22 February 2023

Ausbürgerung als verschärfte Form politischer Verfolgung

In einem beispiellosen Schritt in der modernen Geschichte des Völkerrechts hat Nicaragua in den letzten zwei Wochen mehr als 300 Dissidenten ihre Staatsbürgerschaft aberkannt. 222 dieser Bürger wurden am 9. Februar in die Vereinigten Staaten abgeschoben, wobei das Berufungsgericht von Managua (Tribunal de Apelaciones) ihnen erst am Tag danach, also rückwirkend, die Staatsangehörigkeit entzog; weitere 94 Bürger, von denen die meisten bereits exiliert sind, waren Gegenstand einer ähnlichen Justizfarce, die in einer Entscheidung desselben Gerichts am 15. Februar gipfelte.1) Als Ausdruck spontaner Solidarität hat Spanien, nun von zwei lateinamerikanischen Staaten (Argentinien, Chile) gefolgt, den Dissidenten die Staatsbürgerschaft angeboten.

Politische Verfolgung durch eine familiär geführte Diktatur

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) reagierte mit einer scharf formulierten Erklärung auf die Abschiebung, die im relevanten Teil die aktuelle Situation in Nicaragua treffend zusammenfasst:

What happened today is not … a “liberation.” These people were unjustly imprisoned -some for years- for thinking, expressing, or writing opinions contrary to the prevailing regime in Nicaragua. Many of them were tortured and cut off from all contact with the outside world.

This group of people has now been sentenced in trials without any guarantees for alleged “treason against the homeland” and “incitement to violence, terrorism and economic destabilization,” among other alleged crimes. They were stripped of their Nicaraguan nationality and all their citizenship rights “in perpetuity.” They arrive in the United States supposedly “deported” from their own country.

The crimes committed against these people must not go unpunished, and their rights must be restored as soon as possible. In Nicaragua there are still people imprisoned and tortured for thinking differently, there are still people who live daily in fear of being arrested, tried and sentenced without any legal or procedural guarantees. The Nicaraguan regime continues to be oblivious to the principles of democracy and respect for human rights, and we must continue denouncing its abuses.

… there is still a long way to go until all Nicaraguans, without exception, can once again enjoy freedom in their own country.

Bezüglich der anderen 94 Dissidenten enthält die Gerichtsentscheidung, die im Wesentlichen mit der Anklageschrift (acusación) identisch ist, keine konkreten Tatvorwürfe, , sondern verweist u.a. auf eine Verschwörung gegen die „nationale Integrität“ („conspiración para cometer menoscabo a la integridad nacional“) sowie auf höchst nebulöse Straftaten „gegen den Frieden, die Souveränität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des nicaraguanischen Volkes, die zur Destabilisierung des Landes aufstacheln“ („en perjuicio de la paz, soberania, independencia y la autodeterminación del pueblo nicaraguense, incitando a la desestabilización del país“) und auf einen „Handel mit der Ehre des Landes“ („traficando con la honra de la patria“), die die Angeklagte „begingen und weiterhin begehen“ („ejecutaron y continúan ejecutando“). Was hier mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft und anderen Sanktionen (u. a. Vermögensbeschlagnahme) bestraft wird, ist nichts anderes als die anhaltende Kritik dieser Bürger an der Ortega/Murillo-Diktatur, darunter bekannte Schriftsteller wie Sergio Ramirez und Gioconda Belli sowie Politiker, Diplomaten, Richter und Kirchenvertreter, von denen viele einst Teil der sandinistischen Revolution und Bewegung waren. Kurz gesagt, dies ist ein klarer Fall politischer Verfolgung durch eine Familiendiktatur, in der alle Macht beim Präsidenten (Ex-Revolutionär Daniel Ortega) und der Vizepräsidentin (seiner Ehefrau Rosario Murillo) zusammenläuft und die Rechtsstaatlichkeit systematisch – bei völliger Kontrolle und Instrumentalisierung der Justiz – ausgehöhlt worden ist.2)

