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08 December 2022

Appell für eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung des Kolonialismus

Abschlussbemerkung zum Symposium "Restitution, Colonialism and the Courts“

Die Restitution von menschlichen Gebeinen und Raubkunst aus kolonialen Kontexten stellt – auch über Deutschland hinaus – einen wesentlichen Teil der Debatte um die Aufarbeitung von Kolonialunrecht dar. So hat Claudia Roth kürzlich in einem Interview gesagt, dass menschliche Gebeine aus den ehemaligen Kolonien in deutschen Museen nichts zu suchen haben. Von welcher – auch emotionalen – Bedeutung nicht nur Gebeine, sondern auch Artefakte vor allem für die Betroffenen (etwa Hinterbliebene) ist, konnte und kann nur erahnt werden. Was die Rechtswissenschaft und die mit diesem Thema befassten weiteren Disziplinen aber jedenfalls leisten können, ist einen Beitrag zu einer dekolonialen Rechtspraxis zu leisten; einer Praxis, die sich dieses Themas mit Respekt und der Einsicht um die dringende Notwendigkeit von Aufarbeitungsprozessen des kolonialen Erbes annimmt. Allerdings muss dieser Prozess über eine einfache „Geste des Anerkenntnis“ hinausgehen. Dies ist bisher nicht geschehen.

Es bedarf daher der weiteren Auseinandersetzung mit der juristischen Aufarbeitung von Restitutionsbegehren. Diese sollte einerseits in der (kritischen) Rechtswissenschaft passieren, muss sich aber früher oder später auch auf die Rechtspraxis ausweiten und an der, wo nötig, (erfolgreichen) Durchführung einzelner Verfahren messen lassen. Der vom ECCHR durchgeführte Workshop war hierbei ein erster Versuch, die theoretischen Argumente in Überlegungen zur praktische Fallarbeit umzuwandeln. Daher widmete sich dieses Symposium einer konkreten juristischen Fragestellung: Wie können Begehren auf Rückführung der Ahnen, der geraubten spirituellen Kulturobjekte und Artefakte vor deutschen Gerichten umgesetzt und verhandelt werden?

Restitutionsbegehren und (de)koloniales Recht

Dass der Kolonialismus und seine Folgen bis heute nachwirken, wird kaum mehr bestritten. Diese Erkenntnis folgt einerseits aus dem weit verbreiteten Verständnis und der Anerkennung der langfristigen und strukturellen Nachwehen kolonialer Ausbeutung, Vertreibung und Landraub. Diese Art der Verbrechen in den ehemals kolonisierten Gesellschaften gehen über den Moment ihrer Begehung hinaus. Und auch ein Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie an den Ovahero und Nama, Damara und San verursacht generationenübergreifende Traumata. Wie sich anhand verschiedener Fallkonstellationen aufführen lässt, entfaltet die fehlende bzw. fehlerhafte Aufarbeitung des Kolonialismus Wirkungen, die noch heute die Menschenrechte der Betroffenen verletzen.

Daher möchten auch wir an dieser Stelle noch einmal fordern, dass sich sowohl staatliche Stellen als auch Gesellschaft und Wissenschaft diesem Thema dringend widmen müssen.

Ausgangspunkt ist dabei, wie in den anderen Beiträgen dieses Symposiums wiederholt dargelegt, eine unzureichende Rechtslage, die sowohl mit Blick auf die Gesetzeslage, aber auch die Kasuistik, wenig Hoffnung auf einen fairen und einheitlichen Umgang mit Restitutionsbegehren macht. Ja, es ist richtig, dass sich viele einzelne Individuen innerhalb der betroffenen Institutionen und Museen um einen sensiblen Umgang mit den menschlichen Gebeinen, Artefakten und Restitutionsbegehren, die an sie herangetragen werden, bemühen. In bestimmten Fällen leisten sie sogar darüber hinaus gehend wichtige Unterstützung in Form von Forschungsarbeit. Nichtsdestotrotz verharrt der jetzige Modus auf Ebene der Einzelfallgerechtigkeit. Damit kann und soll sich angesichts der Schwere und Systematik der Taten der ehemaligen Kolonialmächte und deren Nachwirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Nachfahren derjenigen Menschen, die zu Kolonialobjekten degradiert wurden, nicht zufriedengegeben werden.

