13 January 2023

Angriff auf die Architektur der Demokratie

Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Sturm auf Brasília und auf das Kapitol

Schon einen Tag nach der Erstürmung des Kapitols in Washington, D.C . am 6. Januar 2021 durch Anhänger des noch amtierenden Präsidenten Donald Trump, die seine Wahlniederlage nicht akzeptieren konnten, ließ sich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro mit der raunenden Voraussage vernehmen, dass das Gleiche in seinem Land passieren könnte. Zwei Jahre und zwei Tage später schien es so weit zu sein. Die Ähnlichkeit der Bilder von Menschenmassen um und im Parlamentsgebäude in Brasília, die Dominanz der Nationalflagge und ihrer Farben, die anfängliche Unterlegenheit oder Unsichtbarkeit der Sicherheitskräfte und die demonstrative Nichtanerkennung eines zuvor erfolgten Wahlergebnisses schufen eine scheinbar überwältigende Evidenz: Die jüngste amerikanische Geschichte wiederholte sich auf der Südhalbkugel. Es war bekannt, dass es nach der Wahlniederlage von Bolsonaro im Oktober ein Treffen des Präsidentensohns Eduardo mit Steve Bannon, dem ehemaligen Berater Trumps und Strippenzieher rechtsextremer Netzwerke, gegeben hatte. Es war auch bekannt, dass sich daraufhin Wahlbetrug-Hashtags flutwellenartig in den diversen sozialen Medien verbreiteten, so dass man meinte, von einem Drehbuch, gar einer Blaupause aus den USA sprechen zu können. Aber stimmte dieser erste Eindruck? Sind die vielfach gezogenen Parallelen zur Erklärung der Ereignisse in Brasilien hinreichend oder verdecken sie nicht vielmehr entscheidende Abweichungen?

Niemeyers demokratische Staatsarchitektur in Brasília

Mit Blick auf die Architektur jedenfalls, die gewaltsam eingenommenen Bauwerke, liegen die Unterschiede zunächst näher als die Ähnlichkeiten. Fast festungsartig wirkt auf den Bildern das neo-klassizistische Gebäude des Kapitols aus dem 19. Jahrhundert mit seinem rustizierten hohen Sockelgeschoss, dem imposanten piano nobile hinter doppelgeschossigen korinthischen Säulen und der alles überragenden riesigen Kuppel. Fast fragil hingegen scheinen die nur von schlanken, das Dach tragenden Stützen umgebenen Glaskuben der drei Regierungsgebäude am Platz der drei Gewalten in Brasília, die von den Anhängern Bolsonaros besetzt wurden. Sie gehören zu Oscar Niemeyers Meisterwerken. Entworfen und erbaut in Rekordzeit zwischen 1958 und 1960, setzten sie Standards für die Architektur der Demokratie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Transparenz, Äquivalenz der Glieder und vermeintliche Zugänglichkeit war jedoch von Anfang an vor allem symbolisch. Am Ende der 8 km langen und 250 m breiten Monumentalachse gelegen, welche die auf dem Reißbrett entworfene Stadt Brasília wie für Giganten erschaffen von West nach Ost durchzieht, befindet sich der Kongress. Vor ihm liegt das Grün der Esplanade der Ministerien entlang der Achse, hinter ihm befindet sich der Platz der drei Gewalten mit dem Palast des Präsidenten und dem Obersten Gerichtshof, angeordnet entlang der Linien eines imaginären, perfekt balancierten, gleichschenkligen Dreiecks. Über eine lange, sich teilende Rampe gelangt man von Westen kommend zum Eingang des Parlaments und weiter auf das Dach. Hier befinden sich die weithin sichtbaren Kugelhälften, von denen eine als Kuppel den Senatsaal überwölbt, die andere umgekehrt als gefüllte Schale das Repräsentantenhaus.

