08 September 2025

Schwächung eines starken Gerichts

Zu den Angriffen der ecuadorianischen Regierung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit

Weltweit geraten Verfassungsgerichte unter Druck. Während die Delegitimierungsversuche der Justiz in einigen Kontexten gut dokumentiert werden, erhalten andere Fälle bislang nur wenig Aufmerksamkeit. Hierzu zählt auch Ecuador, wo Präsident Daniel Noboa jüngst einen Marsch auf das Verfassungsgericht anführte. Mit dem Marsch fanden die Angriffe des rechtsgerichteten Präsidenten auf das Gericht ihren performativen Höhepunkt. Die Schärfe der Delegitimationskampagnen gegen das Gericht ist auch mit den Partikularitäten der ecuadorianischen Verfassungsordnung zu erklären: Deren weitreichende Garantien erschweren es Noboa, den Staat nach seinen Vorstellungen umzubauen.

Hintergrund

Daniel Noboa wurde 2023 mit 35 Jahren zum jüngsten Präsidenten in der Geschichte Ecuadors gewählt und 2025 in diesem Amt bestätigt. In beiden Wahlkämpfen versprach er vor allem, die Unsicherheit im Land zu bekämpfen. Ecuador leidet seit Jahren unter einer Welle der Gewalt und weist mittlerweile eine der höchsten Mordraten in der Region auf. 2024 stufte Noboa die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den organisierten kriminellen Gruppen und der Staatsmacht in einem Dekret als „internen bewaffneten Konflikt“ ein und verschaffte dem Militär damit erweiterte Befugnisse (hierzu Guerrero Salgado).

In diesem Kampf gegen das organisierte Verbrechen sieht sich die Regierung durch das Verfassungsrecht eingeschränkt. Bereits im Wahlkampf Anfang dieses Jahres kündigte Noboa daher für den Fall seines Sieges die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, welche die von ihm wenig geschätzte Verfassung reformieren sollte, an. Während ein solch umfassender Reformprozess derzeit nicht absehbar ist, verlagerten sich jüngst die Angriffe von der Verfassung als solcher hin zum Verfassungsgericht als Institution.

Das Verfassungsgericht hatte am 4. August mehrere Beschwerden gegen drei Gesetze angenommen (admisión de demandas), die das Parlament auf Vorschlag Noboas verabschiedet hatte, und insgesamt 18 Artikel aus diesen Gesetzen für vorläufig unanwendbar erklärt. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus. Die Gesetze enthalten einen bunten Strauß an Regelungen, die im Namen der Sicherheit und Korruptionsbekämpfung die Befugnisse der Sicherheitskräfte ausweiten und die Kontrolle über zivilgesellschaftliche Organisationen stärken sollten.

Gegen diese Gesetze reichten verschiedene Organisationen und Personen beim Verfassungsgericht insgesamt 40 Beschwerden im abstrakten Normenkontrollverfahren (demandas de inconstitucionalidad) ein. Solche Beschwerden können in Ecuador nach Art. 77 des Gesetzes über justizielle Garantien und Verfassungsgerichtsbarkeit (Ley Orgánica de Garantías Jurisdiccionales y Control Constitucional, LOGJCC) im Sinne einer Popularklage von jeder beliebigen Person erhoben werden. Dass das Verfassungsgericht vorläufige Maßnahmen anordnet, ist nicht ungewöhnlich. Solche können auch im abstrakten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 79 Nr. 6 LOGJCC beantragt werden, wenn schwere Verletzungen von Verfassungsrechten drohen.

Der Verfassungskonflikt eskaliert

Dennoch lösten bereits diese vorläufigen Maßnahmen eine Welle heftiger Angriffe auf das Verfassungsgericht aus. Umringt von martialisch bewaffneten Militärs und Polizisten erklärten die Regierungsministerin Zaida Rovira und der Parlamentspräsident Niels Olsen das Verfassungsgericht zum „Feind des Volkes“. An verschiedenen Orten des Landes tauchten Plakate auf, die das Verfassungsgericht für die Todesopfer der Gewalt direkt verantwortlich machten, oder die Verfassungsrichter*innen namentlich und mit Fotos als „die Personen, die uns den Frieden rauben“ diffamierten. Wenngleich die Herkunft der Plakate nicht zweifelsfrei geklärt ist, bestehen doch Hinweise darauf, dass sie aus Regierungskreisen stammen.

