28 July 2025

Ein Strohfeuer für die österreichische Justiz

Warum die Einrichtung der Bundesstaatsanwaltschaft nur ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Festigung der Rechtsstaatlichkeit ist

Am 8. Juli 2025 hat die Europäische Kommission ihre neuen Rechtsstaatlichkeitsberichte 2025 veröffentlicht und damit die seit 2020 laufende „Rule-of-Law“-Evaluierung der EU-Mitgliedstaaten fortgesetzt. Nur einen Tag später kündigte die österreichische Bundesregierung die Einrichtung einer Bundesstaatsanwaltschaft an – ein Vorhaben, das die Kommission bereits mehrfach in ihren Berichten gefordert hatte. Politik und Medien feierten die Reformankündigung als Erfolg, teils gar als Meilenstein. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich ein differenziertes Bild: Die Debatte über Rechtsstaatlichkeit lässt sich nicht auf einzelne Maßnahmen reduzieren, die Bundesstaatsanwaltschaft ist somit allenfalls ein erster Schritt. Österreich braucht eine breitere, konsequente Reform seiner Justiz, eingebettet in einen europäisch vernetzten Diskurs.

Die Causa Pilnacek und das Vertrauen in die Justiz

Folgt man dem für Österreich so typischen Trend, gesellschaftliche Realitäten an herausragenden Persönlichkeiten zu spiegeln, bietet sich für das Verständnis der aktuellen Situation der Justiz ein Blick auf Dr. Christian Pilnacek (1963-2023) in besonderer Weise an. Pilnacek war zentral an der Strafrechtsreform 2008 beteiligt, leitete über Jahre die Straflegistik und die Fachaufsicht im Justizministerium und verfügte so über eine historisch ungewöhnliche Machtfülle im österreichischen Justizsystem. Je mehr Kritik an seinem Wirken laut wurde und je weiter er schrittweise entmachtet wurde, desto stärker rückte er in den Mittelpunkt der österreichischen Justizdebatte – endgültig, als er am 20. Oktober 2023 unter bis heute ungeklärten Umständen am Donauufer bei Rossatz starb, sein privates Handy ohne Datensicherung vernichtet wurde und eine Reihe weiterer rätselhafter Vorgänge folgten. Nachdem im Jahr 2024 heimlich aufgezeichnete Tonbandaufnahmen publik geworden sind, in denen Pilnacek, kurz vor seinem Ableben, massive Vorwürfe gegen höchste politische Funktionsträger in Österreich erhoben und brisantes Geheimwissen angedeutet hatte, wurde eine Untersuchungskommission unter der Leitung von Dr. Martin Kreutner eingesetzt. Der im Juli 2024 vorgelegte Abschlussbericht (vgl. näher dazu hier) zeichnete ein problematisches Bild einer „Zweiklassenjustiz“ in Österreich, das sich – soweit Justizangehörige betroffen sind – sogar zu einer „Dreiklassenjustiz“ ausweite.

Vor diesem Hintergrund forderte die Untersuchungskommission die Schaffung einer Bundesstaatsanwaltschaft, sah jedoch auch darüber hinausgehende Reformen als notwendig an. Im Mai 2025 unternahm die FPÖ einen Vorstoß für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Justiz, Rechtsstaatlichkeit und Korruption – erneut ein Themenfeld, das eng mit dem Namen Pilnacek verknüpft bleibt.

Die Einführung einer Bundesstaatsanwaltschaft

Diskussionen über eine Bundesstaatsanwaltschaft (oder auch „Generalstaatsanwaltschaft“ oder „Oberste Staatsanwaltschaft“) reichen rund zwei Jahrzehnte zurück, endeten aber – in einer weitgehend nationalen, an der bisherigen Tradition orientierten Perspektive – durchgehend mit einem abschlägigen Befund. Erst die Serie publik gewordener Justizskandale ab 2019 führte zu einem Umdenken. Eine 2021 vom Justizministerium eingesetzte „Arbeitsgruppe zur Schaffung einer unabhängigen und weisungsfreien Bundesstaatsanwaltschaft“ legte 2022 Bericht vor, der – erstmals unter Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben – Gestaltungsvorschläge für eine unabhängige, weisungsfreie Bundesstaatsanwaltschaft entwickelte.

