25 October 2024

Auf Messers Schneide

Wir stehen elf Tage vor einer Wahl, die über weit mehr als die US-amerikanische Präsidentschaft entscheidet. Über den Wahlkampf zwischen Donald Trump und Kamala Harris wurde schon viel gesagt, deshalb ersparen wir Ihnen hier Wiederholungen. Um es zusammenzufassen: Trump verspricht das rechtsstaatlich verfasste amerikanische politische System in weiten Teilen auszuhöhlen, Millionen von Menschen abzuschieben und schon am ersten Tag seiner Amtszeit eine Diktatur zu errichten. Wir glauben, dass wir ihn ernst nehmen sollten. Harris hingegen hat mehrere moderate politische Versprechen gemacht, vor allem aber hat sie versprochen, nicht das zu tun, was Trump vorhat. Diese Wahl – sowohl des Präsidenten bzw. der Präsidentin, als auch des Kongresses – wird sich auf Millionen Menschen auswirken, in den USA und anderswo.

Deshalb beginnen wir heute unsere Editorial-Reihe zur US-Wahl. Drei unserer Teamkolleg*innen sind derzeit in New York und werden von vor Ort berichten. Wir werden die politischen und juristischen Kernfragen dieser Wahl analysieren. Besonders konzentrieren wir uns auf die zu erwartenden unappetitlichen Kämpfe darum, wer die Wahl denn nun gewonnen hat.

Die Republikanische Partei und verbündete Organisationen wie „True the Vote“, die „Heritage Foundation“ und das besonders gruselige „America First Policy Institute“ haben wahrlich nichts unversucht gelassen, um die Integrität dieser Wahl zu untergraben. Gleichzeitig haben sich zahlreiche demokratische und unparteiische zivilgesellschaftliche Gruppen auf Szenarien vorbereitet, die Wahlbeamt*innen, Gerichte und Wähler*innen schon jetzt betreffen.

Wir werden deshalb mit Menschen sprechen, die sich in Wahllokalen engagieren, um die ordnungsgemäße Auszählung von Wahlzetteln zu sichern, die anwaltliche Arbeit leisten oder versuchen, die Flut an Desinformation einzudämmen. Wir befragen Rechtsexpert*innen und bringen unsere eigene rechtliche Perspektive ein, während in Wahlgremien, vor Gericht und im Kongress gerungen wird – bis zum Schicksalsdatum des 6. Januar 2025. Dann zählt und zertifiziert der Kongress die Stimmen der Wahlleute.

Wo wir stehen

Unser Ausgangspunkt für diese Reihe oszilliert irgendwo zwischen Hoffnung und tiefer (sehr tiefer!) Besorgnis. Trump und Harris liegen in den Umfragen immer näher beieinander; die Wahl steht auf Messers Schneide. Falls Sie davon ausgehen, dass Harris gewinnt: das ist Wunschdenken. Niemand kann zuverlässig vorhersagen, wie die Wahl ausgeht. Die Präsidentschaft hängt von wichtigen Swing States ab: von Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, Arizona, Nevada, Georgia, North Carolina und nicht zuletzt von einem einzelnen Wahlmann aus Omaha, Nebraska. Sollte Harris im Norden gewinnen, aber im Süden verlieren, könnte genau dieser eine Wahlmann aus Nebraska die entscheidende Stimme sein, die Harris auf die notwendigen 270 Wahlstimmen bringt.

Diese Wahl ist nicht nur für die US-amerikanische Demokratie richtungsweisend. Sie zeigt, wie sich das Räderwerk eines Verfassungssystems – seine Werkzeuge, Regeln, Institutionen und Amtsträger*innen – umbauen lässt, um die Demokratie gegen sich selbst zu richten.

Die amerikanische Demokratie hatte, wie die meisten anderen Demokratien auch, immer mit gewissen Defiziten zu kämpfen – kein System ist perfekt, erst recht keines, das fast 250 Jahre alt ist. Viele dieser Defizite gehen auf politische Kompromisse zurück, die zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten geschlossen werden mussten – etwa das Electoral College, die Stimmengleichheit im Senat von bevölkerungsreichen Staaten wie Kalifornien und dünn besiedelten Staaten wie Nebraska oder die zentrale Rolle der Bundesstaaten bei Regulierung und Durchführung bundesweiter Wahlen. Heute profitieren nicht nur hauptsächlich weiße, ländliche Wähler*innen von diesem System (und damit ironischerweise genau jene, die gerne behaupten, das System werde zu ihren Ungunsten manipuliert). In dieser institutionellen Architektur stecken auch jene strukturellen Schwächen, die es Trump ermöglichen könnten, die Wahl zu „stehlen“.