Die gerichtlichen Entscheidungen fügen sich in eine Reihe gesetzlicher Änderungen ein. Die von der Regierung kontrollierte Nationalversammlung (Asamblea Nacional) änderte am 9. Februar Artikel 21 der Verfassung und fügte einen Satz hinzu, durch den „Vaterlandsverrätern“ (traidores a la patria) die Staatsangehörigkeit entzogen werden kann („Los traidores a la patria pierden la calidad de nacional nicaragüense“), wodurch die in Artikel 20 der Verfassung enthaltene Garantie der Staatsangehörigkeit ausgehebelt wird. Diese Verfassungsreform wurde durch zwei ordentliche Gesetze (Ley 1055 und Ley 1145) ergänzt, von denen ersteres bereits am 22. Dezember 2020 verabschiedet wurde und den Verlust der Staatsangehörigkeit – als Ausführungsgesetz zu Artikel 21 der Verfassung – regelt. Das neuere Gesetz 1145 vom 10. Februar 2023 (ein Tag nach der Abschiebung der 222 Dissidenten in die USA!) ermöglicht durch Artikel 2 den Verlust der Staatsangehörigkeit von Personen, die nach Gesetz 1055,  u.a. wegen Hochverrats (traición) verurteil wurde. Interessanterweise wartete die Regierung nicht einmal auf das Inkrafttreten der Verfassungsänderung (die eine zweite gesetzgeberische Entscheidung erfordert, siehe hier) und wandte Gesetz 1145 rückwirkend an, zumindest in Bezug auf die 222 deportierten Bürger. Damit hat Nicaragua eigene Staatsangehörige ausgewiesen!

Missachtung des Völkerrechts

Der Entzug der Staatsangehörigkeit verstößt zunächst gegen das Übereinkommen von 1961 zur Verringerung der Staatenlosigkeit (Convention on the Reduction of Statelessness), dem Nicaragua mit Wirkung – unter Präsident Ortega – vom 29. Juli 2013 beigetreten ist. Dieses Übereinkommen erlaubt den Verlust der Staatsangehörigkeit (durch Verzicht, Wegweisung usw.) nur, wenn die betreffende Person dadurch nicht staatenlos wird (Artikel 5, 6, 7(1)(a) und (6), 8(1)). Darüber hinaus ist der Entzug der Staatsangehörigkeit nur unter begrenzten und besonderen Umständen zulässig (Artikel 8(2)(a) i.V.m. mit Artikel 7(4) und (5); Artikel 8 (2)(b): Erlangung durch Täuschung oder Betrug). Andernfalls muss ein Staat sich das Recht der Entziehung der Staatsangehörigkeit zum Zeitpunkt des Vertragsbeitritts ausdrücklich vorbehalten und nur aus bestimmten Gründen (Artikel 8(3)), nämlich

(a)  that, inconsistently with his duty of loyalty to the Contracting State, the person

(i)  has, in disregard of an express prohibition by the Contracting State rendered or continued to render services to, or received or continued to receive emoluments from, another State, or

(ii) has conducted himself in a manner seriously prejudicial to the vital interests of the State;

(b)  that the person has taken an oath, or made a formal declaration, of allegiance to another State, or given definite evidence of his determination to repudiate his allegiance to the Contracting State.”

Nicaragua hat keine solche Erklärung abgegeben.3) Ohnehin darf gemäß Artikel 9 ein Vertragsstaat „not deprive any person or group of persons of their nationality on racial, ethnic, religious or political grounds.” Damit ist die hier in Rede stehende Entziehung der Staatsangehörigkeit, nämlich im Rahmen einer politischen Verfolgung, ausdrücklich verboten.

Abgesehen davon verstößt die Maßnahme gegen das Menschenrecht auf eine Staatsangehörigkeit nach Art. 20 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK), insbesondere deren Abs. 3: „No one shall be arbitrarily deprived of his nationality.” Bisher ist diese Bestimmung nur einmal relevant geworden, nämlich im Fall des israelisch-peruanischen Geschäftsmanns Baruch Ivcher. In einem anderen prominenten lateinamerikanischen Fall der Aberkennung der Staatsangehörigkeit, dem des chilenischen Diplomaten Orlando Letelier der Regierung Allende,4) gab es keinen Rechtsbehelf, nicht zuletzt weil Letelier am 21.9.1976 in Washington D.C. von der chilenischen Geheimpolizei DINA ermordet wurde. Ivcher hat 1984 die peruanische Staatsangehörigkeit bei gleichzeitiger Aufgabe der israelischen Staatsangehörigkeit erlangt, dann diese aber aufgrund einer Verwaltungsanordnung (Resolución Directoral) vom 11. Juli 1997 während der Fujimori-Regierung verloren. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) stellte insoweit eine Verletzung von Artikel 20 AMRK fest (s. hier para. 86 ff.), wobei er die Bedeutung der Staatsangehörigkeit als Menschenrecht mit Garantie eines Mindestschutzes betonte (para. 86, 87) und argumentierte, dass der Entzug vorliegend schon deshalb willkürlich sei, weil die entziehende Verwaltungsbehörde derjenigen hierarchisch untergeordnet sei, die die Staatsangehörigkeit ursprünglich zuerkannt habe (para. 93-96).

