Wir sind für ein paar Wochen in der Sonne. Sie hoffentlich auch – aber vergessen Sie nicht, ab und zu auf unserer Webseite vorbeizuschauen. Der Mensch lebt nicht von Vitamin D allein.

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Das war’s für diese Woche.

Ihnen alles Gute!

Ihr

Verfassungsblog-Team

 

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SUGGESTED CITATION  Brandau, Anna-Mira; Steinbeis, Maximilian: Wenn es passiert: Zur Halbzeit des Justiz-Projekts, VerfBlog, 2025/7/25, https://verfassungsblog.de/wenn-es-passiert/, DOI: 10.59704/22d8d7f19b315862.

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