Eine Strategie tut not, nicht Schnellschüsse
Zu aktuellen Rufen nach Ausweitungen des Strafrechts zum Schutz von Staat und Verfassung
In einer Zeit, in der wir den 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes und der Geburt der Bundesrepublik feiern, mehren sich Meldungen über innere und äußere Bedrohungen unseres Staates und unserer Verfassung – und wo Gefahr droht, bleibt der Ruf nach dem Strafrecht nicht aus. Unlängst hat der Freistaat Sachsen einen Gesetzentwurf vorgestellt, der die Vorschriften gegen Nötigung von Angehörigen von Verfassungsorganen auf Kommunal- und Europapolitiker erstreckt. Zudem soll eine Art Stalking-Tatbestand geschaffen werden, der Übergriffe in den Bereich der persönlichen Lebensgestaltung von Amts- und MandatsträgerInnen kriminalisiert, wobei dem einzelnen Stalker die Folgen vergleichbarer Handlungen Dritter strafbarkeitsbegründend zugerechnet werden sollen. Fast zeitgleich hat der Freistaat Bayern einen Gesetzentwurf präsentiert, der sich gegen die „Manipulation der öffentlichen Meinung“ und eine daraus resultierende Bedrohung unserer Demokratie durch ein neuartiges Phänomen wendet: die Verbreitung von Deep Fakes.
Die Vorschläge weisen eine Reihe von Merkmalen auf, die für die Kriminalpolitik unserer Tage kennzeichnend sind: Sie reagieren auf einzelne, als bedrohlich erachtete Phänomene mit symbolischen Strafschärfungen (Nötigungsqualifikationen) bzw. kleinräumigen, einzelfallbezogenen Gesetzesänderungen zur Schließung von Gesetzeslücken (Deep-Fakes, Politstalking). Schon der Umstand, dass zwei Landesregierungen voneinander unabhängige Vorschläge erarbeitet haben, deutet darauf hin, dass den Projekten keine Gesamtstrategie auf Grundlage einer umfassenden Gefahrenanalyse zugrunde liegt. Infolgedessen wird nur ein Ausschnitt jener hybriden Gefahren adressiert, die schwer zugänglichen Quellgebieten im Ausland und digitalen Räumen entspringen.
Vom Einzelfallgesetz zur Gesamtstrategie
Eine Betrachtung der heute größtenteils vergessenen Entwicklungslinien des Staatsschutzstrafrechts hält zu einer anderen Strategie an. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt sehr deutlich, dass der Ansatz, auf einzelne Phänomene mit immer neuen Einzelfalltatbeständen zu reagieren, nicht weiterführt: Solche Tatbestände reflektieren stets nur einzelne, näher bezeichnete, in der Vergangenheit erkannte Angriffsrichtungen, können aber Strategiewechsel der Täter nicht antizipieren. Neue Straftatbestände kommen daher stets zu spät. Diesem Problem lässt sich mit offen gehaltenen, auslegungsfähigen Straftatbeständen nicht abhelfen: Anders als in den Anfängen der Bundesrepublik, in der Innenminister Höcherl noch meinte, im Staatsschutz könne man nicht „den ganzen Tag mit dem Grundgesetzt unter Arm herumlaufen“, sind das Schuldprinzip und der Bestimmtheitsgrundsatz heute scharf gestellt und setzen dieser Strategie enge Grenzen.
Die Anpassung des Staatsschutzstrafrechts an neue Gefahren darf sich daher nicht in der Schaffung weiterer Einzelfallgesetze erschöpfen, sondern verlangt nach einer gründlich vorbereiteten Reform, wie es in früheren Jahrzehnten üblich war. Dabei dürfte sich freilich zeigen, dass das Strafrecht heute keine exklusive, nicht einmal eine vorrangige Rolle beim Schutz des Staates, seiner Institutionen und Repräsentanten spielen kann: Von den vorgeschlagenen Strafrahmenerhöhungen gehen allenfalls symbolische Impulse aus. Deep-Fakes begegnet man am besten mit einer strengeren Regulierung sozialer Netzwerke; die von Bayern vorgeschlagene Anpassung des Netzwerkdurchsetzungsgesetz kann hier nur ein erster Schritt sein. Vor allem aber müssen die oft in das Ausland reichenden Finanzierungswege aufgeklärt und die Finanzströme gekappt werden, wozu das Sanktionsrecht der Europäischen Union stärker genutzt werden sollte.