Gerade die Einbindung der europarechtlichen Perspektive war das besondere Novum dieses Berichts. Sie hat – allen verbleibenden Grauzonen zum Trotz – den Reformbedarf im österreichischen Justizwesen besonders klar hervorgehoben. So betone etwa die Venedig-Kommission die Bedeutung unabhängiger und unparteilicher Staatsanwaltschaften (S. 12 des Berichts), während der Europarat Deutschland im Jahr 2009 aufforderte, einzelfallbezogene Weisungen zur Strafverfolgung seitens der Justizministerin/des Justizminister zu beenden.1) 2019 kritisierte auch der EuGH Deutschland für dieses „externe Weisungsrecht“ und hatte zur Folge, dass deutsche Staatsanwaltschaften mangels Unabhängigkeit keine Europäischen Haftbefehle mehr ausstellen durften. 2020 wurde den deutschen Generalanwaltschaften die Anerkennung als vollstreckende Justizbehörde versagt.2)

Der Ministerratsvortrag vom 9. Juli sieht nunmehr in Österreich die Einführung einer weisungsfreien Bundesstaatsanwaltschaft als oberste Ermittlungs- und Anklagebehörde mit sechsjähriger Funktionsdauer ohne Möglichkeit der Wiederwahl vor. Anders als von der Arbeitsgruppe vorgeschlagen, die eine Bestellung bis zur Pensionierung vorsah, wird ein Dreierkollegium mit zweijährigem Vorsitzwechsel eingerichtet. Die parlamentarische Kontrolle wird gewährleistet, darf jedoch laufende Verfahren nicht betreffen. Weitere Details sind noch auszuarbeiten.

Was die Rechtsstaatlichkeitsberichte verschweigen

Seit 2020 veröffentlicht die Europäische Kommission jährlich Rechtsstaatlichkeitsberichte zu allen EU-Mitgliedstaaten, seit 2025 auch zu einzelnen Beitrittskandidaten. Diese Berichte bündeln unterschiedliche Kontrollverfahren, die bereits zuvor bestanden, in einem einheitlichen Monitoring. Einerseits wuchs in der EU die Sensibilität für Rechtsstaatlichkeitsfragen, andererseits verschlechterte sich die Situation der Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn dramatisch – beides zusammen brachte diese Verfahren ins Rollen.

Der umfassende Ansatz des Monitorings, das nicht nur das Justizsystem, sondern auch Bereiche wie Korruptionsbekämpfung, Medienfreiheit und die Funktionsfähigkeit öffentlicher Institutionen einbezieht, schützt das Verfahren vor dem Vorwurf der Selektivität oder Parteilichkeit gegenüber den „Renegaten der Wertegemeinschaft“.3) Zugleich geraten die Berichte in Bezug auf Mitgliedstaaten, bei denen aus Brüsseler Sicht keine akute Rechtsstaatlichkeitskrise besteht, rasch zur „lustlosen Formübung“ – so auch im Fall Österreichs.

Interessanterweise hat das Weisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften in allen fünf bisher erschienenen Rechtsstaatlichkeitsberichten zu Österreich eine zentrale Rolle eingenommen. Insofern haben sie auch dazu beigetragen, das Anliegen einer Reform des Weisungsrechts in jüngerer Zeit zu präzisieren.

In diesen Berichten sind Licht und Schatten festzustellen: Sie zeigen auf, dass das Weisungsrecht nur einen Teilausschnitt eines umfassenderen Problems bildet. Andererseits erfassen diese Berichte, wie zu zeigen sein wird, die Dimension und Natur der Herausforderung im Bereich Justiz und Rechtsstaatlichkeit nur unzureichend und in ungenügender Tiefe.

Erfreulich ist, dass der jüngste Bericht vom 8. Juli 2025 den Blick nicht auf das Weisungsrecht verengt. Er weist etwa auch auf die politische Besetzung von Verwaltungsgerichtsspitzen, die Berichtspflichten der Staatsanwaltschaften, hohe Gerichtsgebühren, Mängel bei Richter:innenbeurteilungen und den Verbesserungsbedarf bei der Korruptionsbekämpfung hin. Allerdings entsteht so der Eindruck einzelner Probleme, die isoliert und ohne große Dringlichkeit behandelt werden könnten. Übersehen wird dabei häufig, wie eng diese Probleme miteinander verbunden sind, und dass strukturelle sowie rechtskulturelle Reformansätze fehlen.

