Gesetz ist Gesetz?
Zur Diskreditierung des „Zivilen Ungehorsams“
Seit den Hausdurchsuchungen in 15 Wohnungen von Mitgliedern der „Letzten Generation“ hat sich die öffentliche Diskussion um die Aktionen der Gruppe noch einmal intensiviert. Im Zentrum steht dabei der Begriff des „Zivilen Ungehorsams“. Obwohl das dahinterstehende Konzept auf viel, auch auf viel berechtigte, Kritik stößt, möchte ich zeigen, dass „ungehorsames“ Protestverhalten die Funktion erfüllt, Ungleichgewichte in den Möglichkeiten politischer Einflussnahme auszugleichen. Ziviler Ungehorsam kann dabei eine integrative Funktion erfüllen; er kann aber auch die diskursiven Verhältnisse aufbrechen und zu gesellschaftlichen und politischen Veränderungen anstoßen. Zudem zeichnet er sich dadurch aus, dass er Visionen einer normativen Zukunft entwickelt und insofern einen Beitrag zur Entwicklung der politischen Gemeinschaft und ihrer Verfassung leistet. Die weltweit zunehmende Kriminalisierung von Protestaktionen missachtet diese demokratische und rechtsstaatliche Bedeutung zivilen Ungehorsams.1)
Rechtfertigende Funktion des zivilen Ungehorsams
Die Diskussion um die Protestaktionen der Letzten Generation wird kontrovers geführt. Befürworter*innen greifen den Begriff des zivilen Ungehorsams auf, um die staatliche Reaktion als repressiven Akt – in den Worten Jürgen Habermas’ als „autoritären Legalismus“ – zu kennzeichnen. Kritiker*innen entgegnen hierauf mit dem verbreiteten Einwand, dass sich ziviler Ungehorsam seinerseits nicht an die vorgegebenen Bahnen der repräsentativen Mehrheitsdemokratie halte und insofern selbst eine Form des „autoritären Illegalismus“ darstelle.
Nicht nur die Aktionen zivilen Ungehorsams provozieren also, auch die Deutungshoheit über den Begriff ist Gegenstand der derzeitigen Auseinandersetzung. Der Grund dafür liegt in der primären Begriffsfunktion. Diese ist weniger analytischer Art, der Begriff des zivilen Ungehorsams ist kaum dazu geeignet, das Phänomen klar zu umschreiben. Seine Funktion besteht vielmehr in der politischen und moralischen Rechtfertigung eines Verhaltens. Er vermag einen potentiellen Gesetzesbruch, das heißt auch eine Straftat, zu einer legitimen politischen oder moralischen Protestaktion zu sublimieren.
Der Blick in die „Mottenkiste der politischen Theorie“
In „klassischen“ Konzeptionen der politischen Theorie gehen Definition und Rechtfertigung zivilen Ungehorsams daher ineinander über. John Rawls prägte die Diskussion mit einer „Definition zivilen Ungehorsams als einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber politischen gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll“2). Dem juristisch geschulten Auge kommen diese Kriterien nicht so unplausibel vor, decken sie sich doch zum Teil mit (straf-)rechtlichen Rechtfertigungsmaßstäben. Auch liberale Theorien gehen von einer Art Notstandslage aus, wenn Rawls beispielsweise festhält, dass nur gegen schwerwiegende Gerechtigkeitsverstöße ungehorsames Verhalten gerechtfertigt werden kann.3) Zudem plädiert er dafür, den Ungehorsam maßvoll einzusetzen und andere politische Einflussmöglichkeiten auszuschöpfen.4) In einem auch auf dem Verfassungsblog wiederentdeckten Aufsatz legt Habermas eine ganze Reihe von Kriterien fest, die man auf ähnliche Weise als Verhältnismäßigkeitsmaßstab auslegen kann: Der Ungehorsam müsse öffentlich stattfinden, die Aktionen angekündigt und die Strafe akzeptiert werden, er müsse weiterhin symbolischen Charakter haben und insofern auf gewaltfreie Mittel des Protestes beschränkt sein.5) Die Funktion des zivilen Ungehorsams in dieser Deutung ist mithin eine integrative: Er soll auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen und dazu auffordern, die Lücke zwischen gerecht und „fast-gerecht“ zu schließen.
Die Aktivist*innen der Letzten Generation halten sich an die meisten dieser Kriterien: Sie handeln öffentlich, sie kündigen den Großteil ihrer Aktionen auf Pressekonferenzen an, sie lassen sich festnehmen und stehen für ihr Verhalten ein. Ihr Anliegen, globale Klimagerechtigkeit auch für kommende Generationen, ist wohl unbestritten ein – verfassungsgerichtlich anerkannt – schwerwiegendes.
