Mit Pflichtarbeit erziehen?
Warum sozialpolitische Arbeitsverpflichtungen verfassungsrechtlich bedenklich und praktisch schwer umsetzbar sind
Der Bezug existenzsichernder Sozialleistungen gilt im politischen Diskurs als verwerflich: In einer stark vereinfachten Transferbetrachtung wird davon ausgegangen, vermeintlich in selbstverschuldeter Armut lebende Personen lebten von der Arbeit anderer.
Neueste Ausprägung eines stigmatisierenden Diskurses über Sozialleistungsempfänger*innen ist es, die Arbeitspflicht für Leistungsbeziehende nach dem AsylbLG einführen bzw. ausweiten zu wollen, wie etwa dieses Zitat von Gert Rudolf, CDU-Fraktionsvorsitzender Schwerin, illustriert: „Wer kriegt, muss auch bereit sein zu geben. Und wenn er nicht geben will, obwohl er geben könnte, dann muss er das auch spüren.“
Solche populistischen Forderungen verkennen sowohl die verfassungsrechtlichen Grenzen als auch die fragwürdige Wirksamkeit von Arbeitsverpflichtungen. Statt auf Zwangsmaßnahmen zu setzen, sollte Sozialpolitik in nachhaltige Erwerbsintegration durch gut finanzierte Eingliederungsmaßnahmen, verlässliche Betreuung und faire Arbeitsbedingungen investieren, um gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.
Es wird verkannt, dass nur 44% der im Bürgergeldbezug stehenden Personen tatsächlich arbeitslos sind (S. 23), viele erwerbstätige Leistungsbeziehende (zu) niedrige Löhne über das Bürgergeld aufstocken müssen oder Care-Arbeit leisten, die letztlich der gesamten Gesellschaft zu Gute kommt (vgl. Gaffron/Löbbert/Schmidt 2024). Ebenso übersehen wird, dass restriktive Regelungen in Asyl- und Aufenthaltsrecht es Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erheblich erschweren, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen (vgl. bereits Seidl 2023).
Der Schweriner Beschluss zur Arbeitspflicht
Für besondere mediale Aufmerksamkeit sorgte zuletzt ein Beschluss der Schweriner Stadtvertretung vom 9. Dezember 2024. Auf Antrag der CDU war mit Stimmen der AfD der Oberbürgermeister aufgefordert worden, ein Konzept zur Umsetzung verpflichtender Arbeitsgelegenheiten für Asylbewerber*innen und SGB-II-Beziehende zu entwickeln. Aufgrund zahlreicher Falschdarstellungen sah sich die Stadt dazu veranlasst, klarzustellen, dass die Stadtvertretung keine sofortige Arbeitspflicht beschlossen hatte. Das geforderte Konzept werde in Zusammenarbeit mit Arbeitsagentur und Jobcenter in den nächsten Monaten erarbeitet.
Die aktuelle Rechtslage
§ 31 SGB II sieht für Bürgergeldbeziehende sanktionsbewehrte Mitwirkungspflichten vor. Dazu gehört unter anderem, eine zumutbare Arbeit aufzunehmen sowie an Maßnahmen zur (Wieder-)Eingliederung in Arbeit mitzuwirken. Neben den regulären Eingliederungsmaßnahmen, etwa der Beratung und Vermittlung oder der Unterstützung einer Berufsausbildung (§ 16 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 SGB II), sieht § 16d SGB II die Vermittlung in sogenannte Arbeitsgelegenheiten (umgangssprachlich 1-Euro-Jobs) vor. Diese Arbeitsgelegenheiten sind als ultima ratio gegenüber anderen Eingliederungsmaßnahmen nachrangig, § 16d Abs. 5 SGB II.1)
Arbeitsgelegenheiten sind keine Erwerbsarbeit, sondern im öffentlichen Interesse liegende Zusatzarbeiten, die nach dem Gesetzeswortlaut auf den Zweck beschränkt sind, die Erwerbsfähigkeit der Leistungsberechtigten zu erhalten oder wiederherzustellen, § 16d Abs. 1 S. 1 SGB II. Sie sollen „Vermittlungshemmnisse abbauen und die Chancen auf eine reguläre Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhöhen“ (BT-Drs. 17/6277 S. 115). Seit Oktober 2024 sieht die Fachanweisung der Bundesagentur für Arbeit den Sinn der Arbeitsangelegenheiten aber auch in der „Wiederherstellung der Mitwirkungsbereitschaft“ von Personen, die andere Maßnahmen der beruflichen Eingliederung wiederholt abgelehnt haben oder zu Terminen nicht erschienen sind (BA, Fachl. Weisungen § 16d Ziff. 2.28).
