Asylrecht auf dem Juristentag: Mehr Rechtseinheit – aber auch mehr Transparenz?
Zum 72. Mal hat der Deutsche Juristentag die Rechtsordnung aus wissenschaftlicher und praktischer Sicht auf ihre Änderungsbedürftigkeit befragt und Verbesserungsvorschläge abgegeben. Im Jahr 2018 war ein Leitthema der Beschlüsse die Stärkung der Rechtseinheit. Denn in kaum einem Bereich erscheint diese so angeschlagen wie im Asylrecht: Nicht wenige sprechen von einer „Asyllotterie“, weil verschiedene Gerichte die tatsächliche Gefahrenlage unterschiedlich bewerten. Hierzu empfiehlt der Juristentag, die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zu erweitern, indem diesem Leitentscheidungen zu allgemeinen Tatsachenfragen ermöglicht werden. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht ausreichend. Darüber hinaus sollte die Berichtspraxis des Auswärtigen Amtes reformiert werden. Mehr Transparenz würde nicht nur der Bedeutung der amtlichen Lageberichte Rechnung tragen, sondern auch Zweifeln hinsichtlich ihrer Neutralität die Grundlage entziehen.
Die Tatsachengrundlage für asylrechtliche Entscheidungen zu schaffen, stellt die Verwaltungsgerichte und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor erhebliche Herausforderungen. Denn der Anspruch auf Schutz hängt nicht nur davon ab, wie glaubhaft die individuelle Verfolgungsgeschichte der Asylbewerber erscheint, sondern – vor allem im subsidiären Schutz – von der Gefahr, die allgemein im Zielstaat einer Abschiebung herrscht. Diese Gefahrenlage einzuschätzen, ist in der Regel Sache der Verwaltungsgerichte und – aufgrund der beschränkten Berufungsmöglichkeiten – nur in Ausnahmefällen der Oberverwaltungsgerichte. Die Berufungsmöglichkeiten (vorsichtig) zu erweitern, wie vom Juristentag ebenfalls empfohlen, ist insofern ein erster Schritt zu mehr Rechtseinheit.
Doch Obergerichte könnten auch dann noch divergierende Urteile fällen. Deshalb ist es richtig, erstmals dem Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht die Kompetenz zuzugestehen, Leitentscheidungen zu grundsätzlichen Tatsachenfragen zu treffen. Dieser Schritt war schon verschiedentlich gefordert worden und kann sich auf rechtsvergleichende Erkenntnisse stützen. Zwar stellen sich hinsichtlich der genauen Ausgestaltung noch Detailfragen. Der Änderungsvorschlag ist aber nicht nur verfahrensökonomisch, sondern auch aus Gründen der Gerechtigkeit richtig. Denn der Eindruck einer Entscheidungspraxis, die willkürlich zwischen Entscheidungsorten divergiert, widerspricht dem Gleichheitssatz grundlegend. Die Frage, wie denn die Bindungswirkung solcher Leitentscheidungen herzustellen sei, kann nur mit der (in der kontinentaleuropäischen Tradition fest etablierten) faktischen Präjudizienbindung beantwortet werden, die sich ganz natürlich aus dem Instanzenzug ergibt. Eine solche Bindung trägt auch der teils hohen Dynamik bewaffneter Konflikte Rechnung, da sie ein Abweichen von Leitentscheidungen ermöglicht, wenn sich die Faktenlage ändert.
Auch das Bundesverwaltungsgericht steht jedoch vor den besonderen Schwierigkeiten, die eine Bewertung der Gefahrenlage in anderen Staaten birgt. Der Vorschlag, für diese Bewertung eine unabhängige Institution zu errichten, die Gerichte und BAMF unterstützt, wurde auf dem Leipziger Juristentag abgelehnt. Nichtsdestotrotz ist der These von Prof. Winfried Kluth zuzustimmen, dass eine Erweiterung der Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts allein nicht weit genug geht. Denn Zweifel hinsichtlich der Tatsachengrundlage, auf welche asylrechtliche Entscheidungen gestützt werden, verbleiben. Mangels eigener Ortskenntnis entscheiden Gerichte wie BAMF über die Gefahrenlage nicht zuletzt auf Grundlage von Lageberichten, die von internationalen Organisationen, NGOs und vom Auswärtigen Amt erstellt werden. Vor allem den amtlichen Lageberichten räumen die Gerichte oft erhebliche Beweiskraft ein.
In der Literatur und von NGOs wird den Lageberichten des Auswärtigen Amtes hingegen oft nachgesagt, sie wiesen eine grundsätzliche Tendenz dahin auf, die Lage im Zielstaat im Zweifel zugunsten einer ggf. restriktiven Flüchtlingspolitik (zu) positiv zu beschreiben. In einigen Fällen haben sich solche Vorwürfe auch durchaus erhärtet, etwa als herauskam, dass ein Lagebericht zur Türkei in den 1980er Jahren ausschließlich auf Informationen der dortigen Regierung beruhte. Unzutreffende Lageberichte sind aber keineswegs die Regel. Der gegenwärtige Lagebericht zu Afghanistan z. B. beschreibt die Lage – im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den Berichten von NGOs und internationaler Organisationen – als äußerst gefährlich und volatil. Er wird auch von der NGO PRO ASYL positiv kommentiert.
