Totalverweigerung des Existenzminimums?
Das Leitbild des „autonom handelnden Totalverweigerers“ als Vorlage für Sanktionen beim Bürgergeld
Aktuell befindet sich das sogenannte Zweite Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 im Gesetzgebungsverfahren, am 17. Januar fand die 1. Lesung im Bundestag statt. Gegenstand dieses Artikelgesetzes sind Änderungen an verschiedenen Gesetzen, die Einsparungen im Bundeshaushalt 2024 erzielen sollen. Gespart werden soll auch beim im SGB II verankerten Bürgergeld: Der Gesetzentwurf sieht vor, „Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen“ (den sogenannten Sanktionen) für den Fall „nachhaltiger Verweigerung der Aufnahme zumutbarer Arbeit“ zu verschärfen. Konkret soll diesen „Totalverweigerern“ für zwei Monate der Regelsatz zu 100% gestrichen werden; nur die Kosten für Unterkunft und Heizung (und im Einzelfall etwaige Mehrbedarfe) werden übernommen. Dass die geplante Regelung in ihrer konkreten Ausgestaltung verfassungsgemäß ist, ist zweifelhaft; ich sehe insbesondere drei Probleme.
Das Sanktionen-Urteil des BVerfG 2019
Mit Sanktionen im SGB II hatte sich das BVerfG 2019 ausführlich befasst. In dem damaligen Urteil hatte das Gericht zunächst die Aussagen insbesondere aus dem Hartz-IV-Urteil 2010 bekräftigt, dass sich aus Art. 1 I iVm Art. 20 I GG der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergebe, soweit Bedürftigkeit besteht. Die Mitwirkungspflichten und Sanktionen (also Leistungsminderungen aufgrund von Pflichtverletzungen) hatte das Gericht dann als Grundrechtseingriff gewertet, die Prüfung der Zulässigkeit war deswegen hauptsächlich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die dogmatischen Feinheiten des Zusammenspiels von verfassungsunmittelbarem Leistungsanspruch und dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung blieben etwas im Unklaren – das BVerfG sprach davon, dass Mitwirkungspflichten „die Handlungsfreiheit der Betroffenen“ beschränkten und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung bedürften, ohne hier Art. 2 I GG zu zitieren und ohne eine dogmatische näher ausgeführte Verknüpfung zu dem Leistungsrecht vorzunehmen. In der Literatur wurde diese Leerstelle in der Dogmatik kritisiert und die gewählte Konstruktion dahingehend interpretiert, dass es sich beim Anspruch auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums um ein „Leistungsgrundrecht mit abwehrrechtlichen Anteilen“1) handele.
Im Ergebnis billigte das Gericht sowohl Mitwirkungspflichten als auch Sanktionen grundsätzlich, soweit beide das Ziel verfolgen, die Betroffenen in Arbeit zu vermitteln. Leistungsbeziehende können also verpflichtet werden, an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit mitzuwirken. Entscheidend war für die Zulässigkeit der konkreten Sanktionsstufen von damals im SGB II geregelten 30, 60 und 100% die Frage, ob es ausreichende Belege für die Wirksamkeit der Sanktionen in der jeweiligen Höhe gebe. Dies bejahte das BVerfG bei den 30%-Sanktionen. Bei den Sanktionen in Höhe von 60 und 100% hingegen fehlten entsprechende Studien. Das Gericht wies bei der 100%-Sanktion auch auf die gravierenden Folgen (wie drohende Wohnungslosigkeit) hin und kam in der Gesamtabwägung zu dem Ergebnis, dass diese Sanktionen unverhältnismäßig seien. Hieran schloss sich im Urteil eine Passage an, die für die weitere Einordnung von Totalsanktionen besonders relevant ist:
„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit […] ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und […] zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund […] willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ (Rn. 209)
Die Bürgergeldreform 2023 und der aktuelle Entwurf der Bundesregierung
Als Reaktion auf das Urteil wurde 2022 das SGB II reformiert; die Änderungen traten zum Teil am 1.1., zum Teil am 1.7.2023 in Kraft. Auch wenn der Begriff „Bürgergeld“ den – früher umgangssprachlich verwendeten – Begriff „Hartz IV“ seitdem offiziell ablöst, handelt es sich immer noch um die gleiche Sozialleistung. Ein Paradigmenwechsel war die Reform nicht, es wurde vielmehr an mehreren kleineren Stellschrauben gedreht. Die Sanktionen, die bis zur Reform im Gesetz jedenfalls in der amtlichen Überschrift des 5. Unterabschnitts des 3. Kapitels („Sanktionen“) auftauchten, wurden in „Leistungsminderungen“ umbenannt und in der Höhe (10, 20, 30 %), aber nicht in der Art ihres Regelungskonstrukts geändert. 100%-Sanktionen standen zum damaligen Zeitpunkt nicht zur Diskussion.