Moralische Entwaffnung des Staates
Zwar wird den Aktivist*innen Ausübung von Gewalt vorgeworfen und das richtige Maß ihrer Aktionen in Zweifel gezogen (dazu sogleich unten), derzeit sehen wir aber vor allem das umgekehrte Bild: Polizeiliche Schmerzgriffe, deren Verhältnismäßigkeit in einigen Fällen jedenfalls als zweifelhaft bezeichnet werden darf, sowie höchst aggressive Reaktionen einiger Verkehrsteilnehmer*innen, die Aktivist*innen unter Schlägen und Tritten von der Straße zerren. Dass sich die Aktivist*innen dagegen nicht wehren, dass sie sich treten und wegtragen lassen, dass sie sich verhaften und strafrechtlich verurteilen lassen, unterstreicht die Authentizität ihrer Überzeugung und die Bedeutung ihres Anliegens. Ihr Verhalten zielt darauf, eine grundsätzliche Treue zum Rechtsstaat auszudrücken und doch durch ihre Opferbereitschaft zu signalisieren, dass das Anliegen, für das sie kämpfen, die Bedeutung von Gesetzesgehorsam und sogar ihrer eigenen körperlichen Unversehrtheit überwiegt. Ihre Gewaltlosigkeit stellt sich der Staatsgewalt entgegen und soll diese sowie die politische Öffentlichkeit moralisch entwaffnen. Die Aktivist*innen appellieren damit an staatliche Autoritäten und die politische Gemeinschaft und befragen sie, ob die politische Ordnung derzeit gerecht gestaltet ist. Sie setzen ihre eigenen Körper und ihre eigene Verletzlichkeit als Protestmittel ein und provozieren gerade dadurch, dass sich ihre Anliegen eben nicht so leicht als radikale Spinnerei abtun lassen. Denn die Aktivist*innen der Letzten Generation nehmen immer wieder Bezug auf das Grundgesetz und den Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts.
Diskreditierung der Aktivist*innen durch Deutungshoheit
Im Ungehorsam liegt also auch eine strategische Komponente: Reagiert der Staat auf gewaltfreien Protest mit Gewalt, dann gewinnen die Aktivist*innen womöglich in der öffentlichen Meinung die Oberhand. Was wir derzeit beobachten können, ist eine Gegenreaktion des Staates darauf, die drei Strategien verfolgt: Erstens, den gewaltfreien Protest als Gewalt „im Rechtssinne“ zu diskreditieren; zweitens, Sitzblockaden den Versammlungscharakter abzusprechen; und drittens, auf weite Straftatbestände (§ 129 StGB) und strafprozessuale Regelungen mit weitem Ermessenspielraum zurückzugreifen, um den Spieß umzudrehen und die Aktionen zivilen Ungehorsams wiederum als Straftat zu de-sublimieren.
Wie diese Strategie juristisch untermauert werden kann, hat Klaus Ferdinand Gärditz mit seinem gewohnten argumentativen Scharfsinn am Beispiel des § 129 StGB vorgeführt. Nach der Lektüre seines Beitrags denkt sich manch eine vielleicht: Ja, es passt doch alles vom Wortlaut und vom gesetzgeberischen Ziel; wer das demokratisch verabschiedete Gesetz bricht, muss mit den Konsequenzen leben. So funktioniert demokratische Legitimität: Gesetz ist Gesetz. Diese Ansicht ist die reflektierte und juristisch fundierte Variante von Aussagen wie derjenigen des Polizeigewerkschaftschefs Rainer Wendt, der die Aktionen der „Letzten Generation“ als „Straßenterror dieser selbsternannten Klimaretter“ bezeichnet hat und derjenigen der Bundesinnenministerin Faeser, „dass der Rechtsstaat sich nicht auf der Nase herumtanzen lässt“. Inwiefern kann diese Bezugnahme auf Recht und Gesetz als eine Diskreditierung des Aktivismus angesehen werden?