Nichtsdestotrotz leistet die gegenwärtige Praxis der amtlichen Lageberichte solchen Vermutungen durch unnötige Intransparenz Vorschub: Die Berichte des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage sind als „VS-NfD“ (Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch) eingestuft. Verfahrensbeteiligte können sie einsehen, aber sie dürfen diese nicht veröffentlichen. Selbst die Quellen, auf denen sie beruhen, benennen die Berichte nicht. Nach (von Rechtsanwaltskammern nicht immer geteilter) Auffassung des Auswärtigen Amtes verstößt ihre Weitergabe gegen § 19 Abs. 2 der Berufsordnung der Rechtsanwälte (BORA) und kann standesrechtlich sanktioniert werden. An der Erstellung mancher Lageberichte haben Beamte des BAMF mitgewirkt, die an das Auswärtige Amt abgeordnet waren. Dies stellt den Charakter der amtlichen Berichte als neutrale Einschätzung einer unbeteiligten Behörde in Frage, da das BAMF in Asylverfahren den Ausgangsbescheid erlässt (s. hierzu etwa: Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, vor § 78, Rn. 34). Ob und hinsichtlich welcher Berichte dies noch immer so ist, ist nicht ersichtlich.
All dies ist prima facie nicht vertrauensfördernd, wird in der Rechtsprechung deutscher Gerichte aber durchgängig als unproblematisch erachtet: Weder müssen die Berichte ihre Quellen benennen, noch müssen sie veröffentlicht werden. Weder muss offengelegt werden, wer an der Erstellung mitgewirkt hat, noch muss ein Beamter den Bericht vor Gericht erläutern. Die Mitwirkung von Beamten des BAMF ist unschädlich. Ungeachtet der geschilderten Kritik wird den Berichten vielfach ein erheblicher Beweiswert eingeräumt. Auch das Bundesverfassungsgericht befand bereits, dass die amtlichen Berichte die tatsächlichen Verhältnisse in anderen Staaten wohl am besten reflektieren (s. zu alldem: BVerwG, Urt. v. 22.1.1985 – 9 C 52/83; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 26.8.1998 – A 13 S 2624/97; VGH München, Beschl. v. 4.5.1999 – 20 ZB 99.30941, NVwZ-Beil. 1999, 115; BVerfGE 63, 197 [213f.]).
Insofern scheint eigentlich kein dringendes Bedürfnis für eine Änderung der gegenwärtigen Praxis zu bestehen. Der Schein mag hier aber trügen. Einerseits hat Kritik an den Lageberichten in Einzelfällen doch vor deutschen Gerichten verfangen, wenn sie (wie z. B. beim oben angesprochenen Lagebericht zur Türkei) hinreichend substantiiert war. Anderseits mögen internationale Gerichte den Lageberichten keinen so weitgehenden Vertrauensvorschuss zugestehen. Der EGMR etwa, der ebenfalls über Abschiebehindernisse zu befinden hat, mag hier, auch mit Blick auf andere Vertragsstaaten, strengere Maßstäbe ansetzen. Einem britischen Bericht etwa, der seine Quellen nicht offenlegte, maß der Gerichtshof keinen hohen Beweiswert bei (s. zu beidem: Baade, „Sehenden Auges dem Tode oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“? Die Verwertung von Lageberichten als Beweismittel zur Feststellung der subsidiären Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern, DÖV 2018, 806 – im Erscheinen).
Wenn also auch nach dem Beschluss des Juristentages kein eigenes wissenschaftliches Institut zur Lagebewertung geschaffen werden soll, scheint es doch sinnvoll, die Erstellung der amtlichen Lageberichte transparenter zu gestalten. Die Berichte sollten grundsätzlich veröffentlicht werden. Etwa zum Quellenschutz kann zwar ein legitimes Interesse an Geheimhaltung bestehen. Ein solches Interesse sollte aber, entsprechend der Rechtsprechung zum Aktensperrvermerk nach § 99 VwGO, regelmäßig nicht hinsichtlich des gesamten Berichts gegeben sein. Darüber hinaus sollte ein wissenschaftlicher Beirat geschaffen und eine wissenschaftliche Methodik der Lageberichtserstellung verfasst und veröffentlicht werden. All dies wären Schritte, die eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung ermöglichen würden und dem Beweiswert der Berichte zuträglich wären. Die österreichische Praxis der Staatendokumentation, welche diese Schritte bereits getan hat, könnte insofern Vorbildcharakter haben.
Unabhängig davon, ob man einer etwas extensiveren oder restriktiveren Asylpolitik näher steht, sollte Konsens über eines bestehen: Entscheidungen, die für den Einzelnen lebensentscheidend und auch gesellschaftlich von hoher Brisanz sind, sollten auf eine möglichst sichere Tatsachenbasis gestellt werden. Mehr Transparenz und fachliche Expertise in den Prozess einfließen zu lassen, scheint in jedem Fall angezeigt.
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