10 September 2025

Starker Präsident, verschlissene Minister

Bayrous Scheitern und Macrons Vermächtnis

Am 8. September 2025 verlor Premierminister François Bayrou im französischen Parlament die von ihm selbst angestrengte Vertrauensfrage – als erster Regierungschef der V. Republik überhaupt. 364 Abgeordnete stimmten gegen Bayrou, nur 194 für ihn, womit er die klare Absage erhielt, auf die er es angelegt hatte. Diese auch von Beobachtern erwartete Niederlage zwingt die Regierung verfassungsgemäß sofort zum Rücktritt nach Art. 49 Abs. 1 und Art. 50 der französischen Verfassung. Bereits im Dezember 2024 war mit Michel Barnier erstmals seit 1962 ein Premier durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden – Bayrous Fall ist also die zweite historische Premiere in kurzer Zeit unter Macrons Präsidentschaft. Das Scheitern Bayrous ist mehr als eine Episode tagespolitischer Instabilität – es legt fundamentale Probleme im Verfassungssystem offen. Die V. Republik wurde geschaffen, um die gouvernementalen Krisen der IV. Republik zu überwinden, doch nun steht sie vor einer ähnlichen Instabilität.

Vertrauensfrage

Art. 49 Abs. 1 der französischen Verfassung erlaubt es dem Premierminister, nach Kabinettsbeschluss die Vertrauensfrage vor der Assemblée nationale zu stellen. Anders als ein Misstrauensvotum der Opposition (Art. 49 Abs. 2), das der absoluten Mehrheit aller Abgeordneten bedarf (289 Stimmen), entscheidet bei der vom Premier selbst initiierten Vertrauensfrage nur die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Daher mindern Enthaltungen das Quorum und erleichtern das Zustandekommen einer Mehrheit gegen die Regierung. Traditionell nutzten in Frankreich Premierminister mit komfortabler Mehrheit die Vertrauensfrage freiwillig als Ritual zur Legitimation ihrer Regierungsagenda.

Insgesamt wurde die Vertrauensfrage seit 1958 41-mal gestellt, stets mit positivem Ausgang für die Regierung. Selbst Jacques Chirac konnte sich in der Cohabitation der 1980er-Jahre knapp die Mehrheit sichern (292:285 Stimmen). Demgegenüber vermieden Premiers ohne eigene absolute Mehrheit dieses Wagnis – weder Édith Cresson 1991 noch Élisabeth Borne 2022 stellten die Vertrauensfrage zu Amtsbeginn. Bayrou selbst, der im Dezember 2024 ins Amt kam, hatte bis dato stattdessen vor allem auf Art. 49 Abs. 3 (Vertrauensstellung bei Gesetzen) zurückgegriffen, um seine Gesetzesvorhaben gegen die Parlamentsmehrheit durchzusetzen.

Das beispiellose Scheitern

Bayrou überraschte Ende August 2025 Freund und Feind mit der Ankündigung, vor den Budgetberatungen die Vertrauensfrage zu stellen. Als Begründung führte er die dramatische Haushaltslage Frankreichs an – ein „coup de théâtre“, mit dem er alle Parteien zur Verantwortung rief. Bayrou appellierte an den Gemeinsinn der Abgeordneten: Angesichts drohender finanzieller Abgründe sollten alle ihre Differenzen zurückstellen und seinem Sanierungsplan zustimmen.

Beobachter werteten Bayrous Vorstoß als politisches Vabanquespiel: Er setzte seine Regierung bewusst dem Wagnis der Vertrauensfrage aus, um entweder ein Mandat für harte Einschnitte zu erzwingen oder als standhafter Krisenmanager abzutreten. Tatsächlich reagierten sämtliche Oppositionsparteien sofort mit Ablehnung. Von der Parti socialiste (PS) bis zum rechtsextremen Rassemblement National (RN) verwarfen alle die Bitte um diesen haushalterischen „Blankoscheck“. Damit stand Bayrous Scheitern praktisch schon fest („une chute annoncée“).

Es folgte ein fieberhaftes Taktieren: Die Regierung versuchte, einzelne Abgeordnete umzustimmen, und malte die Folgen einer Ablehnung in dramatischen Farben (etwa Massenproteste am 10. September, ein erneutes Aufflammen von Gelbwestenprotesten). Doch die Opposition witterte Morgenluft. Bayrous eindringlicher Appell an den Realitätssinn der Abgeordneten – „Man könne die Realität nicht wegleugnen“, warnte er nachdrücklich – fand nur unversöhnliche Repliken der Gegenseite.

