Strafen für Atatürk-Beleidigungen: Straßburg, wie hältst du’s mit der Meinungsfreiheit?
Jemanden für 13 Jahre ins Gefängnis zu sperren, weil er ein paar Atatürk-Statuen mit Farbe beschmiert hat, ist unverhältnismäßig. Zu diesem wenig überraschenden Schluss kommt der EGMR heute in einer Kammerentscheidung gegen die Türkei. Interessant wird die Entscheidung durch die Sondervoten: Drei der sieben Kammermitglieder nehmen den Fall zum Anlass, eine gerichtsinterne Diskussion vom Zaun zu brechen, wie sie grundsätzlicher nicht sein könnte – nämlich über Nutzen, Grenzen und Ausgestaltung des in Straßburg praktizierten Verhältnismäßigkeitstests.
In der Türkei ist es eine Straftat, das Andenken des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk zu beleidigen, und wer dagegen verstößt, dem droht mindestens ein Jahr Gefängnis. Der Kläger, ein arbeitsloser Lehrer, hatte seiner “Abneigung gegen Atatürk” dadurch Ausdruck verliehen, dass er über mehrere Monate zunächst Denkmäler in mehreren Grundschulen und schließlich eine Statue auf dem Hauptplatz der Stadt Sincan bei Ankara mit Farbe übergoss. Als er das wieder probierte, wurde er geschnappt. Aus Gründen, die zu beurteilen mir mein Mangel an Kenntnis in türkischem Strafrecht verbietet, kamen am Ende für ihn 13 Jahre Gefängnis heraus.
Die Kammermehrheit löste diesen Fall auf denkbar simple Weise: Sie nimmt in die eine Hand das Ziel (Atatürks Andenken zu wahren) und in die andere Hand das Mittel (13 Jahre Gefängnis plus die damit verbundenen 11 Jahre Verlust des Wahlrechts), kräuselt die Stirn und wiegt den Kopf hin und her und sagt schließlich: Hm, das finden wir dann doch ein bisschen viel.
Das Ergebnis ist unumstritten. Es ist der Weg, auf dem die Kammermehrheit zu diesem Ergebnis gelangt, an dem sich die Geister scheiden.
Ein bisschen viel – gemessen woran? Was ist der Vergleichsmaßstab? Sind 13 Jahre unverhältnismäßig, aber ein Jahr nicht? Wenn ja, warum? Diese Fragen stellt mit bohrender Schärfe der Wortführer der Dissenter, der ungarische Richter András Sajó. Ein Gericht wie der EGMR, das über die Einhaltung der Menschenrechte in 47 europäischen Ländern zu wachen hat, könne es nicht damit genug sein lassen, das eigene Gerechtigkeitsgefühl zum Maßstab zu nehmen und sich ansonsten auf das “talismanische” Wort Verhältnismäßigkeit zu verlassen. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, die Schärfe der Urteilspraxis in der Strafjustiz der Mitgliedsstaaten zu mikromanagen.
Einfach nur Mittel und Zweck zu wägen, so Richter Sajó, sei auch deshalb nicht genug, weil es hier schließlich um die Meinungsfreiheit gehe: Hier geht es nicht nur darum, ob ein bisschen zu hart zugelangt wurde oder nicht, sondern hier wird eine ganz bestimmte Meinung, wenn sie öffentlich geäußert wird, unter massivste Strafandrohung gestellt – was in den Überlegungen der Kammermehrheit überhaupt nicht vorkommt.
Warum wird diese Meinung – Atatürk nicht gut finden – überhaupt verboten und unter Strafe gestellt? Auch diese Frage kommt in den Mehrheitsgründen nicht vor. Ich vermute mal, aus gutem Grund: dem Kläger eine unverhältnismäßig lange Haftstrafe zu attestieren ist eine andere Sache als in Zeiten einer immer autokratischeren Türkei deren politisches Strafrecht per se auf die Hörner zu nehmen. Schließlich hat der Gerichtshof auch so schon Mühe genug, seine Urteile in der Türkei (und nicht nur dort) durchgesetzt zu kriegen.