Demgegenüber gibt es nach dem AsylbLG keine gesetzliche Mitwirkungspflicht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Hier würde sonst auch ein gesetzlicher Widerspruch entstehen, da nach § 61 Abs. 2 AsylG eine Arbeitserlaubnis erst sechs Monate nach Asylantragstellung zu erteilen ist und außerdem voraussetzt, dass die Bundesagentur für Arbeit im Einzelfall zugestimmt hat und die Antragssteller*in nicht aus einem sicheren Herkunftsland stammt. Arbeitsgelegenheiten sind dahingegen nach § 5 AsylbLG in weiterem Umfang zugelassen als im SGB II. Da aufenthaltsrechtlich in der Regel die Verpflichtung besteht, in einer für die Aufnahme zuständigen Einrichtung zu leben (§ 47 AsylG), kommen zusätzlich zu den gemeinnützigen Tätigkeiten insbesondere auch einrichtungsbezogene Arbeiten als taugliche Arbeitsgelegenheiten in Betracht. Seit Februar 2024 müssen es auch keine zusätzlich2) zu verrichtenden Tätigkeiten mehr sein – anders als bei Bürgergeld-Beziehenden.
Der verfassungsrechtliche Rahmen
Die Debatte um Arbeitsverpflichtungen für Sozialleistungsbeziehende ist nicht neu. Die sogenannten 1-Euro-Jobs nach § 16d SGB II begegnen schon seit langem (verfassungsrechtlicher) Kritik (siehe z.B. Richers/Köpp, DÖV 2010, 997).
In Art. 12 Abs. 2, Abs. 3 GG ist geregelt, dass niemand „außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht“ zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden darf. Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig. Anhand der Dokumente des Parlamentarischen Rates leitete das BVerfG 1987 den historischen Hintergrund dieser Regelung her. Der Verfassungsgeber habe beabsichtigt, „die im nationalsozialistischen System üblich gewordenen Formen der Zwangsarbeit mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit auszuschließen“ (Beschluss vom 13.01.1987, 2 BvR 209/84, Rn. 68).
Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Mitwirkungspflichten des § 31 SGB II im Sanktionen-Urteil 2019 für mit Art. 12 Abs. 2 GG vereinbar (Rn. 150), verortete das Problem aber beim Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Der Existenzsicherungsanspruch sei dem Grunde nach unverfügbar und migrationspolitisch nicht zu relativieren (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012, 1 BvL 10/10 u. 1 BvL 2/11, Rn. 95). Unter Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG seien sanktionsbewehrte Mitwirkungspflichten unzulässig, die in paternalistischer Weise auf die Erziehung oder Besserung von Leistungsberechtigten gerichtet sind (so das BVerfG im Sanktionen-Urteil, Rn. 126). Sie wären mit der Subjektstellung der Einzelnen unvereinbar. Hier lässt sich also auch eine Parallele zum Verbot der herabwürdigenden Zwangsarbeit nach Art. 12 GG ziehen. Eine Pflicht um der Pflicht willen, die angeblich Unwillige „bestraft“ oder zu erziehen versucht, ist als Maßnahmenzweck nicht mit Verfassungsrecht vereinbar, auch wenn gerade ein solcher Repressionswunsch die medialen Diskurse zu bestimmen scheint.