Ein Schritt zurück

Gehen wir zunächst einen Schritt zurück. Wer die Wahlen und das in den kommenden Wochen absehbare Chaos verstehen will, sollte eine der wichtigsten – und möglicherweise problematischsten – Eigenarten der US-Demokratie kennen: das Electoral College. Ohne das Electoral College wäre das Chaos vielleicht ein anderes, jedenfalls lassen sich viele der aktuellen Probleme auf dieses System zurückführen. Das Electoral College unterscheidet sich von fast allen anderen personalisierten Wahlen dadurch, dass der Präsident – bzw. die Präsidentin – nicht direkt vom Volk gewählt wird, sondern von 538 Wahlleuten (electors). Das lässt sich historisch erklären, wird jedoch zunehmend unhaltbar: Jeder Staat erhält proportional zu seiner Bevölkerung eine Anzahl von Wahlleuten. Dem Kandidat oder der Kandidatin, die die Wahl in einem Bundesstaat gewinnt, werden sämtliche Wahlleute zugesprochen (Winner Takes All) – egal wie knapp der Sieg war. So gewannen Kandidaten wie George W. Bush im Jahr 2000 und Donald Trump im Jahr 2016 die Präsidentschaft, obwohl sie das sogenannte Popular Vote, also die Gesamtzahl der Stimmen im Bundesgebiet, um Millionen von Stimmen verloren hatten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich das zugunsten von Trump wiederholt, wenn Harris eines der knappen Rennen in Pennsylvania, Michigan oder Wisconsin verliert.

Obwohl offensichtlich ist, dass das Electoral College Wähler*innenstimmen entwerten kann, scheint die US-amerikanische politische Landschaft diese demokratischen Defizite weitgehend zu akzeptieren. Das mag angesichts der geringen Chancen auf eine Wahlrechtsreform verständlich scheinen. Doch dass solche strukturellen Mängel nicht einmal diskutiert werden, verweist auf ein tiefer liegendes Problem im gegenwärtigen politischen Diskurs der USA. In acht der letzten 24 Jahre haben Präsidenten regiert, immer Republikaner, die die Mehrheit der Wähler*innenschaft ablehnte. So werden auf Dauer undemokratische Nebeneffekte normalisiert.

Da ist es bemerkenswert, dass nicht die Demokraten, sondern ausgerechnet die Republikaner das System als „manipuliert“ kritisieren. Doch das Schweigen der Demokraten zu derlei systemisch-strukturellen Defiziten ließ eine gähnende Leerstelle in der Selbstwahrnehmung des politischen Gemeinwesens. Diese Leerstelle hätte mit grundlegender Kritik progressiver – oder wir würden behaupten ebenso zentristischer und konservativer – Stimmen am Wahlsystem gefüllt werden können. Wurde sie aber nicht. Stattdessen konnten die Republikaner einen offenbar weit verbreiteten Ärger und Misstrauen gegenüber dem System aufgreifen und mit Wahlleugnung, Xenophobie, und Misogynie anheizen.

Für uns – hier sind wir vielleicht idealistisch, jedenfalls unerfahren – sieht manches, was hier oftmals als progressiver politischer Realismus durchgeht, oft wie Zynismus aus, wie ein Abschied von großen Versprechen und Idealen. Währenddessen wächst und gedeiht die weit von traditionellem Konservatismus entfernte Rechte, mit ihren großen Erzählungen und grundlegenden Kritiken an einem in der Tat fehlerhaften System. Das zeigt, wie dringend diese demokratischen Defizite angegangen werden müssen – nicht nur als kleinteilige technische Probleme, sondern als Teil eines größeren Kampfes um die Werte, die die US-Demokratie leiten sollten.

