28 November 2025

Die neue Härte des Sozialstaats

Die geplante Bürgergeldreform zwischen Disziplinierung, Kürzung und Verfassungsvergessenheit

Mit der geplanten Bürgergeldreform verabschiedet sich die Bundesregierung von der Idee eines Sozialstaats, der auf Vertrauen und Befähigung setzt. Unter dem Deckmantel einer „effizienteren Reintegration in den Arbeitsmarkt“ kehrt sie zurück zu einer Politik des Misstrauens: Sanktionen, verkürzte Karenzzeiten und die Abschaffung von Schonvermögen stehen für eine neue Härte – und für eine alte Logik. Die vermeintliche Reform zielt weniger auf Teilhabe als auf Disziplinierung ab. Damit gerät nicht nur das sozialstaatliche Versprechen der Grundsicherung ins Wanken, sondern auch die verfassungsrechtliche Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums.

Geplante Reformen der Bundesregierung: „Die Grundsicherung“

Das Bürgergeld sollte einen Bruch mit der Hartz-IV-Ära markieren – hin zu mehr Vertrauen, Qualifizierung und Teilhabe. Spätestens die Änderungen des SGB II im Jahr 2024 machten allerdings deutlich, dass es sich dabei lediglich um ein Lippenbekenntnis der Ampel-Regierung gehandelt haben dürfte. Mit der nun geplanten Reform würde die jetzige Bundesregierung dieses Versprechen vollends umdrehen: Künftig soll laut Positionspapier die „Vermittlung in Arbeit“ Vorrang vor Qualifizierung haben. Nachhaltige Weiterbildung wird damit zur Ausnahme.

Auch bei den materiellen Leistungen kehrt man zurück zur alten Härte. Die Karenzzeit, in der Unterkunftskosten im ersten Jahr in voller Höhe übernommen werden, soll entfallen. Künftig sollen nur noch „angemessene“ Kosten übernommen werden – ein Begriff, der bereits aus der Hartz-IV-Zeit berüchtigt ist und regelmäßig zu Rechtsstreitigkeiten führte. Wer etwa nach einem Jobverlust in einer etwas teureren Wohnung lebt, soll nun wieder gezwungen sein, umzuziehen oder die Differenz selbst zu tragen. Dies hat zur Konsequenz, dass Betroffene Geld aus ihrem Regelbedarf für die Deckung der Wohnungskosten aufwenden müssen und daher oftmals unter das Existenzminimum rutschen. 2022 wurden bei 400.000 Bedarfsgemeinschaften (15,4%) die Kosten der Unterkunft nicht in tatsächlicher Höhe übernommen. Die Wohnungskostenlücke bei den betroffenen Bedarfsgemeinschaften betrug durchschnittlich 90,97 €. Dies hat nicht selten eine Verschuldung zur Folge und führt schnell zu prekären Notsituationen.

Vorgesehen ist zudem ein gestuftes Sanktionssystem: Verletzen Leistungsempfänger*innen ihre Pflichten, ermöglicht das System Kürzungen bis hin zur Totalsanktion. Erscheint eine leistungsberechtigte Person zweimal in Folge nicht zum Termin beim Jobcenter, sinken die Leistungen um 30 %. Bei einem dritten Nichterscheinen werden die Geldleistungen komplett eingestellt. Erscheint die Person im folgenden Monat weiterhin nicht, werden auch alle weiteren Leistungen eingestellt, also auch die Unterkunftskosten.

Schließlich zeichnet sich auch im Bereich des Schonvermögens ein Rückschritt ab. Die 2023 eingeführte Karenzzeit von einem Jahr, mit der Vermögen i. H. v. 40.000 € verschont bleibt, soll abgeschafft werden. An ihre Stelle tritt ein „variables“ Schonvermögen, welches sich nach Alter und Versicherungszeiten richten soll – ein System, das nicht nur undurchsichtig, sondern auch potenziell diskriminierend ist. Leistungsberechtigte sollen also stärker auf ihr Erspartes zurückgreifen, bevor staatliche Unterstützung greift. Besonders benachteiligt werden Gruppen mit instabilen Erwerbsverläufen: junge Menschen, die noch keine langen Versicherungszeiten vorweisen können, Frauen, die wegen Care-Arbeit oder Teilzeit häufiger Erwerbslücken haben, sowie Personen mit Migrationsgeschichte, die erst spät in das deutsche Sozialversicherungssystem eingetreten sind.

Die Bundesregierung verspricht sich von den geplanten Reformen Einsparungen. Zunächst wurde von zweistelligen Milliardenbeträgen gesprochen. Die nun erwarteten Einsparungen von 69 Millionen Euro im Jahr 2027 stehen Gesamtausgaben von rund 47 Milliarden gegenüber – weniger als 0,2 %. Durch das Vorhaben wird somit kaum Geld gespart.