Materie in steter Bewegung
Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht ist Titel und Gegenstand der Habilitationsschrift des kürzlich verstorbenen Strafrechtslehrers Friedrich-Christian Schroeder. Die Arbeit entstand Mitte der 1960er Jahre, erschien aber erst im Jahr 1970. Rund drei Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und Gründung der Bundesrepublik gab es also nicht nur aktuellen Anlass, der Frage nachzugehen, ob und wie das Strafrecht die Verfassung und ihren Staat schützen kann und soll. Vielmehr war die Materie so stark im Fluss, dass das Buch nach Abschluss des Habilitationsverfahrens der Aktualisierung bedurfte. Tatsächlich befand sich das Staatsschutzstrafrecht in der Frühphase der Bonner Republik in ständiger Bewegung. Bereits das Erste Strafrechtsänderungsgesetz, das der Deutsche Bundestag im Jahr 1951 verabschiedete, war nichts anderes als ein umfassendes Paket zum Schutz der noch jungen, ungefestigten Bundesrepublik in Zeiten des Kalten Krieges. Es enthielt neben Klassikern wie dem Hochverrat auch Tatbestände, die dem Staatsschutzrecht der Weimarer Republik entlehnt waren, sowie hochumstrittene Vorschriften wie den unterbestimmten Verfassungsverrat sowie Strafnormen über die Einfuhr von Schriften oder Tonträgern hochverräterischen oder gegen den Bestand der Bundesrepublik gerichteten Inhalts. Zuchthausstrafe drohte demjenigen, der einen Anschlag auf Leib oder Leben des Bundespräsidenten beging; Gefängnis jenen, die staatliche Symbole missbräuchlich verwendeten. Zu dieser weitausgreifenden Kriminalisierung passte eine bis in die frühen 1960er Jahre verbreitete extensive Rechtsprechung, die das Bestimmtheitsgebot den Notwendigkeiten einer Reaktion auf die „wechselnde Angriffstaktik des Gegners“ unterordnete (BGHSt 15, 167 [172]). Damit geriet das Staatsschutzstrafrecht in den Fokus der Kritiker, die bemängelten, die Reform des Jahres 1951 habe sich als „Schlangenei“ (Adolf Arndt) erwiesen, aus dem eine illiberale Rechtspraxis erwachsen sei (dazu Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, S. 394 ff.). Selbst der Generalbundesanwalt Max Güde kritisierte die Weite und Unbestimmtheit einiger Staatsschutzstraftatbestände. In einer Phase, in der die Bundesrepublik einen festeren Stand erlangt und der Kalte Krieg seinen ärgsten Schrecken verloren hatte, begann die Rechtswissenschaft Bürgerrechte ernstzunehmen und den weit ausgreifenden Schutz von Staat und Verfassung zu hinterfragen.
Grundzüge eines liberalen Staatsschutzstrafrechts
Schroeder musste das Staatsschutzstrafrecht zunächst gegen diejenigen in Schutz nehmen, die dessen „Zugehörigkeit“ zu einem legitimen Strafrecht pauschal in Abrede stellten und die Materie als „politisches Strafrecht“ zur Machtbehauptung abtaten. Diese Vorwürfe, so Schroeder, beruhten auf der überholten Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft. Dem hielt Schroeder die liberale Ansicht entgegen, dass der Staat das Produkt der Gesellschaft sei und es keine „Priorität des Staates“ gegenüber der Gesellschaft (Paul Nolte) gebe. Er nutzte dieses Argument, republikanisch eingekleidet, also zur Verteidigung des als konservativ geltenden Staatsschutzstrafrechts. Dies zu Recht: Denn wenn der Satz „L’État ce sont nous“ zutrifft, schützt das Staatsschutzstrafrecht letztlich uns, die Bürgerinnen und Bürger. Als zweiter Wesenszug eines liberalen Staatsschutzstrafrechts trat bei Schroeder der Schuldgrundsatz hervor. Dieser schließt nicht nur übermäßig lange Strafen als verkappte Sicherungsmaßnahmen gegen Gefährder aus, sondern sperrt sich auch gegen die strafbarkeitsbegründende Zurechnung von Taten, die allein Dritte zu verantworten haben. Und schließlich plädierte Schroeder für zielgenaue und dadurch eng gefasste Tatbestände, die näher konkretisiertes Unrecht pönalisieren und nicht diffuse Gefahren adressieren.