Die Vorgänge gipfelten am 12. August in einem Protestmarsch zum Verfassungsgericht, zu dem Präsident Noboa aufrief und an dem sich zahlreiche Personen beteiligten. Hinweise darauf, dass die Teilnahme von Demonstrierenden durch die Regierung finanziert wurde, wies diese zurück. Der Präsident selbst setzte sich an die Spitze des Zuges und hielt vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts eine kurze Rede, in der er erklärte, er würde es nicht zulassen, dass neun Richter*innen, „die nicht einmal ihr Gesicht zeigen“, den Wandel im Land aufhalten. Der Vorwurf wirkt skurril: Die Richter*innen sind nicht nur auf der Website des Verfassungsgerichts prominent porträtiert; auch ihre Nominierung wurde umfassend in den Medien begleitet, Aufzeichnungen mündlicher Verhandlungen finden sich auf YouTube. Es handelt sich bei den Richter*innen also mitnichten um sinistere Mächte, sondern um Personen, die aufgrund ihres Amtes im Lichte der Öffentlichkeit stehen.

Das Verfassungsgericht berichtete, dass vor dem Marsch Schutzzäune um das Gericht entfernt wurden und eine erhöhte Militärpräsenz zu verzeichnen war. Für zusätzliche Besorgnis sorgte die Aufforderung durch das Energieministerium an das Verfassungsgericht, das Gerichtsgebäude zu räumen. Diese Anordnung nahm das Ministerium allerdings einen Tag später wieder zurück. Ebenfalls schikanierend und diffamierend wirkte die Anordnung der Regierung, Verwaltung und Management des Gerichtshofs einer Sonderuntersuchung zu unterziehen.

Strukturelle Schwächung der richterlichen Unabhängigkeit

Die Liste dieser Schikanierungen ließe sich leicht fortsetzen. Sie zeugt von einer grundlegenden Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung. Besonders besorgniserregend ist, dass die Schwächung der Verfassungsjustiz auch gesetzlich verankert werden soll. Präsident Noboa schlug eine Änderung der Verfassung dahingehend vor, dass die Verfassungsrichter*innen im Rahmen eines Impeachment-Verfahrens (juicio político) durch das Parlament ihres Amts enthoben werden können. Bisher sieht die Verfassung solche Amtsenthebungsverfahren nur für Minister*innen und einige andere hohe Funktionsträger*innen vor (Art. 131). Für Verfassungsrichter*innen schließt Art. 431 ein solches Impeachment ausdrücklich aus. Beim juicio político handelt es sich um einen Zwitter aus juristischen und politischen Verfahren. So erfordert die Amtsenthebung zwar den Vorwurf eines Rechtsverstoßes, das Verfahren wird allerdings durch einen parlamentarischen Antrag eingeleitet und durch ein qualifiziertes Mehrheitsvotum im Parlament beendet.

Auch wenn der Vorschlag vorsieht, dass bloße Diskrepanzen über verfassungsgerichtliche Entscheidungen nicht zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens herangezogen werden können (S. 29), ist die richterliche Unabhängigkeit hier doch unmittelbar gefährdet. Das Missbrauchspotential einer Mehrheitsentscheidung über die Absetzung unliebsamer Verfassungsrichter*innen liegt auf der Hand. Über die Einführung des Amtsenthebungsverfahrens einer Verfassungsänderung sollte in einer für Ende November angesetzten Volksabstimmung entschieden werden. Allerdings stellte das Verfassungsgericht, das den Vorschlag von Amts wegen prüfen (Art. 102 ff. LOGJCC) musste, fest, dass dieser mit der Gewaltenteilung Grundstrukturen der Verfassung verändern würde und diese Verfassungsänderung somit jedenfalls im vorgesehenen Verfahren unzulässig ist. Wie die Regierung hierauf reagiert, bleibt abzuwarten.