Die Rhetorik der Eigenverantwortung

Politisch wird die Reform mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“ legitimiert, doch in der Praxis dient sie dazu, soziale Risiken zu individualisieren. Arbeitslosigkeit, Krankheit, psychische Belastung oder mangelnde Qualifikationen erscheinen dann nicht mehr als strukturelle Probleme, sondern als Versagen des oder der Einzelnen. Nur 44 % der Leistungsbezieher*innen sind tatsächlich arbeitslos. Das Leitbild eines autonom handelnden Totalverweigerers dominiert weiterhin, wie es schon Andrea Kießling in ihrem Beitrag feststellte.

In dieser Logik sind Sanktionen eine pädagogische Maßnahme. Die Bundesregierung plant, die sogenannten Totalsanktionen wieder zu ermöglichen – also den vollständigen Entzug der Leistungen bei „Totalverweigerung“. Diese Fälle machen weniger als ein Prozent der Leistungsbeziehenden aus, werden aber politisch überhöht: als Symbolfigur für die vermeintlich Arbeitsunwilligen, die „dem Staat auf der Tasche liegen“.

Doch wer sind diese Menschen wirklich? Studien zeigen, dass es sich oft um Personen mit psychischen Erkrankungen, Sprachbarrieren, fehlenden sozialen Netzwerken oder multiplen Vermittlungshemmnissen handelt. Der Mythos des rational handelnden „Totalverweigerers“ verschleiert, dass viele schlicht überfordert oder krank sind. Sanktionen wirken hier nicht heilend.

Blind gegenüber Karlsruhe

2019 hat das BVerfG die Sanktionspraxis grundlegend überprüft. Maßstab war das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG), das nur unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt werden darf. Denn die Grundsicherung ist gerade keine Belohnung, sondern ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch. Sie sichert das physische und soziokulturelle Existenzminimum, das dem Einzelnen Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen soll.1) Die Garantie der Menschenwürde ist bedingungslos oder, anders ausgedrückt: Sie muss nicht „verdient“ werden und bleibt selbst bei vermeintlich unwürdigem Verhalten erhalten.2)

Das Gericht betonte daher, dass Sanktionsregelungen – um die Selbstbestimmung des Einzelnen zu wahren – nicht repressiv auf die Bestrafung von Fehlverhalten zielen dürfen (Rn. 131). Sie dürfen nur als Vehikel für die Durchsetzung von Mitwirkungspflichten genutzt werden, wobei stets die Befähigung des Einzelnen zur eigenständigen Existenzsicherung im Vordergrund stehen muss (Rn. 154).

Hinsichtlich der Kürzung von Leistungen kam das Gericht zu einem klaren Ergebnis: Kürzungen um 30% des Regelsatzes können unter engen Voraussetzungen verfassungsgemäß sein. Bereits in dieser Stufe mahnt das Gericht jedoch zu Ausnahmen für Härtefälle und flexiblen Rückkehrmöglichkeiten. Kürzungen von 60% oder ein vollständiger Leistungswegfall sind dagegen angesichts fehlender Erkenntnisse über ihre Eignung und Erforderlichkeit regelmäßig unverhältnismäßig und können sogar kontraproduktiv wirken, da Betroffene möglicherweise in illegale Arbeit oder Kriminalität gedrängt werden (Rn. 206 f.). Schärfere Sanktionen – insbesondere der vollständige Leistungsentzug – sind daher nur in eng begrenzten Ausnahmefällen gerechtfertigt: Nämlich dann, wenn Leistungsberechtigte eine tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Arbeit ohne wichtigen Grund verweigern und damit selbst in der Lage wären, ihre Existenz unmittelbar zu sichern (Rn. 209).

Die Lesart dieser Rechtsprechung zur Totalsanktion ist nicht eindeutig. Wie bereits Andrea Kießling (in ihrem Beitrag zu den Änderungen des SGB II 2024) festgestellt hat, lassen sich die Ausführungen des BVerfG einerseits so interpretieren, dass Totalsanktionen bei „Totalverweigerern“ – im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – angemessen sein können. Andererseits erscheint es aber gleichermaßen möglich, dass das BVerfG bereits die Annahme der Bedürftigkeit dieser Personengruppe infrage stellt, mithin von einer „Fiktion der Nichtbedürftigkeit“ ausgeht. In dieser Lesart ist die Ausnahme allerdings nur einschlägig, wenn die angebotene Tätigkeit tatsächlich zumutbar ist und ausreichend bezahlt wird, um die gesamte Existenz zu sichern.

Die geplante Reform nimmt damit eine Rückkehr zu Praktiken in Kauf, deren Verfassungsmäßigkeit das BVerfG zuvor ausdrücklich problematisiert hat. Der vollständige Entzug von Leistungen bei mehrfachen Meldeversäumnissen fällt bereits deshalb nicht unter die Ausnahme, weil das Jobcenter dem Leistungsbeziehenden in diesem Fall keine tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Arbeit angeboten hat. Somit kann auch die „Nichtbedürftigkeit“ nicht fingiert werden.