Schließlich kam es, wie erwartet: Am 8. September stürzte die Regierung Bayrou. Dieser Regierungssturz per Vertrauensfrage ist ohne Beispiel in der Geschichte der V. Republik. Die Vertrauensfrage, bisher freiwilliges Machtinstrument zur Stärkung der Regierung, ist durch Bayrous Vorgehen möglicherweise zur politischen Drohkulisse geworden: Künftig könnten Opposition und Medien jeden schwachen Premier drängen, sie zu stellen.

Das Bayrou-Debakel

Die V. Republik wurde 1958 geschaffen, um stabile Mehrheiten (Art. 49 Abs. 2) und handlungsfähige Regierungen (Art. 49 Abs. 3) zu sichern – als Reaktion auf die chronische Instabilität der Kabinette der IV. Republik. Zentral dafür ist die starke Stellung des Präsidenten (Art. 5, 8, 12) und die erschwerte Absetzbarkeit der Regierung (Art. 49 Abs. 2).

Jetzt aber erlebt die französische Politik eine Erosion dieser Stabilität. Seit den Wahlen 2022 regiert Macron ohne absolute Parlamentsmehrheit; klassische Machtblöcke haben sich aufgelöst. Die Folge: Ein permanenter Minderheitsbetrieb, in dem Regierungen Gesetze nur mithilfe außergewöhnlicher Verfassungsgriffe – etwa nach Art. 49 Abs. 3 – verabschieden. Bereits am 4. Dezember 2024 hat die Assemblée nationale eine „motion de censure“ gegen das Kabinett von Michel Barnier mit 331 Stimmen angenommen. An Bayrous Debakel offenbaren sich nunmehr zwei gegenläufige Prinzipien:

Einerseits hält die Verfassung den Staatspräsidenten weiter unangreifbar – er ist politisch nicht für Parlamentsmehrheiten verantwortlich und kann durch ein Parlamentsvotum nicht zum Rücktritt gezwungen werden. Andererseits ist die Regierung de facto zum Verbrauchsmaterial geworden: Bereits Bayrous Vorgänger (Borne, Barnier, Attal) mussten innerhalb kurzer Zeit gehen, ohne dass dies die Präsidentschaft berührt hätte. Unter Macron gab es sieben Premierminister.

Jean-Pierre Camby spricht hier von einem sich zuspitzenden Widerspruch zwischen der heutigen Verfassungsrealität – einem Präsidenten, der „über alles entscheidet“, aber „für nichts verantwortlich“ gemacht werden kann. Das Konzept eines präsidentiellen „Schiedsrichters“ – nach De Gaull’schem Leitbild – passt nicht mehr zur Wirklichkeit, in der der Élysée durch schwache Premierminister zum faktischen politischen Zentrum geworden ist. Daher drehten sich die Debatten vor der Vertrauensfrage in der Mehrheit um Macron selbst.

Bayrous Scheitern verdeutlicht diesen Verfassungswiderspruch in neuer Schärfe. Seine Vertrauensfrage war de jure völlig legal und vom Verfassungssystem gedeckt – de facto hat sie jedoch einen politischen Stillstand weiter eskalieren lassen, während der Hauptakteur Macron im Amt bleibt. Damit stellt sich die Frage: Ist das verfassungspolitisch tragbar? War es ein Fehler in der Konstruktion der V. Republik, dass ein Präsident seine fünf Jahre ohne parlamentarische Mehrheit aussitzen kann, während Premiers reihenweise verschleißen? Oder ist gerade diese Stabilität an der Spitze notwendig, um Turbulenzen zu überstehen?

An der Spitze der Regierungskrise

Man könnte verlangen, die Verantwortlichkeit des Präsidenten zu erhöhen – etwa durch eine Verfassungsänderung, die seine politische Unantastbarkeit abmildert, so utopisch dies derzeit erscheint. Eine andere Überlegung wäre, die Lösung in einer Rückkehr zu klaren Mehrheiten zu suchen: (a) etwa durch eine Änderung des Wahlrechts (Stichwort Verhältnis- vs. Mehrheitswahl) oder (b) durch eine Pflicht zur formellen Investitur jeder neuen Regierung durch das Parlament – wie in Art. 63 Abs. 1 GG –, um dadurch von Beginn an Koalitionen zu erzwingen. Solche Maßnahmen könnten die gegenwärtige Legitimationslücke schließen, würden aber das Machtgefüge grundlegend verschieben.