Jede Unterdeckung des Existenzminimums unterliegt aufgrund des Menschenwürdebezugs zudem einem besonders strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab. Sanktionsbewehrte Mitwirkungspflichten können folglich nur dann zulässig sein, wenn sie auf die Beseitigung der sozialrechtlichen Hilfebedürftigkeit, also der Unterdeckung des lebensnotwendigen Bedarfes aus eigenen Mitteln gerichtet und im Einzelfall zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und angemessen sind. Auf die Durchsetzung der Mitwirkungspflichten gerichtete Sanktionen müssen ihrerseits ebenfalls verhältnismäßig sein.
Die Regelungen des §§ 16d SGB II und 5 AsylbLG können vor dem Hintergrund des Einschätzungs- und Prognosespielraums des Gesetzgebers mit diesen Maßstäben als noch vereinbar angesehen werden – obwohl nicht sicher empirisch belegt ist, dass sich die Vermittlung in Arbeitsgelegenheiten überhaupt dazu eignet, die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen.3)
Aus dem Verfassungsrecht ergeben sich, wie oben gezeigt, allerdings strikte Anforderungen an den jeweils mit der Vermittlung in Arbeitsgelegenheiten verfolgten Zweck und die Geeignetheit dieser Maßnahme im konkreten Einzelfall. Die Vermittlung bzw. Zuteilung in Arbeitsgelegenheiten darf nur auf diejenigen Adressat*innen gerichtet sein, für die diese Maßnahme das im Einzelfall geeignetste und erforderliche Mittel zur Eingliederung in Erwerbsarbeit ist.
Eine Maßnahme ist nur dann geeignet, wenn sie den Zweck (Überwindung der Hilfedürftigkeit) auch tatsächlich fördert. Eine Verpflichtung zur Teilnahme an (nicht einrichtungsbezogenen) Arbeitsgelegenheiten ist damit insbesondere dann nicht verfassungsgemäß, wenn die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, etwa aufgrund individueller Vermittlungshindernisse oder aufgrund des nach § 61 AsylG restriktiven Zugangs zum Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit nicht zu erwarten und die Vermittlung in Arbeitsgelegenheiten deshalb von vornherein ungeeignet ist.
Erforderlich wäre die Zuteilung einer Arbeitsgelegenheit nur dann, wenn es keine mildere Maßnahme gäbe, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielt. Ein effektiveres und nachhaltigeres Mittel gegenüber der sanktionsbewehrten Arbeitsgelegenheit könnte aber eine konsequent auf Augenhöhe ausgerichtete Beratung im Jobcenter sein, die die Betroffenen in einer eigenständigen Entscheidung darüber unterstützen soll, wie die geforderten Mitwirkungshandlungen sinnvoll gestaltet werden können. Eine Beratung ist nach §§ 16d Abs. 5, 16 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II bereits vorrangig vor den Arbeitsgelegenheiten einzusetzen. Sie kann aber nur greifen, wenn sie adressatengerecht und entsprechend qualifiziert erfolgt und nicht an unzureichenden Ressourcen der Jobcenter scheitert. Allein darüber zu informieren, dass es Vorgaben zur Mitwirkung gibt und dass bei Nichtbefolgung eine empfindliche Sanktion droht, ist in diesem Sinne keine Beratung über den Sinn einer Mitwirkungspflicht.
Hält man eine sanktionsbewehrte Zuteilung einer Arbeitsgelegenheit – jedenfalls sofern eine Arbeitserlaubnis auch tatsächlich zeitnah erlangt werden könnte – noch für grundsätzlich geeignet und erforderlich, setzen sich die Einwände auch bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (der Angemessenheit) fort. Wie steht es hier um die Zweck-Mittel-Relation, wenn die Integrationseffekte für die konkreten Leistungsberechtigten gering oder unklar sind? Ist damit der Druck auf Hilfebedürftige, eine bestimmte Arbeit(sgelegenheit) anzunehmen, wirklich gerechtfertigt?