Auf dieser obersten Ebene der Staatsarchitektur, die als öffentlicher Platz angelegt ist, sollte die Arbeit der Parlamentarier dem Volk buchstäblich zu Füßen liegen. Doch dazu kam es im Grunde nie. Noch bevor sich ein pulsierendes städtisches Leben in Brasília entwickeln konnte, putschte im Jahr 1964 das Militär. Für Jahrzehnte war während der Zeit der Diktatur die architektonische Sprache der Demokratie im Regierungsdistrikt Makulatur. Heute ist der Zutritt zum Dach aus Sicherheitsgründen verboten. Ohnehin liegt das Ensemble so fern jeder städtischen Geschäftigkeit, dass sich in der Regel jenseits von Mitgliedern und Angestellten der Regierung nur Touristen dort einfinden. Entsprechend war der Anblick der Mengen vor und auf dem Gebäude am 8. Januar genauso alarmierend wie zwei Jahre zuvor der Andrang der Massen auf den zahlreichen Treppenanlagen und Brüstungen des Kapitols. Die Aussage jedoch war eine andere.

Kein „Make Brazil Great Again“, sondern Zerstörungswut und Rufe nach dem Militär

Im Vergleich zu den Trumpisten in Washington, D.C., gab es vergleichsweise wenig geschriebene Botschaften. Die, die man dennoch sah, waren an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Kein „Bolsonaro 2022“ zum Beispiel als Entsprechung zu den allgegenwärtigen „Trump 2020“-Fahnen im Januar 2021, kein „Make Brazil Great Again“, sondern zwei klare Forderungen und eine Selbstermächtigung: Entlang der Dachkante entrollte man ein weithin sichtbares, sehr langes und offensichtlich für diesen Zweck vorbereites Transparent mit der auch für das Ausland lesbaren Aufschrift „Queremos o código fonte – we want the source code“, d.h. den Quellcode zu den Wahlmaschinen. Einige Demonstranten hatten die Kuppel erklommen und hielten dort nicht nur die überall sichtbare brasilianische Nationalflagge hoch, sondern auch zwei ebenfalls in großer Zahl verbreitete Transparente. „Intervenção militar!“ war auf dem einen zu lesen und „Todo poder emana do povo“ auf dem anderen. Genau darum ging es. Das Militär sollte intervenieren und dies sollte der Wille des Volkes sein, von dem, so die Erklärung, alle Macht ausgehe.

Vor und im Kapitol zwei Jahre zuvor überraschte die Allgegenwärtigkeit des Bezugs auf die amerikanische Revolution. Von einem der Gerüste, die dort bereits für die Inauguration des neuen Präsidenten aufgebaut waren, hing ein Banner mit dem berühmten Anfang des ersten Satzes der Verfassung: „We the people“. Es waren Fahnen mit der Aufschrift „1776 – 2.0“ zu sehen und beim Eindringen ins Gebäude der Schlachtruf „1776 – jetzt oder niemals“ zu hören. Für die weitaus größte Mehrheit der Beteiligten, mit Ausnahme der paramilitärischen Gruppen, ging es nicht um die Abschaffung der Demokratie, sondern um ein Eingreifen in den parlamentarischen Prozess im Namen der Demokratie. In den Gerichtsverfahren, die seitdem stattgefunden haben, wurde deutlich, dass die Angeklagten vor allem meinten, im Namen eines noch amtierenden Präsidenten zu handeln, der den laufenden Prozess der Zertifizierung des Wahlergebnisses im Senat für illegitim erklärt hatte.