Selbst unter der alternativen Lesart, wonach solche Sanktionen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen, überzeugt die Regelung nicht. Sie ist noch nicht mal geeignet: Es gibt keine belastbaren Hinweise auf einen integrationsfördernden Effekt von Totalsanktionen. Das Ziel der Arbeitsmarktintegration wird mit solchen Praktiken verfehlt. Es mangelt an empirischer Grundlage für ihre Wirksamkeit, die Folgen sind dagegen belegt: Sanktionen und Druckinstrumente bewirken meist nur kurzfristige Jobaufnahmen – viele Betroffene rutschen jedoch ebenso schnell wieder in die Arbeitslosigkeit. Langfristig erzeugt das weniger Integration als Instabilität und führt häufig zu Isolation, existenziellen Notlagen und faktischer Entrechtung.

Die Bundesregierung rechtfertigt ihren Kurs mit dem Ziel, „Kooperationsbereitschaft“ zu stärken und eine schnellere Eingliederung in Arbeit zu erreichen. Arbeitsministerin Bärbel Bas brachte es auf den Punkt: „Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist.“ Diese Formulierung verdeutlicht, dass es der Reform weniger um Orientierung an der Karlsruher Rechtsprechung geht als um deren Belastungsprobe. Die verfassungsgerichtlichen Vorgaben, insbesondere der enge Ausnahmefall einer tatsächlich existenzsichernden und zumutbaren Arbeit, werden im vorliegenden Entwurf jedoch nicht eingehalten.

Zugleich verschiebt die Reform den Fokus vom Schutz der Menschenwürde hin zu einem Leistungsfähigkeitsparadigma, das Bedürftigkeit als Defizit behandelt. Nicht mehr der Staat garantiert das Existenzminimum, sondern der Einzelne muss es sich durch „kooperatives Verhalten“ verdienen. Das widerspricht dem Verständnis des BVerfG, wonach das Existenzminimum ein voraussetzungsloser Anspruch ist – und kein Mittel staatlicher Disziplinierung.

Der Sozialstaat als Kontrollstaat

Die Bürgergeldreform folgt damit einer Tendenz, die sich in den letzten Jahren verstärkt hat: dem Umbau des Sozialstaats zu einem Kontrollstaat. Die Verwaltung von Armut tritt an die Stelle ihrer Bekämpfung. Behörden werden zu Disziplinierungsinstanzen, die zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen unterscheiden. Diese Entwicklung zeigt sich auch in der politischen Sprache: Leistungsbeziehern wird häufig pauschal der Missbrauch von Sozialleistungen unterstellt, obwohl empirisch nur ein sehr kleiner Teil tatsächlich Leistungen zu Unrecht bezieht. Der Generalverdacht ersetzt damit immer häufiger den Blick auf strukturelle Ursachen von Hilfebedarf.

Die gesetzgeberische Antwort auf Armut lautet daher nicht Unterstützung, sondern Misstrauen. Das Ergebnis ist eine symbolische Politik – eine Politik, die Härte als Gerechtigkeit verkauft. Härte signalisiert Handlungsfähigkeit. Sie richtet sich weniger an die Betroffenen selbst als an jene, die glauben, es gäbe „zu viele, die nicht arbeiten wollen“. Die Reform ist damit nicht sozialpolitisch motiviert, sondern moralisch aufgeladen. Sie dient der Beruhigung eines gesellschaftlichen Ressentiments.

Fazit: Misstrauensvotum gegen Leistungsbeziehende

Die Bürgergeldreform steht exemplarisch für einen Sozialstaat, der sein Vertrauen in die Bürger*innen verloren hat. Statt auf Förderung, Teilhabe und strukturelle Lösungen setzt er auf Misstrauen, Disziplinierung und Sanktion. Damit droht er, die eigene verfassungsrechtliche Grundlage zu untergraben.

Das Existenzminimum ist kein Erziehungsmittel, sondern Ausdruck der Würde des Menschen, die voraussetzungslos ist und dem Zugriff staatlicher Pädagogik entzogen. Wenn der Gesetzgeber beginnt, an dieser Grenze zu rütteln, gefährdet er nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch den Kern des Grundgesetzes.

Die vermeintliche Reform ist damit mehr als eine politische Fehlentscheidung. Sie ist ein Symptom für die Erosion eines Verständnisses, das den Sozialstaat als solidarische Gemeinschaft begreift. Wer Menschen in Not mit Misstrauen begegnet, schwächt nicht nur sie – sondern den Staat selbst.

References

References
1 Vgl. BeckOGK/Luik, 1.5.2020, SGB II Vorbemerkungen zu §§ 19 ff., Rn. 13.
2 Buchholtz: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und die staatliche Grundsicherung (JuS 2021, 503, 505).

SUGGESTED CITATION  Arslan, Narin: Die neue Härte des Sozialstaats: Die geplante Bürgergeldreform zwischen Disziplinierung, Kürzung und Verfassungsvergessenheit, VerfBlog, 2025/11/28, https://verfassungsblog.de/burgergeld-existenzminimum-sanktionen/.

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