Wenn Demokratie blockiert wird
Verhinderungsblockaden gegen Veranstaltungen politischer Parteien
Ende 2025 steht in Gießen ein weiterer politischer Showdown bevor: die Gründungsveranstaltung der neuen AfD-Jugendorganisation. Schon im Vorfeld mobilisiert das Netzwerk „Widersetzen“ massiv zu Blockaden, um die Veranstaltung zu verhindern.
Dieser jüngste Fall steht nicht für sich. Verhinderungsblockaden gegen Parteiveranstaltungen sind längst Teil einer neuen Protestpraxis geworden. Was als lauter, demokratisch legitimer Widerspruch begann, zielt zunehmend auf die Verhinderung politischer Betätigung. Wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen, bevor er selbst die demokratischen Spielregeln bricht? Und können Verhinderungsblockaden überhaupt noch den Aktionsformen des zivilen Ungehorsams zugeordnet werden? Denn die Betätigungsfreiheit politischer Parteien nach Art. 21 Abs. 1 GG gehört zum tragenden Gefüge der Demokratie. Verhinderungsblockaden, die Parteiveranstaltungen unmöglich machen, überschreiten deshalb die Grenze legitimen Protests, indem sie den demokratischen Prozess untergraben – eine rechtliche und politische Gratwanderung, die dieser Beitrag ausführlich beleuchtet.
Die neuere Entwicklung und Hintergründe zu Gießen
Um die aktuelle Debatte um Verhinderungsblockaden gegen politische Parteien besser zu verstehen, lohnt ein Blick auf die jüngere Praxis. Inzwischen gehören gezielte Blockadeaktionen zum festen Repertoire politischer Auseinandersetzungen.
So versuchten protestierende Landwirte im Jahr 2024 mehrfach, Veranstaltungen der Grünen zu verhindern. Der politische Aschermittwoch der Partei am 14. Februar 2024 in Biberach musste abgesagt werden, da die Polizei vor Ort die Lage nicht mehr kontrollieren konnte. Traktoren, Sandsäcke und Pflastersteine blockierten Zufahrten zur Veranstaltungshalle; eine teils gewalttätige Menschenmenge griff anfahrende Fahrzeuge und Polizisten an. Die Absage erfolgte in Absprache mit den Sicherheitsbehörden, nachdem die Situation eskaliert war.
Auch die AfD sieht sich zunehmend mit solchen Blockadeaktionen konfrontiert, etwa bei ihren Parteitagen in Essen und Riesa. In Essen versuchten am 29. Juni 2024 Tausende Demonstranten, die Zufahrten zur Grugahalle in Essen zu blockieren. Dabei kam es teilweise auch zu Übergriffen auf die Polizei. Mehrere Delegierte gelangten nur unter massivem Polizeischutz in die Halle, ein Delegierter musste aus einer ihn bedrängenden Menschenmenge befreit werden. Beim Bundesparteitag am 14. Januar 2025 in Riesa wiederholte sich das Szenario: blockierte Zufahrten, gewaltsame Auseinandersetzungen, ein Großeinsatz der Polizei.
Eine zentrale Rolle bei der Organisation solcher Aktionen spielt das bundesweit aktive „Netzwerk Widersetzen“, das gezielt zur Blockade von AfD-Veranstaltungen aufruft. Auf seiner Website dokumentiert es „Teilerfolge“ wie die Verzögerung früherer Parteitage in Essen und Riesa.
An diese Praxis knüpft nun die Mobilisierung gegen die geplante Gründungsveranstaltung der neuen AfD-Jugendorganisation in Gießen an. Ende November 2025 will die AfD dort ihre Jugendorganisation gründen. Da die Messehalle privat betrieben wird, entfällt der sonst häufige Streit über kommunale Hallennutzungen – die Auseinandersetzung konzentriert sich damit auf den Zugang selbst: Das Netzwerk Widersetzen mobilisiert für eine „erfolgreiche Verhinderung“ auch dieser Veranstaltung. In Aufrufen und Pressekonferenzen kündigt das Netzwerk an, die Zufahrten zur Messehalle zu blockieren. Eine Sprecherin erklärte: „Die einzigen, die wir durchlassen, sind Feuerwehr und Rettungswagen.“ Die Aktion soll gewaltfrei bleiben; zugleich erklärt man Solidarität mit autonomen Gruppen, die – so die Sprecherin – „ihr Ding machen“. Die Polizei bereitet sich in Gießen auf einen der größten Polizeieinsätze der vergangenen Jahre vor. Unterstützung kommt aus anderen Bundesländern und von der Bundespolizei.