Dies ist jetzt – vordergründing haushaltspolitisch motiviert – anders. Vorgesehen ist im Einzelnen (unter Übernahme einzelner Formulierungen des BVerfG) Folgendes:
Der Leistungsanspruch entfällt in Höhe des Regelbedarfs, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte, deren Bürgergeld bereits wegen einer Pflichtverletzung innerhalb des letzten Jahres gemindert war, eine zumutbare Arbeit nicht aufnehmen. Die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme muss tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich verweigert werden. (§ 31a VII S. 1, 2 SGB II-E)
Die Minderung wird aufgehoben, wenn die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme nicht mehr besteht, spätestens aber mit dem Ablauf eines Zeitraums von zwei Monaten (§ 31b III 1 SGB II-E).
Eine Leistungsminderung erfolgt nicht, wenn sie im Einzelfall eine außergewöhnliche Härte bedeuten würde (§ 31a VII S. 3 SGB II-E iVm § 31a III SGB II).
Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen (§ 31a VII S. 3 SGB II-E iVm § 31 I 2 SGB II).
Zur Begründung, dass solche „Totalsanktionen“ verfassungsmäßig sind, beruft sich die Bundesregierung in ihrem Entwurf auf die oben zitierte Passage des BVerfG-Urteils. Hierbei ergeben sich meiner Meinung nach drei Probleme, die zum Teil auch aufeinander einwirken.
Problem 1: Art des Jobangebots
Eine wichtige Weichenstellung bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Regelung ist das Verständnis der oben zitierten Passage (Rn. 209) aus dem Urteil des BVerfG 2019. Hier kommen unterschiedliche Lesarten in Betracht: Man kann die Ausführungen des Gerichts entweder als Weiterführung der davor gemachten Ausführungen lesen oder aber als Beschreibung einer anderen Ausgangssituation verstehen, die zu einer schon im Ausgangspunkt anderen rechtlichen Bewertung führt.
Für die zweite Möglichkeit spricht zunächst die Einleitung dieser Randnummer: „Anders liegt dies folglich […]“. Anders ist hier (im Vergleich zu anderen Mitwirkungspflichten), dass die Leistungsberechtigten durch Arbeitsaufnahme ihren Lebensunterhalt („ihre menschenwürdige Existenz“) selbst sichern können. Dann kann man – so das Gericht – die Betroffenen als nicht bedürftig ansehen; dass diese bei der Verweigerung der Arbeitsaufnahme tatsächlich bedürftig bleiben, ist irrelevant, weil sie diese Bedürftigkeit selbst abstellen können. Das BVerfG bedient sich also einer Fiktion der Nichtbedürftigkeit. Dogmatisch bedeutet das für das „Leistungsgrundrecht mit abwehrrechtlichen Anteilen“ (s.o.), dass schon die Voraussetzung des Leistungsanspruchs – die Bedürftigkeit – nicht vorliegt. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit (dem „abwehrrechtlichen Anteil“) kommt man dann nicht mehr – und auch der völlige Wegfall der Leistungen für Unterkunft und Heizung wäre gerechtfertigt.