Sozialpolitische Einordnung
Rufe nach verpflichtenden Arbeitsgelegenheiten als Mittel der Sozialpolitik haben zurzeit eine bedenkliche Konjunktur, obwohl sie verfassungsrechtlich nur in sehr engen Grenzen zulässig sind. Auch ihre tatsächliche Wirksamkeit bzw. ihre positiven Effekte zur Überwindung von Hilfebedürftigkeit und Erwerbsintegration sind in der nun vorgesehenen Breite der Maßnahmen unklar und zudem kostenintensiv.
Den aufpeitschenden Rufen nach Arbeitspflichten fehlt folglich ein rechtliches und empirisches Fundament. Sie werden sich in kleinen, vermeintlich gesichtswahrenden regionalen Konzepten erschöpfen, die sich dann an ihren Effekten im Verhältnis zum Aufwand messen lassen müssen. Der Schaden dieser populistischen Diskurse wird dann aber schon eingetreten sein, denn die Rhetorik der arbeitsfaulen Bürgergeldempfänger*innen oder Ausländer*innen führt zu einer sozialen Ausgrenzung von gesellschaftlichen Minderheiten. Das schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und verstärkt zudem das „Leiden am Leben in Armut“. Politiker*innen versuchen auf populistische Weise, ein Gefühl der Ungerechtigkeit bei der „hart arbeitenden Mehrheit“ zu wecken. Eine solche Politik gegen die schwächsten gesellschaftlichen Gruppen verstellt den Blick auf dringendere Diskurse. So ließe sich stattdessen etwa diskutieren, die Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit durch verlässliche Betreuungsplätze und Pflegeunterstützung auszuweiten oder Sozialleistungsbezug dank guter Arbeitsbedingungen und fairer Entlohnung nachhaltig zu vermeiden. Der Arbeitsmarktzugang sollte für Asylsuchende in jedem Verfahrensstadium unkompliziert sichergestellt werden.
Den mindestens unklaren Integrationschancen für Leistungsbeziehende stehen hohe Kosten in Arbeitsverwaltung und bei den Maßnahmenträgern gegenüber: Die Organisation und individuelle Betreuung von Personen mit meist multiplen Vermittlungshemmnissen wären mit erheblichem Aufwand verbunden. Für diese sozialpädagogische Begleitung fehlen qualifizierte Fachkräfte, die Maßnahmen sind zudem bereits jetzt nicht ausfinanziert. Hinzu kommen die Mehraufwandsentschädigungen für Geflüchtete und Bürgergeldbeziehende (s. Stellungnahme des Paritätischen Gesamtverbandes).
Es wäre die lohnendere Investition in Sozialsystem und Gesellschaft, sich konsequent auf eine nachhaltigere Erwerbsintegration durch ausfinanzierte Eingliederungsmaßnahmen und adressatengerechte Beratung und Begleitung zu fokussieren. Dazu gehört auch, Jobcentermitarbeitende entsprechend zu qualifizieren und zu unterstützen. Eine solche Sozialpolitik würde nicht nur das Sozialsystem und die Gesellschaft stärken, sondern auch den respektvollen Umgang mit Leistungsbeziehenden.
References
↑1 | So auch BeckOGK/Kohte, 1.6.2016, SGB II § 16d Rn. 1. |
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↑2 | Nach § 16 Abs. 2 S. 1 SGB II sind Arbeiten zusätzlich, wenn sie ohne die Förderung nicht, nicht in diesem Umfang oder erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt würden. Nicht zusätzlich sind daher Arbeiten, denen sich der Träger der Arbeitsgelegenheit nicht ohne Rechtsfolgen entziehen kann und die aus tatsächlichen Gründen nicht aufschiebbar sind. |
↑3 | S. Pongratz/Wolff, 2023, Ein-Euro-Jobs wirken – aber nur unter bestimmten Bedingungen, in: IAB-Forum 4. Oktober 2023 (abrufbar hier); s. auch BMAS, Begleitevaluation der arbeitsmarktpolitischen Integrationsmaßnahmen für Geflüchtete, Schlussbericht November 2021 (abrufbar hier), in Bezug auf AGH, S. 22. |