In Brasília, eine Woche nach der Inauguration des neuen Präsidenten, als der alte schon nicht mehr im Land war, wurde zwar ebenfalls der urdemokratische Grundsatz zum Ausdruck gebracht, dass die Macht vom Volk ausgeht und gegen seinen Willen nicht regiert werden darf – hier wie dort eine unerhörte Anmaßung, die nur durch die von Trump und Bolsonaro verbreiteten Wahlfälschungsvorwürfe autosuggestiv plausibel erscheinen konnte. Doch die Besetzung der Gebäude, in denen zu diesem Zeitpunkt die Regierungsgeschäfte ruhten, hatte eine grundsätzlich andere Stoßrichtung. In einem Land, in dem die Erinnerung an den Putsch und die Diktatur noch lebendig ist, in dem die Aufarbeitung der Verbrechen erst 2010 durch eine Initiative während der ersten Amtszeit des neuen Präsidenten Lula da Silva begonnen wurde, weshalb er seitdem in einem angespannten Verhältnis zum Militär steht, forderten die Bolsonaro-Anhänger nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung der Demokratie im Namen des Volkes. Entsprechend respektlos drangen sie in deren zentrale Institutionen ein. Sie zerstörten noch von Niemeyer in Auftrag gegebene Kunstwerke in den seit 1987 zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden und seit 2007 auf der Liste des nationalen Kulturerbes geführten Gebäuden, zertrümmerten historisches Mobiliar, rissen Halterungen aus den Wänden und setzten mit Sprinkleranlagen ganze Stockwerke unter Wasser. Während sich die Sachschäden in Washington in Grenzen hielten, agierten die Eindringlinge in Brasília mit einer Zerstörungswut, die nichts als Verachtung für die hier Architektur gewordenen demokratischen Tugenden wie Transparenz, Gleichwertigkeit und Zugänglichkeit zum Ausdruck brachte.

In den USA gab es keinerlei Anzeichen, dass sich das Militär offiziell in die innenpolitischen Angelegenheiten nach der Wahl einmischen würde. In Brasilien hingegen wurden bereits die aus bisher noch unbekannten Quellen finanzierten Camps der radikalen Bolsonaro-Anhänger vor Militäreinrichtungen von den Befehlshabern geduldet. Bolsonaro selbst spielte nach seiner Wahlniederlage öffentlich mit der Idee einer Militärintervention und am Tag des Angriffs vereitelte der Gouverneur des Bundesdistrikts zusammen mit seinem Sicherheitschef einen effektiven Polizeieinsatz, obwohl der Ansturm mit Ansage kam. Die Lage im Land ist prekär. Die zum Nulltarif mit kostenloser Verpflegung in den sozialen Medien angebotenen Busreisen nach Brasilía machten es für die Zerstörungswütigen sehr einfach, am 8. Januar dabei zu sein, so dass der Eindruck einer zahlenmäßigen Überwältigung entstehen konnte. Die Armeen von Arbeitern aus den armen Landesteilen im Nordosten, die die Stadt in den späten 1950ern und frühen 1960ern erbauten, hatten es sehr viel schwerer gehabt, dort einen Neuanfang zu realisieren. Im August 2011 fanden sich bei Reparaturarbeiten am Nationalkongress unter den Putz der Wände Botschaften der sogenannten „candangos“ an die zukünftigen Nutzer des Gebäudes. Es waren Wünsche an eine gute Regierung, mit der man die Hoffnung auf ein besseres Leben und eine gerechte Zukunft verband. Auch die Bolsonaro-Anhänger vom 8. Januar 2023 hinterließen Graffiti an den Wänden, ebenfalls Botschaften an die Regierenden, doch nun voller Hass und Verachtung. „Parlamento corrupto“ stand da und in höhnischer Wendung das Äquivalent von „We the People“: „Dizem que o poder emana do povo!“ („Sie sagen, dass alle Macht vom Volk ausgeht“).

Es ist ein Irrglaube, dass mit der Architektur auch die politische Haltung der Menschen programmiert werden kann. Im Kapitol in Washington, D.C., das in der hierarchischen Formensprache der kaiserzeitlichen römischen Antike mit einer vom Petersdom des Vatikans inspirierten Kuppel erbaut wurde, zeigte zumindest der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der nach dem 6. Januar 2021 eingesetzt wurde, was mit den Mitteln der Demokratie im Fall eines Angriffs auf sie zu erreichen ist. In Brasília hingegen hat sich schon einmal eine Militärdiktatur für Jahrzehnte in jenen Gebäuden der Regierung eingerichtet, die zum Inbegriff der Architektur der Demokratie schlechthin avanciert sind.


SUGGESTED CITATION  Klonk, Charlotte: Angriff auf die Architektur der Demokratie: Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Sturm auf Brasília und auf das Kapitol, VerfBlog, 2023/1/13, https://verfassungsblog.de/angriff-auf-die-architektur-der-demokratie/, DOI: 10.17176/20230114-001655-0.

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