Schwächung eines starken Gerichts

Diese obligatorische verfassungsgerichtliche Prüfung und die Verhinderung der Verfassungsänderung verdeutlichen das Kernproblem der Noboa-Regierung mit dem Verfassungsgericht: Diesem kommt im institutionellen Gefüge unter der ecuadorianischen Verfassung eine sehr bedeutsame Stellung zu. Die ecuadorianische Verfassung gewährt nicht nur weitreichende materielle Garantien, sondern flankiert diese auch durch weitreichende Kompetenzen des Verfassungsgerichts.

Die ecuadorianische Verfassung von 2008 ist ein äußerst innovatives Dokument und gilt als Prototyp des lateinamerikanischen Neokonstitutionalismus. Diese Strömung zeichnet sich unter anderem durch die Gewährleistung weitreichender sozialer, kollektiver und ökologischer Rechte, der Anerkennung indigener Rechtssysteme im Rahmen eines Rechtspluralismus und niedrigschwelliger verfassungsrechtlicher Rechtsbehelfe aus.

Bislang richtete sich das öffentliche Interesse an der ecuadorianischen Verfassung auf deren materielle Garantien, allen voran die Rechte der Natur. So ist Ecuador weiterhin das einzige Land, das die Natur auf Verfassungsebene ausdrücklich zur Rechtsträgerin erklärt. Diese und andere verfassungsrechtliche Errungenschaften sind durch die Angriffe auf das Verfassungsgericht nun gefährdet.

Kritiker*innen werfen dem lateinamerikanischen Neokonstitutionalismus vor, sich einseitig auf materielle Rechte zu fokussieren und Fragen der Staatsorganisation, also zum „Maschinenraum“ der Verfassung (Gargarella), unangetastet zu lassen. So würden die progressiven Rechtsgewährleistungen durch einen überkommenen Staatsaufbau, der sich insbesondere durch eine präsidentielle Übermacht (hiperpresidencialismo) auszeichne, konterkariert. Die häufig kritisierte mangelnde Verwirklichung der garantierten Rechte sei also strukturell durch den institutionellen Aufbau des Staates bedingt.

Obwohl es zutrifft, dass die tatsächliche Durchsetzung der materiellen Verfassungsrechte stets kritisch zu beobachten und häufig defizitär ist, und dies freilich nicht nur im Globalen Süden, wie teilweise insinuiert, zeigt der aktuelle Verfassungskonflikt in Ecuador doch, wie stark die Verfassung die präsidentielle Macht einzuhegen vermag. Insbesondere die weitreichenden Prüfungsmöglichkeiten durch das Verfassungsgericht – sei es von Amts wegen oder im Rahmen einer Popularbeschwerde – stellen eine Machtbalance zwischen den verschiedenen Gewalten sicher. Gerade weil die ecuadorianische Verfassung eben kein bloßer Papiertiger ist, sondern ihre Wirksamkeit durch zahlreiche Verfahren abgesichert ist, entfaltet sich der Verfassungskonflikt in der dargestellten Schärfe.

Fazit

Die Entwicklungen in Ecuador bieten Anlass zur Sorge, wie etwa auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission, verschiedene Stellen der UNO und NGOs betonen. Letztendlich bleibt Verfassungsgerichtsbarkeit auf ein Mindestmaß an Akzeptanz durch die anderen Staatsorgane angewiesen. Ihre Macht ist stets prekär. Gerade in seiner globalen Dimension ist der Rückgang dieser Akzeptanz besonders bedrohlich. Ob die starke Stellung der ecuadorianischen Verfassungsgerichtsbarkeit verteidigt werden kann oder ob dem Gericht gerade seine Stärke zum Verhängnis wird, bleibt mit Sorge abzuwarten.


SUGGESTED CITATION  Gutmann, Andreas: Schwächung eines starken Gerichts: Zu den Angriffen der ecuadorianischen Regierung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit, VerfBlog, 2025/9/08, https://verfassungsblog.de/schwachung-eines-starken-gerichts/, DOI: 10.59704/b077aa0d9554d007.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Ecuador, Ecuadorian Constitutional Court


Other posts about this region:
Ecuador