Dieses Symposium zeigt, wie wichtig eine angemessene und umfassende Aufarbeitung kolonialer Gewalt und Gewalttaten ist. Gleichzeitig zeigt es auf, womit sich eine dekoloniale Herangehensweise an die (prozess-)rechtlichen Vorgaben beschäftigen muss, will man Rückgaben als eine Frage des Rechts begreifen. Gleiches gilt für den notwendigen Austausch und interdisziplinäre Zusammenarbeit, um die notwendigen faktischen wie rechtlichen Grundlagen für die Feststellung rechtlicher Verantwortlichkeit zu schaffen. Die Beiträge von Yann LeGall & Gwinyai Machona sowie Isabelle Reimann und Nahed Samour legen dafür Ansätze vor.

Während die Beiträge von Judith Hackmack sowie Natalia Loyola Daiqui und Sebastian-Manès Sprute in diesem Symposium sich konkreten Fragestellungen zur Umsetzbarkeit von Restitutionsbegehren vor deutschen Verwaltungsgerichten widmen, vor allem mit Blick auf mögliche materiell-rechtliche Rechtsgrundlagen, aber auch verfahrensrechtliche Herausforderungen, greift diese Abschlussbemerkung vor allem auch den Vorschlag von Evelien Campfens und Isabella Bozsa auf. Kann Restitution aus Perspektive eines Menschenrechts auf die eigene Kultur mit entsprechenden staatlichen Umsetzungs- und Schutzpflichten betrachtet werden? Und wie ist ein solches Recht unter den Rahmenbedingungen des deutschen Grundgesetzes zu verstehen? Dies sind Fragen, die die juristische Fallarbeit in diesem Bereich prägen.

Erfassung kolonialer Gewalt durch juristische Fallarbeit?

Eine für nationale Verfahren zentrale Forderung muss dabei sein, unzumutbare Hürden wie z.B. die Nachweisbarkeit des individuellen Unrechtskontexts zum Erwerbsvorgang im kolonialen Kontext zu überwinden. Lehnt man einen solchen Ansatz als unvertretbar ab, so kann Untätigkeit nicht die Antwort sein angesichts der strukturellen Dauernatur des Kolonialunrechts. Warum strukturelle Dauernatur? Weil z.B. der postmortale Würdeschutz derjenigen, die in den Archiven der ehemaligen Kolonialmächte zwangsweise weilen, immer noch verletzt wird. Sollte sich also herausstellen, dass Restitutionsbegehren unter dem derzeitigen Rechtsrahmen ohne Erfolgsaussichten sind, muss unbedingt nachgebessert werden, um koloniales Unrecht nicht zu perpetuieren.

Wie in diesem Symposium mehrfach von der Gruppe an Autor*innen dargelegt, haben Historiker*innen und Provenienzforscher*innen einerseits Kenntnis über und Zugang zu Materialien, die die Aufklärung von Restitutionsbegehren voranbringen können und auf unterschiedliche Art und Weise vor Gerichten eingebracht werden können. So können Archive gegen sich selbst gelesen werden und für interpretative Methoden der konstruktiven Rechtsinterpretation genutzt werden, um die (de)kolonial konstruierte Unerschütterlichkeit von angenommen Rechtsverständnissen kolonialer Rechtsnormen und ihrer Anwendung zu erschüttern. “Recht”, das waren auch in kolonialen Kontexten nicht nur herrschende Rechtsverständnisse, sondern auch abweichende Rechtsinterpretationen.  Recht wie es war, ist nicht nur was es war, sondern was auch rechtlich vertretbar war zu diesem Zeitpunkt.

Gleiches kann für die Verwendung von historischen Forschungsergebnissen als Grundlage für beweiserhebliche Vermutenswirkungen für die Überzeugungskraft des Sachvortrages zum systematischen Gewaltkontext gesagt werden. Man könne damit erstens den Kolonialismus als Unrechtskontext an sich begründen – ähnlich wie es bei Rückgaben von Naziraubkunst geschehen ist. Dadurch würde es gelingen, dieses Systemunrecht, das Kolonialismus als Gesamtunrecht ist, durch die Rechtswissenschaft abzubilden. Praktisch würde dies bedeuten, dass dieser eben nicht in jedem Einzelfall gesondert nachgewiesen werden müsste. Auch für die Relevanz des Anscheinsbeweises könnte das nicht unwichtige Wirkungen zugunsten der Restitutionsbegehrenden bedeuten. Hat z. B. die historische Forschung für einen speziellen kolonialen Komplex ergeben, dass in einem gewissen Zeitraum in einem gewissen Gebiet Erwerbsumstände in signifikant gehäufter Weise von Gewalt begleitet wurden, so spräche vieles dafür, auch für einen nicht im Einzelfall bis ins letzte Detail nachweisbaren Erwerbsvorgang davon auszugehen, dass jener Gewaltkontext auch dort vorgelegen haben muss.