Rechtsfragen zu Verhinderungsblockaden
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) befasste sich 2024 mit einer Protestveranstaltung gegen den AfD-Parteitag am 30. Mai 2016 auf dem Gelände der Messe Stuttgart. Mehrere Hundert teils vermummte Personen, größtenteils in schwarzen oder weißen Einmalanzügen, besetzten einen Kreisverkehr in der Nähe der Messe, errichteten Barrikaden, zündeten Pyrotechnik und bewegten sich anschließend auf das Messegelände zu, bis sie von der Polizei eingekesselt wurden.
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg hatte die Protestaktion als „Verhinderungsblockade“ eingestuft, die nicht dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG unterfällt. Das BVerwG widersprach und bejahte den Schutz der Gegenveranstaltung als Versammlung nach Art. 8 Abs. 1 GG. Eine Veranstaltung mit sowohl meinungsbildenden als auch nichtkommunikativen Elementen im Zusammenhang mit dem Versuch, eine andere Veranstaltung zu verhindern, verliere ihren Versammlungscharakter nur dann, wenn das kommunikative Anliegen offensichtlich bloßer Vorwand sei (Rn. 50). Im konkreten Fall hatten die Teilnehmenden Transparente hochgehalten und Sprechchöre skandiert, wodurch ein politisches Anliegen erkennbar zum Ausdruck kam. Das Gericht verwies insoweit auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) (Rn. 45 ff.).
Mit dieser Entscheidung hat das BVerwG die bislang bestehenden Unsicherheiten über den Umgang mit Protestaktionen „gemischter“ Zielrichtung in Rechtsprechung und Literatur weitgehend beseitigt. Aus dem jetzt auch vom BVerwG unterstrichenen weiten Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG folgt, dass bei Verhinderungsblockaden vor dem Einsatz polizeilicher Maßnahmen eine versammlungsrechtliche Auflösungsverfügung nach § 15 Abs. 3 VersG (bzw. nach den landesgesetzlichen Regelungen der Bundesländer mit eigenen Versammlungsgesetzen) ergehen muss.
Dafür spricht, dass bei dynamisch verlaufenden Protesten mit vielen Teilnehmenden nicht pauschal von einer Verhinderungsabsicht ausgegangen werden kann. Erst durch eine ausdrückliche Auflösungsverfügung seitens der Polizei wird für alle Beteiligten einer Sitzblockade im Umfeld einer Veranstaltungshalle deutlich erkennbar, dass ab diesem Zeitpunkt die bislang geschützte Demonstration nun als unzulässige Verhinderungsblockade gilt. Damit wird der Polizeirechtsfestigkeit des Versammlungsrechts und der Rechtssicherheit in der gebotenen Weise Rechnung getragen.
Die Notwendigkeit einer Auflösungsverfügung besteht – entgegen der Auffassung des BVerwG(Rn. 56 ff.) – nicht nur bei Verhinderungsblockaden mit kommunikativem Anliegen, sondern auch bei unfriedlich verlaufenden Versammlungen (Rusteberg, Enders/Schwier, NVwZ 2024, 548 (552)).