Diskreditierungsstrategie 1: Der Begriff der Gewalt
Die erste Diskreditierungsstrategie blickt auf eine lange Tradition zurück. Die Aussage von Wendt erinnert an die altbekannte Laepple-Entscheidung des BGH von 1969, in der dieser eine Sitzblockade auf Straßenbahnschienen als Nötigung bewertete. Dieses Verhalten als legal zu betrachten, liefe dem BGH zufolge auf eine
„Legalisierung eines von militanten Minderheiten geübten Terrors hinaus, welcher mit der auf dem Mehrheitsprinzip fußenden demokratischen Verfassung, letztlich aber auch als Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung schlechthin unverträglich ist“.6)
Zur Erinnerung: In dieser Entscheidung entwickelte der BGH seinen psychischen Gewaltbegriff, wonach das Sitzen auf der Fahrbahn „einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf“ setzt, der aufgrund des Gewichts der auf die Fahrzeugführer*innen ausgeübten „psychischen Einwirkung“ so erheblich sei, dass er einen Gewaltakt darstelle. Während das Bundesverfassungsgericht in der ersten Sitzblockade-Senatsentscheidung diese Auslegung in einer 4:4 Entscheidung noch billigte,7) kassierte es den psychischen Gewaltbegriff in der zweiten Sitzblockade-Entscheidung.8) In Reaktion hierauf führte der BGH die sogenannte „Zweite-Reihe Rechtsprechung“ ein – eine Konstruktion, die in ihrer dogmatischen Akrobatik kaum zu übertreffen ist. Danach nutzen die Sitzenden die erste Reihe von Fahrzeugen als Werkzeug, um alle Fahrzeuge ab der zweiten Reihe am Weiterfahren zu hindern und errichten insoweit ein physisches Hindernis in mittelbarer Täterschaft, was wiederum als Gewalt zu qualifizieren sei.9) Die Zweite-Reihe-Rechtsprechung wurde daraufhin vom Bundesverfassungsgericht 2011 in einer Kammerentscheidung bestätigt.[10]
Damit ist nach der derzeitigen Rechtsprechung eine Sitzblockade jedenfalls in der Dauer und Intensität und mit dem zusätzlichen Hindernis des Festklebens als Gewalt iSd § 240 StGB anzusehen, auch wenn eine solche Einordung mit einem sozialwissenschaftlichen und allgemeinsprachlichen Verständnis schwer vereinbar ist. Was die Rechtsprechungsgeschichte uns aber auch vor Augen führt, geht darüber hinaus: Das Gesetz und seine Interpretation sind nicht für immer in Stein gemeißelt; Interpretationen von Rechtsbegriffen können sich ändern und diese Veränderung kann durch Aktionen zivilen Ungehorsams angestoßen werden. Auch die Produktion von „Testfällen für die Verfassung“10) ist Teil ihrer integrativen Funktion. Mal abgesehen davon, dass uns die Rhetorik des BGH im konkreten Fall – es ging um eine Sitzblockade gegen eine Fahrpreiserhöhung – retrospektiv gerade in politisch-moralischer Hinsicht, gelinde ausgedrückt, übertrieben vorkommt.
Diskreditierungsstrategie 2: Fehlverständnis der Versammlungsfreiheit
Damit komme ich zur zweiten Diskreditierungsstrategie, die auch bereits in der Laepple-Entscheidung antizipiert wird: Zur Frage, ob die Klebeaktionen der „Letzten Generation“ nicht von der Versammlungsfreiheit zumindest dem Schutzbereich nach umfasst und womöglich sogar im Einzelfall gegen Eingriffe geschützt sein könnten. Aus Formulierungen wie „von militanten Minderheiten ausgeübter Terror“ oder einem Verstoß gegen das „Prinzip der Gleichheit“ und den „Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ geht ein Verständnis von Sitzblockaden hervor, das diesen eine demokratie- und rechtsstaatsfeindliche Richtung beimisst.
Dass Sitzblockaden grundsätzlich von der Versammlungsfreiheit erfasst werden können, stellte das Bundesverfassungsgericht aber in seiner vierten Sitzblockade-Entscheidung fest.11) Es unterscheidet zwei Arten von Sitzblockaden: solche, die symbolischen Charakter aufweisen und solche, die auf die selbsthilfeähnliche Durchsetzung von Anliegen zielen. Während erstere von der Versammlungsfreiheit umfasst seien, fallen letztere demnach schon aus dem Schutzbereich des Art. 8 GG. Selbst wenn man also davon ausgeht, dass Sitzen Gewalt iSd § 240 StGB darstellt, so könnte das Verhalten aber von der Versammlungsfreiheit erfasst und damit gerechtfertigt sein. Ohne an dieser Stelle auf alle verfassungsrechtlichen Einzelheiten eingehen zu können, möchte ich zumindest darauf aufmerksam machen, dass zwar derzeit konfrontativ ablaufende Sitzblockaden wohl nach der Verfassungsrechtsprechung nicht vom Schutzbereich des Art. 8 GG umfasst sind, dass aber auch diese Rechtsprechung alles andere als gefestigt und für alle Ewigkeit festgelegt ist.
Das verdeutlicht auch ein Blick in die Brokdorf-Entscheidung. Darin hat das Verfassungsgericht bekanntermaßen die demokratische Stellung auch von Versammlungen mit plakativem und demonstrativem Charakter hervorgehoben. In beeindruckender Klarsicht stellt das Gericht fest, dass die Versammlungsfreiheit nicht zuletzt dem Ausgleich unterschiedlicher Möglichkeiten der politischen Einflussnahme dient. Die Passage sei hier in voller Länge in Erinnerung gerufen:
„An diesem Prozess [der politischen Meinungsbildung, S.A.] sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirkt nicht nur dem Bewusstsein politischer Ohnmac