Wenn dann noch andere dem rechtmäßigen Erwerb widersprechende Umstände hinzukämen, hier ist an Unveräußerlichkeit aufgrund der Natur des Gegenstandes zu denken, dann käme man einen nicht unwesentlichen Schritt in der Aufarbeitung von diesen Formen historischen Unrechts weiter. Dies könnte dann im letzten Schritt sogar erlauben, dass die Behauptung einer unrechtmäßigen Aneignung der in Frage stehenden menschlichen Gebeine oder kulturellen Artefakte explizit durch die beklagte Stelle widerlegt werden müsste, anstatt diese Beweislast den betroffenen Kläger*innen aufzubürden. Hier gilt es noch vieles zu klären.

Aber auch über den nationalen Rahmen hinaus trifft man auf Probleme bzw. Grenzen, will man das (Völker)recht als Raum für die Aufarbeitung für Kolonialunrecht befassen. Die Ambivalenz des Rechts entfaltet sich in besonderer Weise im Bereich der Reparationen und Restitution als Wiedergutmachung für Kolonialunrecht. So gibt es zwar durchaus Prozesse, die verstehen, dass die Aufarbeitung kolonialen Unrechts und gegenwärtige Formen von rassistischer Diskriminierung miteinander zusammenhängen, mithin Aufarbeitung geschehen muss. Allerdings werden gerade dort Reparationen und damit auch Restitution als Antwort von einem großen Teil der Staaten abgelehnt.

Als Gegeninitiative sind daher folgende Initiativen zu nennen: zum einen der Bericht aus 2019 bezüglich der “Human Rights Obligations of Member States in relation to Reparations for Racial Discrimination rooted in Slavery and Colonialism“ der damaligen UN Sonderberichterstatterin zu Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und zeitgenössischen Formen des Rassismus, E. Tendayi Achiume. Dort wird die Verbindung zwischen Kolonialismus, Kolonialunrecht und Kolonialverbrechen einerseits und gegenwärtigen Formen von Rassismus und rassistischer Diskriminierung aufgezeigt. Zudem weist sie in dem Bericht darauf hin, dass einzig Reparationen, und damit eben auch Restitutionen, in der Lage sind, diese andauernde Form der Menschenrechtsverletzungen zu beheben. Gleiches gilt für die Staaten, damit sie ihren Verpflichtungen aus der Konvention gegen Rassismus nachkommen.

Zum anderen ist der Bericht des UN Sonderberichterstatters zu Förderung der Wahrheit, Gerechtigkeit Rehabilitierung und Garantie der Nichtwiederholung, Fabián Salvioli, zu nennen. So stellt der Bericht „Transitional Justice Measures and addressing the Legacy of Gross Violations of Human Rights and International Humanitarian Law committed in Colonial Contexts“ aus dem Jahr 2021 fest, dass die Beteiligung von betroffenen Bevölkerungsgruppen notwendig ist, um der Aufarbeitung des Kolonialismus Legitimität und Nachhaltigkeit zu verleihen und damit letztendlich Versöhnung erreichen zu können. Beide UN-Sonderberichterstatter*innen stimmen darüber ein, dass nur inklusive Mechanismen, die die Beteiligung von Opfern und deren Nachkommen sichern, zu nachhaltiger Aufarbeitung des Unrechts und Versöhnung führen können. Die momentane Rechtslage zu Restitutionen in Deutschland gewährleistet nichts von alledem. Selbst eine erfolgreiche Durchsetzung von Restitutionsbegehren vor deutschen Verwaltungsgerichten kann immer nur für Abhilfe in den konkret verhandelten Einzelfällen sorgen. Diskriminierungen bleiben vorprogrammiert.

Reparationen und restaurative Gerechtigkeit durch interdisziplinäre Zusammenarbeit?

Über die bestehenden unzulänglichen – und daher zu korrigierendem oder noch zu schaffenden – Gesetzesrahmen hinaus, ist es außerdem notwendig, dass sich die Gesellschaft als Ganzes in die Aufarbeitung des Kolonialismus einbringt. Entscheidend wird damit auch die Kooperation über die Grenzen einzelner Disziplinen hinaus, denn nur so kann eine weitere Öffentlichkeit beteiligt und erreicht werden.