Die Macht der Bundesstaaten

Doch das ist nicht das einzige Problem. Das Electoral College verzerrt nicht nur den Willen der Mehrheit, sondern resultiert auch in einer enormen Regionalisierung bundesstaatlicher Vorgänge. Dieser Regionalisierung werden wir uns in den kommenden Wochen genauer widmen. Doch schon jetzt lohnen sich ein paar Ausführungen dazu, welche Rolle das Electoral College dabei spielt und warum diese Regionalisierung so störanfällig ist. Ob Harris oder Trump im Weißen Haus landen, hängt letztlich von einer Handvoll Staaten ab. Innerhalb dieser Staaten wird das Ergebnis oft von einigen wenigen Wahlbezirken entschieden, und innerhalb dieser Bezirke von einer kleinen Anzahl von Auszählungslokalen und Verwaltungsbüros, in denen wenige Dutzend oder vielleicht ein paar Hundert Wahlhelfer*innen arbeiten.

Diese hochgradige Regionalisierung der nationalen Wahlen bedeutet, dass die Stimmen von sehr wenigen Menschen an sehr spezifischen Orten die Richtung des gesamten Landes bestimmen können.

Die wenigsten dieser lokalen Institutionen sind darauf ausgelegt, dem Druck einer landesweiten Überprüfung und gezielter politischer Einflussnahme standzuhalten – geschweige denn der Art strategischer Angriffe, die die Republikanische Partei und ihre Verbündeten seit 2020 unternommen haben.

Stellen Sie sich Ihr Auszählungslokal vor. Wahrscheinlich könnten Sie nicht einmal sagen, wo sich dieses befindet – wir jedenfalls wissen es nicht. Normalerweise werden dort völlig alltägliche, unauffällige Routineaufgaben erledigt: Wählen, Zählen, Tabellieren, ein Excel-Dokument ausfüllen und Ergebnisse melden. Doch wenn ein ganzer politischer Apparat all seine Ressourcen auf nur eine Handvoll lokaler Wahlhelfer*innen konzentriert und versucht, deren Arbeit zu behindern, können die lokalen Kapazitäten schnell zusammenbrechen.

Sieg durch Obstruktion?

Außerdem lässt sich das Electoral College wunderbar obstruieren. Das hat teilweise schlicht mit den maßgeblichen Orten zu tun – es ist einfacher, ein paar wenige Auszählungslokale in Pennsylvania, Georgia und Michigan zu beeinflussen, als alle Zentren im Land zu manipulieren. Es hat aber auch damit zu tun, dass das Electoral College weitere Verfahrensschritte erfordert, die missbrauchsanfällig sind.

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Im Dezember eines jeden Wahljahres kommen die Wahlleute in ihren jeweiligen Landeshauptstädten zusammen, um ihre Stimmen abzugeben, die dann nach Washington D.C. gesendet werden – einst in Kutschen, und heute (so stellen wir uns das vor) in gepanzerten Fahrzeugen. In der ersten Januarwoche werden diese Stimmen vom Repräsentantenhaus gezählt und bestätigt. Genau an diesem Tag im Jahr 2021 hat Donald Trump den Sturm auf das Kapitol orchestriert, um den Auszählungsprozess und die friedliche Machtübergabe an Joe Biden zu verhindern. Diese Zeremonie – die Zählung und Zertifizierung der Stimmen der Wahlleute – ist wieder für den 6. Januar 2025 angesetzt. Der Kampf um die Zukunft Amerikas geht also erst richtig los, wenn die Wahllokale schließen.

Insbesondere bei der Auszählung eröffnen sich für die Republikaner einige Einfallstore, um den Wahlprozess zu obstruieren. Den Republikanern nahestehende Akteure könnten versuchen, die Auswahl der Wahlleute und andere sonst routinemäßige Verfahren zu politisieren. Sollte es etwa bei der Wahl und der Stimmenauszählung in einem Bundesstaat zu Chaos kommen, könnten lokale Beamt*innen entweder daran scheitern – oder gar absichtlich verweigern – alle Stimmen auszuzählen. Trotz Reformen auf Bundesebene im Jahr 2022 ist immer noch unklar, wer in einem solchen Szenario wie darüber bestimmt, ob ein Bundesstaat legitim die Stimmen seiner Wahlleute abgeben kann. Werden sie nicht abgegeben, lässt das Millionen von Wähler*innenstimmen unberücksichtigt; werden die Wahlleutestimmen hingegen abgegeben, ohne dass das tatsächliche Auszählungsergebnis bekannt ist (das erst Monate später festgestellt wird), kann das ähnlichen Schaden anrichten.