Das StGB als Spiegel früherer Bedrohungen von Staat und Verfassung
Diese Maximen sind in den letzten Jahrzehnten regelmäßig auf die Probe gestellt worden. Die Hochphase des Terrorismus der RAF brachte – bis heute umstrittene – Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts hervor. Als Reaktion auf den islamistischen Terrorismus der 2000er Jahre schuf der Gesetzgeber auf Einzeltäter zugeschnittene Tatbestände sowie Vorschriften, die der Unterstützung ausländischer Terrororganisationen entgegentraten. Nicht wenige dieser Tatbestände sind so weit gefasst, dass sie einer einhegenden Auslegung bedürfen, um Unrecht von noch sozialadäquatem Verhalten bzw. strafrechtliches Unrecht von polizeirechtlicher Gefahr abzugrenzen (Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 227 ff.). Gleichwohl bleiben all diese Tatbestände auf zeitbedingte Phänomene bezogen und spiegeln – wie das Staatsschutzstrafrecht insgesamt – die verschiedenartigen Erscheinungsformen früherer Bedrohungen der Bundesrepublik: vom Ost-Agitator, der bei Soldaten der Bundeswehr die „pflichtgemäße Bereitschaft“ zum Schutz der Bundesrepublik unterminiert (§ 89 StGB), über die terroristische Vereinigung der 1970er und 1980er Jahre mit ihrem Unterstützerumfeld (§ 129a StGB) bis hin zu den „einsamen Wölfen“ der 9/11-Ära, die staatsgefährdende Straftaten vorbereiten, oder Personen, die für ausländische Terrororganisationen Geld sammeln oder ausreisen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen (§§ 89a ff. StGB).
Was ist zu tun?
Geschichte wiederholt sich zwar nicht, gleichwohl kann man aus ihr lernen. So zeigt die Entwicklung des Staatsschutzstrafrechts, dass der Gesetzgeber seit den 1970er Jahren nur noch punktuelle Anpassungen aus aktuellen Anlässen vorgenommen hat, während in den 1960er Jahren stets größere Reformen auf Grundlage umfassender (parlamentarischer) Beratung durchgeführt worden sind. Sollte diese auf Einzelaspekte bezogene Strategie fortgesetzt werden, drohen Bedrohungen aus dem Blick zu geraten, die weniger offensichtlich, aber weitaus gefährlicher sind als die Verbreitung von Deep-Fakes oder das Stalking von Politikern. Lernen lässt sich aus der Geschichte auch, dass Strafrahmenerhöhungen keine (messbare) präventive Wirkung entfalten. Körperverletzungstatbestände um neue Qualifikationsvorschriften zu ergänzen, die Taten gegen Politikerinnen oder Wahlhelfer erfassen, dürfte Tatgeneigte ebenso wenig abschrecken wie die Erstreckung der §§ 105 f. StGB (Nötigung von Verfassungsorganen und ihren Mitgliedern) auf Kommunal- und Europapolitiker: Strafbar sind Nötigung und Körperverletzung nämlich schon jetzt; Qualifizierungen können daher allenfalls zusätzliches Unrecht symbolisch markieren, nicht aber verhindern. Die Geschichte des Staatsschutzstrafrechts lehrt jedoch nicht nur, was nicht funktioniert, sondern kann – zumindest in Teilen – auch als Steinbruch für Ideen fungieren, zumal diese Rechtsmaterie keineswegs nur illiberalen Pfaden folgte, wie Schroeder gezeigt hat. Einige Vorschriften ließen sich durchaus in eine moderne und rechtsstaatlich angemessene Form überführen, falls es dafür einen tatsächlichen Bedarf gibt und sie sich in eine Gesamtstrategie einfügen.
Zu dieser Gesamtstrategie muss aber zwangsläufig mehr gehören als die Fortschreibung des Strafrechts. Eine Regulierung sozialer Netzwerke, die ihren Namen verdient, wurde bereits erwähnt. Ungeachtet dessen muss, wer das materielle Strafrecht verschärft, das Strafverfahren stets mitbedenken und bspw. die Möglichkeiten der Beweissicherung in digitalen Räumen ausweiten (Stichwort: IP-Adressen). Ist dies aus politischen Gründen nicht gewollt oder umsetzbar, können Straftatbestände von vornherein kaum repressive Wirkung entfalten. Auch an das Strafanwendungsrecht und die begrenzten Erfolgsaussichten internationaler Rechtshilfe bei politischen Taten, ist zu denken. Beides kann Strategiewechsel erforderlich machen. Will man etwa ausländischen Mächten ihren staats- und verfassungsgefährdenden Einfluss im Inland nehmen, sollte die Finanzierung ihrer Helfer im Inland unterbunden werden. So gesehen, dient die Schaffung eines Tatbestandes gegen die unzulässige Interessenwahrnehmung (§ 108f StGB) auch dem Schutz vor politischer Einflussnahme aus dem Ausland (sog. strategische Korruption). Weitere, nicht notwendig strafrechtliche Schritte, etwa im Sanktionsrecht der Europäischen Union, sollten dem folgen, wenn mit Hilfe von ExpertInnen des Verfassungsschutzes und der Nachrichtendienste Klarheit über die Richtung hergestellt worden ist, die das Staatsschutzrecht nehmen muss, um den Bedrohungen unserer Zeit gerecht zu werden. Anders gewendet: Eine Strategie tut not, nicht Schnellschüsse.