Verhinderungsblockaden im demokratischen Rechtsstaat
Verhinderungsblockaden, die sich gegen Veranstaltungen zugelassener politischer Parteien richten, beeinträchtigen die den politischen Parteien nach Art. 21 Abs. 1 GG gewährleistete Betätigungsfreiheit. Als wesentlicher Bestandteil der demokratischen Ordnung müssen sie ihre Veranstaltungen – insbesondere solche zur innerparteilichen Willensbildung – selbstbestimmt durchführen können. Wenn eine Partei eine Veranstaltung absagen muss, weil die Polizei die Lage mit den vorhandenen Kräften nicht mehr unter Kontrolle bekommt, wie beim politischen Aschermittwoch der Grünen am 14. Februar 2024 in Biberach, ist das ein für den demokratischen Rechtsstaat untragbarer Zustand.
Die Rechtslage stellt sich bezogen auf Veranstaltungen der AfD nicht anders dar. Auch ihr steht – als nicht verbotene Partei – das Recht auf ungehinderte Durchführung von Parteiveranstaltungen zu, so umstritten die Partei in der gesellschaftlichen Debatte auch sein mag. Protestkundgebungen oder kurzzeitige, rein demonstrative Blockadeaktionen sind nach Art. 8 Abs. 1 GG zulässig. Nicht mehr geschützt sind jedoch Versuche, durch eine Art politischer Selbsthilfe ein faktisches Betätigungsverbot gegen die AfD durchzusetzen, mit der Begründung, der Staat gehe nicht entschieden genug gegen eine verfassungsfeindliche Partei vor.
Verhinderungsblockaden gegen Veranstaltungen politischer Parteien unterscheiden sich grundlegend von sonstigen (Sitz-)Blockaden. Sie zielen unmittelbar auf die Verhinderung politischer Betätigung und haben damit eine andere Stoßrichtung als etwa Straßenblockaden im Kontext von Klimaprotesten. Bei diesen steht regelmäßig der Appell an die Politik im Vordergrund – ein symbolischer Eingriff in den Verkehr, um Aufmerksamkeit für politische Ziele zu erzeugen (Herbers). Bereits bei Aktionen der „Klimakleber“ wurden allerdings die Probleme deutlich, wenn mit weiteren Mitteln versucht wird, die Politik zu bestimmten Maßnahmen zu zwingen (Bönnemann; Pfahl-Traughber).
Vor diesem Hintergrund ist die Debatte um die Grenzen zivilen Ungehorsams im demokratischen Rechtsstaat (Habermas, in Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 ff.) neu entflammt (Bönnemann; Pfahl-Traughber; Akbarian; Moini). Verhinderungsblockaden gegen politische Parteien fallen jedoch schon grundsätzlich nicht unter den Begriff des zivilen Ungehorsams. Ziviler Ungehorsam formuliert normative Appelle und fordert die Korrektur wahrgenommener Missstände – nicht die Verhinderung der politischen Betätigung anderer. Die Blockierung von Zufahrten zu einem Parteitag einer politischen Partei kann deshalb, entgegen dem Verständnis des Netzwerks Widersetzen und anderer Stimmen, nicht als ziviler Ungehorsam gerechtfertigt werden (Kohlstruck).
Ergänzend ist anzumerken, dass sich auch die AfD Baden-Württemberg nach dem abgesagten Parteitag der Grünen in Biberach nur von den Gewalttaten distanzierte und das Geschehen im Übrigen als „Resultat gelebter Demokratie“ rechtfertigte.
Störungsverbot
Aus Art. 8 Abs. 1 GG folgt das Gebot, Störungen zu unterlassen, die bezwecken, die ordnungsgemäße Durchführung einer Versammlung zu verhindern. Die Versammlungsfreiheit gewährleistet das Recht, selbst zu bestimmen, wann, wo, und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll (BVerfGE 128, 226 Rn. 75). Die Versammlungsfreiheit muss nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber unzulässigen Beeinträchtigungen durch Dritte geschützt werden. Auch nach § 7 Abs. 1 des 2023 in Kraft getretenen Versammlungsfreiheitsgesetzes (HVersFG) des Landes Hessen, dem für die AfD-Veranstaltung Ende November 2025 in Gießen Bedeutung zukommt, ist es verboten, eine Versammlung mit dem Ziel zu stören, deren ordnungsgemäße Durchführung zu verhindern.