Wahrscheinlich werden diese Streitigkeiten vor Gericht landen, erst bei den Obersten Gerichtshöfen der Bundesstaaten und schließlich beim U.S. Supreme Court. Die Integrität der US-amerikanischen Wahl würde damit im rechtlichen Limbo feststecken, auf unabsehbare Zeit.

Die Trump-Kampagne wird wohl versuchen, gezielt Proteste und Unruhen vor Auszählungslokalen anzustacheln, um die dortigen Wahlhelfer*innen einzuschüchtern, Chaos zu stiften und den Wahlprozess zu stören. Schon jetzt erodiert die Flut an Desinformationen über vermeintlichen Wahlbetrug das ohnehin schwindende Vertrauen in die Integrität des Wahlvorgangs, auf das eine liberale Demokratie angewiesen ist. Die Medien werden eine entscheidende Rolle dabei spielen, die visuellen und narrativen Erwartungen der Öffentlichkeit zu den Wahlausgängen zu prägen, was dazu beitragen kann, weiter Skepsis und Angst vor Wahlmanipulation zu schüren – oder umgekehrt.

Besorgniserregend ist, dass die Republikaner nicht einmal die Endergebnisse in den Swing States ‚flippen‘ müssen, um Erfolg zu haben. Angesichts der so starken Dezentralisierung der US-Wahlen reicht es schon, schlicht für Chaos zu sorgen. Dann könnten die Gouverneur*innen und die Legislative der Bundesstaaten – ähnlich wie der Supreme Court in Bush v. Gore – sagen: ‚Das ist zu chaotisch, keine weiteren Nachzählungen.‘ Im schlimmsten Fall verwirklicht sich dann eine Idee, die bereits 2020 zirkulierte und inzwischen geltendes Recht in North Carolina ist, einem entscheidenden Swing State. Danach könnten die bundesstaatlichen Parlamente, die in einigen Swing States republikanisch dominiert sind, bei hinreichenden Zweifeln an der Legitimität der Wahl einfach selbst Wahlleute ernennen. Wie realistisch das ist, bleibt abzuwarten, denn es würde wahrscheinlich auch alle anderen Wahlen (nämlich des Repräsentantenhauses und Senats) in diesem Bundesstaat beeinflussen. Jedenfalls würde es den Wahlprozess erheblich erschüttern. 

Vertrauen und Zivilität

Es stehen also nicht nur einzelne politische Errungenschaften, wie reproduktiven Rechten, eine nicht völlig milliardärszentrierte Steuerpolitik und die Unterstützung der Ukraine auf dem Spiel, sondern der demokratische Prozess an sich. Damit dieser funktioniert, ist ein Mindestmaß an Vertrauen und Zivilität allerdings unverzichtbar.

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So fehlerhaft Amerikas Wahlinstitutionen auch sein mögen, der Bestand demokratischer Institutionen und Prozesse hängt letztlich von Vertrauen ab – Vertrauen in Institutionen, Vertrauen in die Medien und auch Vertrauen ineinander. Derzeit ist das Vertrauen in den USA in praktisch jeder Hinsicht auf einem historischen Tiefstand. Im Fernsehen hören die Amerikaner*innen, dass die Wahl 2020 gestohlen worden und der Klimawandel ein Mythos sei. Viele sagen, sie kennen – wenn überhaupt – nur wenige Menschen „von der anderen Seite“. Und sie sind sich einig, dass Teile der Bundesregierung inkompetent und unzuverlässig seien, insbesondere wenn die gegnerische Partei an der Macht ist.

Die Demokratie ist auch auf ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt und Zivilität angewiesen. Ein deliberatives System kann langfristig nur funktionieren, wenn ein einigermaßen versöhnlicher Ton herrscht, das Wahlergebnis respektiert und Gewalt abgelehnt wird. Dennoch gab es bereits zwei versuchte Attentate auf Trump – der wiederum sofort die demokratische Rhetorik beschuldigte, statt zu hinterfragen, inwiefern er selbst öffentlich Wut und Ängste schürt.

Vertrauen und Zivilität erodieren, wenn eine Seite beginnt, in der anderen eine existenzielle Bedrohung für die Zukunft des Landes zu sehen. Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Trump und seine Unters