Daher gilt es weiter zusammenzuarbeiten, um auf dem bestehenden Wissen aufbauen zu können und entsprechende ergänzende Sachverhalts- und Beweisermittlungen durchführen zu können. Gegebenenfalls ist dazu auch die weitere (finanzielle und/oder personelle) Ausstattung und Schaffung von staatlichen Stellen zur Aufklärung von Restitutionsbegehren nötig. Dabei ginge es um solche Stellen, die über die bestehende Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland hinaus, bei Restitutionsbegehren konkret unterstützen. Möglich erscheint auch die Finanzierung systematischer (im Vergleich zur derzeit vorherrschenden anlassbezogenen) Forschung zu und Inventarisierung von Objekten aus kolonialen Kontexten. Früher oder später müssen diese Forschung und das Stellen von Restitutionsbegehren dann auch Objekte in privaten Sammlungen umfassen. Bei der Umsetzung der gelisteten Vorschläge wäre, in Übereinstimmung mit den Wünschen und Interessen der Betroffenen auch in Erwägung zu ziehen, wie diese angemessen beteiligt werden können.

Zur Umsetzung wenigstens einiger dieser Forderungen, wird es in Deutschland entsprechenden politischen Willen benötigen, der auch über die Mobilisierung der öffentlichen Wahrnehmung und Meinung hergestellt werden kann. Dazu müssen Recherchen zu Deutschlands kolonialer Vergangenheit öffentlichkeitswirksam präsentiert werden. . Ein Beispiel für die Aufarbeitung kolonialen Unrechts über verschiedene Disziplinen hinweg ist die gemeinsame Arbeit des ECCHR, Forensic Architecture / Forensis mit namibischen PartnerInnen zum Völkermord. Aufbauend auf der juristischen Arbeit des ECCHR zu diesem Thema, insbesondere der kritischen Begleitung des Verhandlungsprozesses zwischen den beiden Regierungen, wurden Untersuchungen an zentralen Orten des Völkermordes durchgeführt, die einerseits das Ausmaß, die Grausamkeit und Gewalt der Kolonisierung und des Völkermordes darstellen, gleichzeitig aber auch die anhaltenden Effekte aufzeigen. Dazu wurden Archivmaterial, Aussagen von Angehörigen der Opfer und 3D Modellierungen zusammengebracht.

Es bleibt abzuwarten, wie solche Untersuchungen möglicherweise vor Gerichten zum Einsatz kommen können. Dazu müssen sowohl materiell als auch formell die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Aber schon jetzt bieten solche Kooperationen die Möglichkeit, die koloniale Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, für die Anerkennung des erfahrenen und begangenen Leides zu werben und gesamtgesellschaftliche Motivation (und Druck) aufzubauen, sich dieses Themas auf politischer, juristischer und wissenschaftlicher Ebene anzunehmen.

Um den Kolonialismus als solchen sowie seine bis heute fortwirkenden Folgen aufzuarbeiten und bedeutsame Prozesse „restaurativer Gerechtigkeit“ zu führen, bedarf es einer breiten gesellschaftlichen, wissenschaftlichen als auch juristischen Anstrengung. Erst wenn dieser Prozess unter angemessener Beteiligung der betroffenen Einzelpersonen und Gesellschaften durchgeführt wird, besteht die Chance, dass Deutschland den Kolonialismus und die damit begangenen Gewalttaten tatsächlich als sein Erbe ansehen und ein gerechtes Miteinander in der Zukunft möglich sein kann.

Von der dekolonialen Theorie zur dekolonialen Praxis

Wir stehen am Anfang dessen, was man eine dekoloniale Rechtspraxis nennen kann. Es bedarf daher der tiefgehenden Auseinandersetzung mit den Grundannahmen von Rechtsanwendung angesichts historischen Unrechts. Das betrifft die Auswahl zulässiger (Rechts-)quellen, die rechtsdogmatische Einordnung der Dynamik zwischen Unrecht, Rechtsverletzung und Systemunrecht, genauso wie ein Verständnis von Vertretbarkeit im Fluss der Zeit. Basierend auf dem Ausgang weiterer Diskussionen und möglichen ersten Verfahren wird es sich  möglicherweise auch als notwendig erweisen, dass gesetzgeberisch nachgebessert wird. Damit könnte u.a.  sichergestellt werden, dass die formalen Voraussetzungen geschaffen werden, dass Restitutionsbegehren vor deutschen Gerichten in der Zukunft Erfolg haben können. Ziel muss dabei immer sein, dass  koloniales Unrecht nicht weiter fortgeschrieben und die andauernden Menschenrechtsverletzungen abgestellt werden.

Denn die Wiedergutmachung kolonialer Ungerechtigkeiten ist weder eine Frage der politischen Verhandlungsmacht noch eine Frage der Moral. Die kolonialen Verbrechen der Expansion, Ausbeutung und Ausgrenzung erfordern einen verfassungs- und menschenrechtsbasierten Ansatz für Reparationen, Restitution und restaurative Gerechtigkeit.