Das Störungsverbot bedarf einer verfassungskonformen Auslegung. Gegenveranstaltungen und auch lautstarker Protest bleiben zulässig; unzulässig wird der Protest erst, wenn er faktisch auf die Verhinderung einer anderen Versammlung zielt (Deiseroth/Kutscha, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht, 2. A. 2020, Art. 8 Rn. 220 ff.). Geht eine Sitzblockade nach objektiver Lagebeurteilung über den Rahmen einer kurzzeitigen, demonstrativen Aktion hinaus und entwickelt sie sich zu einer Verhinderungsblockade, ist ein polizeiliches Einschreiten geboten. In diesem Fall reduziert sich das Einschreitungsermessen der Polizei auf Null; lediglich hinsichtlich des Zeitpunkts des Eingreifens und der einzusetzenden Mittel verbleibt ein Auswahlermessen (Enders, in: Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht, 2. A. 2022, § 2 Rn. 20; Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 21 Rn. 23).
Strafrecht und Ordnungswidrigkeiten
Verhinderungsblockaden können sowohl den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) als auch spezielle versammlungsrechtliche Strafnormen erfüllen. Nach § 21 VersG macht sich strafbar, wer in der Absicht, eine Versammlung zu verhindern oder zu vereiteln, grobe Störungen verursacht – was bei Verhinderungsblockaden regelmäßig der Fall ist (Enders, in: Dürig-Friedl/Enders (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 21, Rn. 5; Brinsa, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 21, Rn. 13). Entsprechendes gilt für § 25 Abs. 1 Nr. 1 des hessischen VersFG, der erhebliche Störungen einer Versammlung unter Strafe stellt.
Ein einfaches Störverhalten kann dagegen eine noch versammlungsadäquate Handlung darstellen, oder als bloße Ordnungswidrigkeit nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 HVersFG geahndet werden. Auch wer einer vollziehbaren Auflösungsverfügung nicht unverzüglich Folge leistet, begeht eine Ordnungswidrigkeit (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 VersG, § 26 Abs. 1 Nr. 13 HVersFG).
In der Praxis kommt es bei Verhinderungsblockaden eher selten zu einer strafrechtlichen Verfolgung nach den speziellen versammlungsrechtlichen Strafbestimmungen. In diesen Fällen wird vorrangig auf § 240 StGB abgestellt (Groscurth, in: Peters/Janz (Hrsg.), Handbuch Versammlungsrecht, 2. A. 2021, G Rn. 57; zu einzelnen Anwendungsfällen z.B. OLG Karlsruhe 2020, VerfGH Sachsen 2015). Während bei Klimaprotesten eine restriktive Anwendung der Vorschrift geboten ist (Hong, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 15 120 ff.), kann die gezielte Verhinderung politischer Veranstaltungen zwecks unmittelbarer Durchsetzung eigener Forderungen als Nötigung im Sinne des § 240 StGB gewertet werden (BVerfG, Beschl. v. 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90). Solche Blockaden sind in der Regel als verwerflich, § 240 Abs. 2 StGB, einzustufen; im Einzelfall kann bei nur kurzer Dauer auch ein bloßer Bagatellverstoß vorliegen (Renzikowski, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hrsg.), Versammlungsrecht, § 240, Rn. 70, 72).
Fazit
Verhinderungsblockaden, die Parteiveranstaltungen unmöglich machen, greifen in die durch Art. 21 Abs. 1 GG garantierte Betätigungsfreiheit politischer Parteien ein – einem zentralen Bestandteil der demokratischen Ordnung. Sie sind daher keine legitime Form des Protests. Auch als Akt zivilen Ungehorsams lassen sie sich nicht rechtfertigen. Die gezielte Einschränkung der politischen Betätigung von Gegnern gehört nicht zu den moralisch begründbaren Regelverletzungen im Sinne dieses Konzepts. Gerade in Zeiten wachsender Anfeindungen gegen den liberal-demokratischen Rechtsstaat ist entscheidend, dass seine Spielregeln – einschließlich der Freiheit politischer Betätigung – konsequent gewahrt werden.