Eine Gegenposition lautet, dass die Verfassung im Grunde funktioniert – eine unhaltbare Regierung wurde gestürzt, ohne dass gleich die ganze Exekutive handlungsunfähig wäre. Schließlich kann Macron durch Neuwahlen oder Regierungsumbildung (was er direkt mit dem Verteidigungsminister Lecornu tat) für Stabilität sorgen – und Bayrou blieb zumindest kurz geschäftsführend im Amt. Zudem war Bayrous Vorgehen nicht durch die Verfassung erzwungen, sondern politisches Kalkül. Hätte er – wie Premierminister vor ihm – auf die Vertrauensfrage verzichtet, wäre seine Regierung vorerst im Amt geblieben, wenn auch in Teilen gelähmt. Aktuell wurde mit dem Budget vom letzten Jahr regiert. Insofern argumentiert diese Sicht, die Krise sei politisch verursacht, nicht durch die Verfassung.

Dennoch bleibt festzuhalten: Die Häufung erstmals eingetretener Vorgänge in kurzer Zeit (Misstrauensvotum gegen Barnier 2024, nun Bayrous Vertrauensfrage) deutet auf strukturellen Reformbedarf hin. Damien Connil schreibt, die Ereignisse beträfen nichts weniger als „la démocratie représentative“ und stellten den Modus operandi einer Minderheitsregierung wieder einmal zur Disposition. Ohne Anpassung – sei es durch politisches Umdenken in Form von Koalitionen oder verfassungsrechtliche Reform – steuert die V. Republik auf weitere Turbulenzen zu. Sogar Interventionen der EZB und des IWF stehen zur Debatte – denn Frankreichs Staatsverschuldung liegt bei über 113 % des BIP – fast doppelt so hoch wie das europäische Limit (Art. 126 AEUV) und deutlich über dem Euro-Durchschnitt (≈ 88 %), womit Haushalt und Finanzstabilität reformbedürftig werden.

Politische Konsequenzen

Wie geht es nun weiter? Nach Bayrous Sturz ist Staatspräsident Emmanuel Macron am Zug. Verfassungsrechtlich hat er zwei Hauptoptionen – wobei er die erste Option mit Lecornu zunächst versucht: (i) neue Regierungsbildung innerhalb des bestehenden Parlaments (Art. 8 Abs. 1 der französischen Verfassung) oder (ii) Auflösung der Assemblée gemäß Art. 12 der Verfassung und Ansetzung von Neuwahlen. Aber beide Wege blieben weiter offen und sind riskant. Dies zeigt sich in drei Folgeüberlegungen:

Erstens hat Macron zwar nun sofort einen neuen Premierminister aus der Mitte ernannt. Doch auch der neue Premier aus dem Lager des Präsidenten verfügt zunächst weder über ein Kabinett noch über eine Mehrheit. Nach dem nun offenen Bruch mit den Sozialisten (deren Duldung Bayrou bis dato half) bliebe einer Mitte-rechts-Regierung nur noch die stillschweigende Tolerierung durch die Rechtsextremisten. Das jedoch wäre nicht nur politisch hochbrisant, sondern auch instabil – ein ähnliches Experiment unter Premier Barnier endete 2024 bereits nach drei Monaten im Fiasko.

Zweitens könnte Macron als nächstes doch einen Oppositionspolitiker zum Premier machen, etwa aus den Reihen der moderaten Linken. Tatsächlich hat PS-Chef Olivier Faure öffentlich angeboten, als Premier einer linken Koalition zu dienen. Doch das wäre kaum tragfähig: Die bürgerliche Rechte (Les Républicains) hat klargemacht, dass sie eine Linksregierung nicht unterstützen würde, und selbst Macrons Bündnis (Ensemble) würde sich kaum geschlossen hinter einen sozialistischen Premier stellen – zumal die Linke mit ihren Forderungen nach einer Vermögenssteuer einen Kompromiss für den Haushalt unmöglich machten. Damit bliebe ein solches Kabinett in der Minderheit und wohl auch nur kurzlebig.