Aber genau diese schüchterne diplomatische Leisetreterei ist es, die Sajó auf die Palme bringt. Denn genau dazu (und nicht zur Feinjustierung des Strafmaßes politischer Urteile) ist der Gerichtshof schließlich da: dem Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung gegen und gegenüber autoritärer Macht – einschließlich ihrer Gründerfiguren und ihres Angedenkens – zur Geltung zu verhelfen:
The mere existence of content-prohibiting laws endangers and sometimes kills freedom of thought. It is fundamental for a democratic society that its citizens be treated as adults who accept, or learn to tolerate, even speech that they find offensive. This is the price to be paid for a free and democratic society.
Um diesem Anspruch zu genügen, müsse der Verhältnismäßigkeitstest auch die Gesetzgebung ins Visier nehmen: Um welches Ziel geht es ihr wirklich? Und wie legitim ist dieses Ziel? Kehrt das Gesetz mit breitem Besen oder beschränkt es sich auf das wirklich Notwendige? Geht es wirklich um “Rechte anderer” bei diesem Ziel, und nicht nur um gewöhnliche politische Interessen? Und sind diese Rechte anderer von gleichem oder höheren Gewicht als das, in das eingegriffen wird?
Das liest sich für uns an Karlsruher Grundrechtsrechtsprechung geschulte Juristen sehr plausibel. Man sollte aber nicht unterschätzen, was das für die Entwicklung des europäischen Verfassungsraums bedeuten würde, wenn der EGMR diesem Appell auf breiter Linie folgen würde: Er bekäme damit noch mehr die Qualität eines wirklichen europäischen Verfassungsgerichts, das nicht nur im Einzelfall dazwischen geht, wenn bei der Gesetzesanwendung jemandem Unrecht widerfährt, sondern sich nötigenfalls auch den Gesetzgeber und seine Intentionen zur Brust nimmt.
Auf die Türkei und ihr politisches Strafrecht angewandt heißt das, klar auszusprechen, was nicht nur Richter Sajó sich dabei denkt: Hier haben wir es – bei allem Respekt vor Atatürk und den patriotischen Gefühlen vieler Türkinnen und Türken – mit genau der Art von autoritärer “Thought Police” (Zitat Sajó) zu tun, gegen die die EMRK mal erfunden wurde. Nicht erst auf der Ebene des verhängten Strafmaßes und seiner Angemessenheit, sondern weit vorher, bei der Frage des legitimen Ziels und der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit von Strafe als solcher muss ein Gericht, das die freie Meinungsäußerung in Europa schützt, zu dem Schluss kommen, dass die Türkei hier tut, was sie nicht tun darf.
Es wird sehr spannend zu sehen, ob dieser Fall vor die Große Kammer kommt. Und, wenn ja, was dann passiert.
Hm, nun hat der Arbeitslose ja nicht einfach nur eine Meinung geäußert, sondern über längere Zeit hinweg immer wieder die Denkmäler mit Farbe übergossen, ob wasserlöslich oder nicht stand nicht dabei.
Es geht also durchaus nicht um eine reine Meinungsäußerung, sondern um deutlich mehr.
Insofern taugt dieses Urteil nicht, um einen Maßstab zur Meinungsfreiheit zu definieren.
@Leon: Also, das gehört nun zum Bestand der Straßburger Meinungsfreiheits-Rechtsprechung, dass nicht nur die höflich vorgetragene, ausartikulierte Meinung Schutz genießt, sondern auch in krasser, emotionaler Aktionsform geäußerte. Und dass die Farbe auf die Statuen als Sachbeschädigung bestraft werden kann, ist schon richtig, aber bei dem türkischen Gesetz geht es darum nicht oder nur in zweiter Linie, sondern es geht ganz ausdrücklich und spezifisch um den Aussagegehalt der Aktion: Atatürk zu beleidigen.
ihr link zum urteil führt ins leere, jedenfalls auf eine leere suchseite.
@Rübe: Hm, bei mir funktioniert der Link. Hier noch mal zum copy&pasten: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-147284
@steinbeis — ja, geht jetzt auch. keine ahnung, was da los war. — danke.
Sehr schön das Dilemma des EGMR herausgearbeitet: Dogmatisch hat die Minderheit wohl recht, aber könnte das Gericht die Rolle eines “echten” Verfassungsgerichts überhaupt durchsetzen? (Und sollten wir das dann überhaupt wollen?)