Die blinden Flecken der Rechtsstaatlichkeitsberichte zur Justiz in Österreich

Doch auch dort, wo die Rechtsstaatlichkeitsberichte der EU konkrete Defizite in Österreich benennen, bleiben sie oft an der Oberfläche. So verweisen sie zwar zutreffend auf die hohen Gerichtsgebühren als Hindernis für den effektiven Zugang zum Recht, blenden dabei jedoch aus, dass diese in der Regel nur einen Teil – und meist den geringeren – der Verfahrenskosten in Österreich ausmachen. Die teils erheblichen Anwaltskosten bleiben ebenso unerwähnt wie die Frage, ob verpflichtende alternative Streitbeilegungsverfahren, wie sie in anderen EU-Staaten den Zugang zur Justiz erleichtern und vergünstigen, auch in Österreich Abhilfe schaffen könnten.

Ähnliches gilt für den Bereich der Korruptionsbekämpfung. Zwar kann der Rückgriff auf die subjektive Korruptionswahrnehmung ein erster Indikator sein, doch stehen mittlerweile zahlreiche ergänzende Analyseverfahren zur Verfügung, die im Zuge der Evaluierungsverfahren seitens der EU allerdings ungenutzt bleiben.

Die Bekämpfung von Korruption4) und die Sicherstellung einer unabhängigen und transparenten Justiz sind globale Herausforderungen, der sich auch die Vereinten Nationen angenommen haben. In Österreich wirft insbesondere das Bestellverfahren für Richterinnen und Richter Fragen auf: Anders als in vielen anderen Mitgliedstaaten verfügen Kandidatinnen und Kandidaten hierzulande über keinen Rechtsschutz.5) Das Verfahren zur Besetzung des Verfassungsgerichtshofs, das spätestens seit der „Sideletter“-Affäre öffentliche Aufmerksamkeit erlangt hat, wirft ebenfalls Fragen auf. Die Bestellung auf Lebenszeit bzw. bis zum Erreichen des 70. Lebensjahres – während das reguläre Pensionsalter im öffentlichen Dienst bei 65 Jahren liegt – sowie die Möglichkeit, nebenbei einer weiteren beruflichen Tätigkeit nachzugehen, verleihen diesem Amt eine besondere Machtfülle. Gleichzeitig führt dies zu potenziellen Interessenskonflikten und zu einer nur sehr langsamen Erneuerung der Zusammensetzung des Gerichts.

Schon lange gefordert wird in Österreich außerdem die Schaffung einer eigenständigen Selbstverwaltungsbehörde für die Justiz, wie sie beispielsweise in Italien in Form des Obersten Richterrats existiert. Im Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU findet sich hierzu jedoch kein Hinweis. Dabei könnte eine solche Einrichtung sowohl das Bestellungsverfahren versachlichen als auch die Dienstaufsicht und die Ausübung des internen Weisungsrechts entpolitisieren.

Was jetzt zu tun ist: von Symbol zu Struktur

Gerade weil viele Probleme in der österreichischen Justiz strukturell miteinander verbunden sind, lassen sich nachhaltige Lösungen nur im europäischen Kontext denken. Die aktuellen Bemühungen zur Entpolitisierung der Staatsanwaltschaften in Österreich sind in diesem Zusammenhang zu begrüßen, reichen aber bei weitem nicht aus. Eine unabhängige, qualitativ hochwertige und transparente Rechtsprechung erfordert Reformen auf mehreren Ebenen.6)

Voraussetzung dafür ist zunächst ein Problembewusstsein, das nicht vom zufälligen Aufkommen politischer oder justizieller Skandale abhängt, sondern durch kontinuierliche und planvolle Anstrengungen geschaffen wird. Bisher wirkt es, als habe der Abbau von Rechtsschutzgarantien in sensiblen Bereichen der österreichischen Rechtsordnung mehr Systematik und Strategie aufgewiesen als die derzeitigen Versuche, diesen Prozess umzukehren.

Eine nachhaltige Sensibilisierung kann nur gelingen, wenn sie auf mehreren Ebenen ansetzt. So müsste in den Rechtswissenschaften der Blick über die Landesgrenzen gestärkt werden: Andere Mitgliedstaaten haben bereits tragfähige Modelle zur Festigung der Rechtsstaatlichkeit entwickelt, die als Anregung dienen können. Doch Rechtsvergleichung im Allgemeinen und vergleichendes Verfassungsrecht im Besonderen spielen in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung an österreichischen Universitäten bislang nur eine untergeordnete Rolle – ein Missstand, der sich zeitnah beheben ließe.