Drittens wären Neuwahlen ein letzter Ausweg – soweit Lecornu kein Kabinett oder keine Mehrheit erreicht; dies richtet sich nach Art. 12 Abs. 1 und 2 der französischen Verfassung. Gemäß Art. 12 Abs. 4 wäre Macron seit Juli 2025 wieder verfassungsrechtlich berechtigt, das Parlament aufzulösen – ein Jahr nach der letzten Auflösung vom Juni 2024. Viele Stimmen – nicht nur Marine Le Pen, die pathetisch sagt, eine Auflösung sei „keine Option, sondern eine Verpflichtung“ – halten Neuwahlen für unvermeidlich, um den Blockadezustand zu lösen. Doch damit begibt sich Frankreich auf unsicheres Terrain. Aktuelle Umfragen sehen das RN bei rund 32 % der Stimmen und damit aktuell als stärkste Kraft.

Neuwahlen würden so ein ganz neues Dilemma präsentieren: Zum einen könnte nur ein neues Parlament klare Mehrheitsverhältnisse schaffen; andererseits droht eine weitere, historische Machtverschiebung. Ein Sieg des RN – möglicherweise erstmals mit eigener Regierungsmehrheit – würde Frankreichs europapolitische Ausrichtung fundamental ändern. Selbst wenn wie 2024 alle anderen Parteien nochmals eine Front républicain bilden, um die extreme Rechte in den Stichwahlen zu blockieren, scheint ein ähnliches Ergebnis wie zuletzt wahrscheinlich: ein dreigeteiltes Parlament ohne klare Koalitionsoption (Links, Mitte, Rechts – drei annähernd gleich starke Lager verhindern stabile Mehrheitsbildung). Allerdings hat die Anti-RN-Front an Schlagkraft verloren – über 50 % der Franzosen lehnen solche Wahlpakte inzwischen ab.

Ironischerweise könnte die verfassungsgemäß vorgesehene Lösung für Regierungsunstabilität – die Parlamentsauflösung zur Herbeiführung klarer Verhältnisse – aus Sicht Macrons weiter das größte Risiko darstellen, nämlich eine Regierung Le Pen oder Bardella. Denn rein verfassungsrechtlich besagt eine Ansicht, dass Le Pen trotz ihrer fünfjährigen Unwählbarkeit Premierministerin werden kann – da das Amt nach Art. 8 der französischen Verfassung durch Ernennung übertragen und nicht gewählt wird. Trotz dieses Risikos scheint dies der Weg zu sein, den die Verfassungsväter eigentlich intendierten. Im Konfliktfall soll der Souverän entscheiden. Macron hat bereits 2024 versucht, durch Neuwahlen die Pattsituation zu überwinden; das Ergebnis war jedoch die heutige Fragmentierung: Die neu formierte linke Volksbewegung (Nouveau Front Populaire) wurde stärkste Kraft, gefolgt von Macrons Lager sowie dem Rassemblement National.

Ausblick

Die erste verlorene Vertrauensfrage der V. Republik markiert eine Zäsur. Sie offenbart, dass die Balance von Regierungsstabilität und parlamentarischer Kontrolle in Frankreich aus den Fugen geraten ist – trotz schneller Benennung eines neuen Premierministers aus Macrons Lager. Möglich, dass künftige Historiker in Bayrous Scheitern den Anfang vom Ende des bisherigen semi-präsidentiellen Systems sehen.

Frankreich hat dennoch ein robustes Verfassungssystem: Einerseits müsse die Politik nun Lehren ziehen (Koalitionskultur, institutionelle Reformdebatten über Verantwortlichkeit, Sperrklausel und Proportionalität). Andererseits bleibt die Handlungsfähigkeit des Staates gewahrt – Präsident Macron ist weiter im Amt und verfügt weiterhin über die nötigen Werkzeuge (abermaliger Regierungswechsel oder sogar Neuwahl), um die Krise zu meistern. Sei es durch einen erneuten Urnengang oder neuartige Koalitionen – Frankreich muss dennoch einen Weg aus dem Déjà-vu der Instabilität finden. Gelingt dies nicht, könnte die Blockade der V. Republik ihr letztes Kapitel einleiten.


SUGGESTED CITATION  Wegner, Arne P.: Starker Präsident, verschlissene Minister: Bayrous Scheitern und Macrons Vermächtnis , VerfBlog, 2025/9/10, https://verfassungsblog.de/bayrou-vertrauensfrage/, DOI: 10.59704/bf679758b8918f58.

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