Dieses Konstrukt trägt aber von vornherein nur, wenn das Arbeitsplatzangebot zumutbar ist und in einem Umfang besteht, der zur vollständigen Lebensunterhaltssicherung führt. Letzteres scheint durch die vom BVerfG gewählte Formulierung durch, dass durch die Aufnahme der Arbeit die menschenwürdige Existenz „tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst“ gesichert wird, und wird noch deutlicher in der Formulierung „eine solche tatsächlich existenzsichernde Erwerbstätigkeit“. Nur wer gar keine Grundsicherungsleistungen mehr benötigt, ist nicht bedürftig; wer „aufstocken“ muss, ist es weiterhin.
Die Bundesregierung liest das Urteil offensichtlich anders. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Entwurfsbegründung auch auf Randnummern vor Rn. 209 verweist. Darüber hinaus ist es nach dem Willen der Bundesregierung gerade nicht notwendig, dass der angebotene Arbeitsplatz die vollständige Sicherung der Existenz ermöglicht. Der Kreis derjenigen, die die Regelung sanktioniert, wird dadurch größer, weil auch die Ablehnung von Angeboten geringfügiger Beschäftigungen (z.B. Minijobs) sowie im Falle von Personen, die in Bedarfsgemeinschaften leben, von Beschäftigungen mit normalem Umfang in den Anwendungsbereich fallen. Dies begründet die Bundesregierung damit, dass andernfalls „der Leistungsentzug von der Größe der Bedarfsgemeinschaft und den dort zu diesem Zeitpunkt bestehenden Einkommensverhältnissen abhängig“ wäre, eine „solche Ungleichbehandlung“ solle vermieden werden. Dass dies zwingend ist, ist fraglich. Auf der Leistungsseite wirkt das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft zu Lasten der Betroffenen (der Regelsatz für Paare ist pro Person niedriger als für Alleinstehende; auch Personen, die ihren eigenen Lebensunterhalt isoliert betrachtet sichern, gelten als bedürftig [§ 9 II 3 SGB II]) – da wäre es nur konsequent, bei Sanktionen von Bedarfsgemeinschaften zu berücksichtigen, dass deren Bedarf in der Summe eben höher ist und dementsprechend bedarfsdeckende Jobangebote einen umso höheren Lohn erfordern. Dies ist im System des SGB II selbst angelegt und deswegen nicht als Ungleichbehandlung rechtfertigungsbedürftig.
In der Lesart der oben zitierten Passage der Bundesregierung sind die Leistungsminderungen nicht Teil des Leistungsanspruchs, sondern der „abwehrrechtlichen Anteile“ des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, was eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich macht. Konsequenterweise müsste die Bundesregierung Studien anführen, die die Wirksamkeit der 100%-Sanktion belegen. In der Begründung findet sich dergleichen aber nicht.
Problem 2: Das Leitbild des autonom handelnden Totalverweigerers
Aus der politischen Diskussion der letzten Wochen und dem Regierungsentwurf selbst wird deutlich, dass dieser von dem Leitbild des „autonom handelnden Totalverweigerers“ ausgeht, also von Personen, die in vollem Wissen der Folgen und bei gleichzeitig bestehender uneingeschränkter Fähigkeit zur Arbeitsaufnahme das Angebot ablehnen. Für diese Personen mag eine Totalsanktion verfassungsgemäß sein, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Sanktion sofort beendet wird, wenn es das Arbeitsangebot nicht mehr gibt. Nicht nur also, wenn die betroffene Person das Angebot doch annimmt, sondern auch in dem Fall, in dem der Arbeitgeber das Angebot zurückzieht (etwa weil er die Stelle anderweitig besetzt hat), wird die Sanktion aufgehoben.