Auch von europäischer Seite braucht es mehr Nachdruck und Entschlossenheit: Die Rechtsstaatlichkeitsberichte der Europäischen Kommission bleiben, wie gezeigt, oft zu oberflächlich und lückenhaft. Vor allem aber sollte der vielfach beschworene „Dialog der Gerichte“ vom Schlagwort zu einem wirksamen Grundsatz weiterentwickelt werden. Dafür gilt es, den Zugang zu den europäischen Gerichten, insbesondere im Vorabentscheidungsverfahren, zu erleichtern. Das Urteil im Fall Consorzio Italian Management war ein Weckruf, dem weitere Schritte folgen sollten. Ebenso ist das Staatshaftungsrecht für judizielles Unrecht nach der Köbler-Rechtsprechung weitgehend totes Recht geblieben. Der EuGH könnte hier stärker eingreifen, indem er Kriterien präzisiert und den Mitgliedstaaten damit eine aktivere Umsetzung abverlangt, um dieses wichtige Instrument zur Sicherung rechtsstaatlicher Standards mit Leben zu füllen.

Hinzu kommt dann noch der völlig unzureichende Zugang zum Rechtsschutzsystem des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: Mit einer Zulässigkeitsrate von unter fünf Prozent kann von einem effektiven Rechtsschutz kaum die Rede sein. Dieses Problem ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, wohl aber den anderen europäischen Höchstgerichten, die sich dadurch einer kritischen Kontrolle entziehen können – selbst bei gravierenden Mängeln in ihrer Rechtsprechung. Eine Verbesserung des Zugangs zum EGMR wäre daher nicht nur ein Beitrag zum individuellen Rechtsschutz, sondern auch ein wichtiges Instrument zur Qualitätssicherung nationaler Rechtsprechung.

Vor diesem Hintergrund kann der Beschluss vom 9. Juli 2025 zur Einrichtung einer Bundesstaatsanwaltschaft nur als erster Schritt in einem langen Reformprozess gesehen werden, dem weitere, substanzielle Anstrengungen folgen müssen.7)

Reform braucht langen Atem

Rechtsstaatlichkeit lässt sich nicht durch eine einzelne Reform herstellen. Die Einrichtung einer Bundesstaatsanwaltschaft kann ein erster Schritt sein, sie ersetzt aber nicht die notwendigen strukturellen Anpassungen und die konsequente Entpolitisierung der Justiz. Dafür braucht es einen europäischen Rahmen, der Standards nicht nur setzt, sondern ihre Umsetzung einfordert – und Mitgliedstaaten in die Verantwortung nimmt, rechtsstaatliche Verfahren und unabhängige Justiz auch tatsächlich zu gewährleisten.

References

References
1 Entschließung Res. 1685/2009 v. 30.9.2009, zitiert in Deutscher Bundestag, BT-Drs. 17/3577, S. 29, Pkt. 5.4.3.
2 Vgl. dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Weisungsbefugnisse gegenüber der Staatsanwaltschaft, WD 7 – 3000 – 081/23 (15.09.2023).
3 Hufeld, in: Kernelemente der europäischen Integration, S. 246.
4 Diese Thematik ist zu einem eigenen Forschungsfeld geworden. U.a. wurde dabei aufgezeigt, dass die Korruption in „Civil-Law“-Systemen ausgeprägter ist als in „Common-Law“-Systemen. Vgl. L. Holmes, Corruption – A very short introduction, 2015, S. 63.
5 Dieses Problem nimmt nun im österreichischen öffentlichen Dienst eine immer größere Dimension, so z.B. auch an den Universitäten, an denen – in EU-rechtswidriger Weise – kein wirksamer Rechtsschutz im Bestellverfahren besteht.
6 Vgl. auch M. Lins, Die Bekämpfung von Korruption als Aufgabe des Europarats – unter besonderer Berücksichtigung von Österreich, 2025.
7 Ausführlich dazu P. Hilpold/J. Waibl, The Poet, the Law and the Protection of Individual Rights: An EU Reform Proposal from Literature”, in: XLII Polish Yearbook of International Law 2022 (2023), S. 203-219.

SUGGESTED CITATION  Hilpold, Peter: Ein Strohfeuer für die österreichische Justiz: Warum die Einrichtung der Bundesstaatsanwaltschaft nur ein erster Schritt auf dem langen Weg zur Festigung der Rechtsstaatlichkeit ist, VerfBlog, 2025/7/28, https://verfassungsblog.de/osterreich-bundesstaatsanwaltschaft-justiz/, DOI: 10.59704/189c4ec01b96c339.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Bundesstaatsanwaltschaft, Justiz, Strafrecht, Österreich