Damit verglichen ist der hier in Rede stehende Entzug der Staatsangehörigkeit von mehr als 300 Bürgern nicht nur quantitativ viel schwerwiegender, sondern auch der politische Charakter der Maßnahme viel eindeutiger: Diese Maßnahme ist nur ein weiterer Akt der Ortega/Murillo-Diktatur im Rahmen ihrer weitverbreiteten  („widespread“) und systematischen („systematic“) Verfolgung politischer Dissidenten, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit i.S.v. Artikel 7(1)(h), (2)(g) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu bewerten ist. Das Kontextelement von Artikel 7 des Römischen Statuts ergibt sich dabei ohne Weiteres aus der oben zitierten OAS-Erklärung, dem OAS-Bericht 2021, der Res. 49/3 des UN-Menschenrechtsrats zur Einrichtung der bereits erwähnten Expertengruppe und dem Human Rights Watch 2022 World Report. All diese Dokumente belegen die weitverbreiteten und systematischen Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua, ohne ihnen den völkerstrafrechtlichen Namen zu geben, den sie verdienen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere durch „Verfolgung“ („persecution“), also den „völkerrechtswidrigen, vorsätzlichen und schwer wiegenden Entzug von Grundrechten wegen der Identität einer Gruppe oder Gemeinschaft“ (Artikel 7(2)(g) IStGH-Statut), hier der nicaraguanischen Bürger, denen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, die deportiert, exiliert und darüber hinaus in ihren Rechten verletzt wurden und teilweise noch werden.

Es bleibt nun abzuwarten, was die Expertengruppe in ihrem Bericht zur kommenden 52. Sitzung des Menschenrechtsrats (27.2.-31.3.2023) aus all dem macht. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass Nicaragua kein Vertragsstaat des Römischen Statuts ist und sich eines russischen Vetos bezüglich einer möglichen Überweisung der „Nicaragua-Situation“ an den IStGH durch den UN-Sicherheitsrats versichert hat, indem sich die Regierung beharrlich geweigert hat, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bei den entsprechenden Abstimmungen der UN-Generalversammlung zu verurteilen.5) Gleichwohl sollte man die Hoffnung nicht aufgeben, dass die nicaraguanischen Völkerrechtsverletzungen auch völkerstrafrechtliche Konsequenzen haben werden und sei es nur im Wege dezentraler Strafverfolgung. Deutschland könnte hier mit seiner gerade gestärkten Völkerstrafrechtsabteilung beim Generalbundesanwalt vorangehen und damit der Welt zeigen, dass es auch jenseits der Ukraine schwere völkerrechtliche Verbrechen gibt.

Eine englische Fassung dieses Beitrags wird auf EJIL:Talk! veröffentlicht.

References

References
1 Für den surrealen Auftritt des Vorsitzenden Richters Ernesto Rodríguez Mejía siehe ein 7-minütiges Video hier; zur offiziellen Website der Justiz siehe hier.
2 Siehe hier, hier und Res. 49/3 des UN-Menschenrechtsrats vom 31. März 2022 zur Einsetzung einer Expertengruppe, Group of Human Rights Experts on Nicaragua.
3 Siehe hier und das betreffende Decreto de Aprobación hier.
4 Siehe Decreto 588 vom 2.9.1976 der Pinochet-Diktatur.
5 Bezüglich der Verurteilung der russischen „Annexionen“ in der Ostukraine durch Resolution ES-11/4 vom 12. Oktober 2022 hat Nicaragua sogar dagegen gestimmt, siehe hier.

SUGGESTED CITATION  Ambos, Kai: Ausbürgerung als verschärfte Form politischer Verfolgung, VerfBlog, 2023/2/22, https://verfassungsblog.de/ausburgerung-als-verscharfte-form-politischer-verfolgung/, DOI: 10.17176/20230222-151759-0.

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