Das Problem ist aber nun, dass dieses Leitbild höchstwahrscheinlich nur auf wenige der Betroffenen zutrifft. Oft handelt es sich bei diesen um psychisch stark belastete Personen oder um Personen mit Kompetenzdefiziten und Kommunikationsschwierigkeiten, um Menschen mit grundlegenden und mehrfachen Beschäftigungshindernissen (so das BVerfG 2019 in Rn. 59, 142; vgl. außerdem diese Ausführungen). Zwar verlangt die geplante Regelung, dass die Arbeitsaufnahme willentlich verweigert wird; diese Formulierung entstammt der oben zitierten Passage aus dem BVerfG-Urteil. Aber was heißt willentlich? Dies erläutert der Gesetzgeber nicht näher. Durch die Übernahme knapper Formulierungen des BVerfG in den Gesetzestext erreicht man nicht automatisch eine verfassungskonforme Regelung. Auch besteht zwar die Möglichkeit, dass bei „wichtigem Grund“ oder „unzumutbarer Härte“ von der Sanktion abgesehen wird. Aber auch diese beiden Regelungen – die es aktuell bereits im System der Leistungsminderungen gibt – sind vage (und davon abhängig, dass sich die Betroffenen darauf berufen). Dies mag man bei den derzeitigen Sanktionen von 10-30% noch hinnehmen; wegen der viel gravierender wirkenden Totalsanktion müsste bei dieser meiner Meinung nach eine differenzierte Regelung gefunden werden, die den Jobcentern detaillierte Vorgaben an die Hand gibt, damit die Regelung wirklich nur diejenigen trifft, die dem Leitbild des „autonom handelnden Totalverweigerers“ entsprechen.
Problem 3: Fehlender Anspruch auf Sachleistungen in Notlage
Zum Teil wird die geplante Regelung für verfassungswidrig gehalten, weil sie keinen Anspruch auf ergänzende Sachleistungen enthält. Damit wird auf eine Regelung verwiesen, die es vor der Bürgergeldreform gab und die es bei Leistungsminderungen um mehr als 30 % den Betroffenen ermöglichte, einen Antrag auf ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen in angemessenem Umfang zu stellen (§ 31a III SGB II a.F.). Im Notfall konnten Betroffene z.B. Lebensmittelgutscheine erhalten. Hierüber wurde allerdings nach Ermessen entschieden, auch das BVerfG hatte diese Regelung im alten Sanktionssystem als nicht ausreichend erachtet (Rn. 195 ff.). Im Zuge der Bürgergeldreform wurde die Regelung mit der Begründung abgeschafft, dass seitdem „unzumutbare Härten“ berücksichtigt werden müssen, die dazu führen, dass die Sanktion gar nicht verhängt wird.
Ob man einen solchen Anspruch auf ergänzende Sachleistungen für notwendig hält, hängt maßgeblich davon ab, wie man die Zulässigkeit von 100%-Sanktionen dogmatisch begründet (s.o.) und wie die Regelung ansonsten ausgestaltet ist. In der Logik, die von der Fiktion der Nichtbedürftigkeit ausgeht, wäre ein solcher Anspruch eigentlich nicht erforderlich, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass weiterhin das Arbeitsplatzangebot bestehen muss, das zur Verhinderung von Notlagen angenommen werden kann. Entscheidend ist aber auch in diesem Fall, dass die Regelung so ausgestaltet sein muss, dass sie nur diejenigen erfasst, die dem Leitbild des „autonom handelnden Totalverweigerers“ entsprechen – das ist im aktuellen Entwurf nicht der Fall. Selbst wenn der Gesetzgeber hier nachbesserte, könnte ein entsprechender Anspruch auf Lebensmittelgutscheine und ähnliche Leistungen jedenfalls Notlagen abfangen, die durch Restunsicherheiten bei der Frage blieben, was „außergewöhnliche Härten“ und „wichtige Gründe“ sind.
Fazit
Dass die geplanten Regelungen in der jetzigen, undifferenzierten Fassung verfassungskonform sind, ist zweifelhaft. Bei einer Nachbesserung, die wirklich nur die autonom handelnden Totalverweigerer mit einem Jobangebot träfe, das ihnen die vollumfängliche, eigenständige Sicherung des Bedarfs ihrer Bedarfsgemeinschaft ermöglichte, müsste man die Frage stellen, ob im Ergebnis überhaupt in wesentlichem Umfang Geld eingespart wird. Schon jetzt bestehen Zweifel an den im Gesetzentwurf angeführten Zahlen. Und dass es zur Erzielung der notwendigen Einsparungen aus haushaltspolitischer Sicht „keine Alternativen“ geben soll – so die pauschale Aussage im Gesetzentwurf –, ist absurd.
References
↑1 | Rixen, SGb 2010, 1 (4). |
---|