Die gerichtliche (Un)antastbarkeit des Politischen
Das „BDS“ Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Lichte des verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen schlichte Parlamentsbeschlüsse
Am 26. März 2025 entschied das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), dass Verwaltungsgerichte nicht zuständig seien, über die Rechtmäßigkeit von schlichten Parlamentsbeschlüssen zu entscheiden. Dem Urteil vorangegangen war eine Klage von mehreren Unterstützenden der sog. „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung (BDS-Bewegung), die sich gegen einen im Jahre 2019 gefassten Bundestagsbeschluss richtete (BT-Drs. 19/10191). Auf Initiative mehrerer Fraktionen hatte das Parlament in einer Resolution mehrheitlich beschlossen, dass die „Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung antisemitisch“ seien; der Aufruf zum Boykott erinnere „an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte“. Rechtsschutz gegen diesen Bundestagsbeschluss, so das BVerwG, sei für die Kläger*innen jedoch nur über die Verfassungsgerichtsbarkeit zu erlangen. Zwar ist dem Urteil im Ergebnis zuzustimmen, damit sind aber nicht sämtliche Fragen geklärt, die sich im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz gegen Parlamentsbeschlüsse stellen. Um den Verfassungsrechtsweg beschreiten zu können, sind in prozessualer Hinsicht hohe Hürden zu beachten; die dadurch entstehenden Rechtsschutzlücken spiegeln sich indes in den Wertungen des Grundgesetzes wider.
Der sog. schlichte Parlamentsbeschluss
Bevor die relevanten Zuständigkeits- und Zulässigkeitsfragen geklärt werden, kann noch gefragt werden, was genau ein schlichter Parlamentsbeschluss überhaupt ist: Ein Blick in das Grundgesetz hilft hier nicht weiter: Eine ausdrückliche Kompetenz für einen „schlichten Parlamentsbeschluss“, wie sie Art. 77 GG für die Gesetzgebung normiert, findet sich im Grundgesetz an keiner Stelle. Doch der Anschein trügt. Bereits dort, wo das Grundgesetz den Bundestag zum Erlass einer Entscheidung beruft, die nicht im Gesetzgebungsverfahren ergeht und sich ebenfalls nicht allein auf die interna corporis des Parlaments erstreckt, ermächtigt es zum Erlass eines schlichten Parlamentsbeschlusses (Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 739). Dies tritt etwa dann zum Vorschein, wenn der Bundestag im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 67 GG) über die Nachfolge eines Bundeskanzlers beschließt oder auf die Vertrauensfrage (Art. 68 GG) des Kanzlers antwortet. Auch das einfache Recht oder die Geschäftsordnung des Bundestags kann aber als Grundlage für einen Parlamentsbeschluss herangezogen werden. Nun liegt die Besonderheit des BDS-Beschlusses gerade darin, dass die parlamentarische Mehrheit diesen nicht aufgrund einer (verfassungs)rechtlichen Grundlage getroffen hat. Dieser bedurfte es allerdings auch nicht: Dem Bundestag kommt als Organ der Staatsleitung, gewiss sogar als demokratisch unmittelbar legitimiertes „besonderes Organ“ i. S. d. Art. 20 II 2 GG, nämlich vielmehr eine Selbstbefassungskompetenz zu (Groh, Art. 42 Rn. 35). Damit das Parlament seiner Rolle als „Epizentrum“ des demokratischen Meinungsbildungsprozesses nachkommen kann, muss es in der Lage sein, sich beliebigen politischen Fragen anzunehmen und hierzu durch Beschluss einen parlamentsmehrheitlich gebildeten Staatswillen kundzutun (Groh, Art. 42 Rn. 35). Die BDS-Resolution ist Ausdruck der Wahrnehmung dieser spezifischen Artikulationsrolle des Bundestags.
Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz möglich?
Nun sagt all dies noch überhaupt nichts darüber aus, wie im konkreten Einzelfall gegen einen solchen Parlamentsbeschluss gerichtlich vorgegangen werden kann. In Betracht käme zunächst – dies entsprach auch dem Vorgehen der Unterstützenden der BDS-Bewegung – das Ersuchen um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz. Kardinalnorm bei der Frage nach der Zulässigkeit einer solchen Klage ist dabei § 40 I 1 VwGO, wonach der Verwaltungsrechtsweg grundsätzlich in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet ist. Doch wann ist eine Streitigkeit ihrer Art nach verfassungsrechtlich? Zu dieser Frage hat das verwaltungsrechtliche Schrifttum keine abschließende Antwort gefunden – obwohl die Vorschrift seit mehr als sechs Jahrzehnten existiert. Auch in der Praxis herrscht Unsicherheit. Um die verfassungsrechtliche Natur einer Streitigkeit zu bejahen, wird in Literatur und Rechtsprechung im Sinne einer sog. „doppelten Verfassungsunmittelbarkeit“ ein formelles und ein materielles Kriterium verlangt. Voraussetzung sei, dass unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte über die sich aus der Verfassung ergebenden Rechte und Pflichten streiten (Hufen, § 11 Rn. 49). Diesen Maßstab legte auch das erstinstanzliche Verwaltungsgericht zugrunde, als es im hiesigen BDS-Fall annahm, dass es sich nicht um eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Natur handele und der Verwaltungsrechtsweg damit eröffnet sei. Die Begründung dieses Ergebnisses ist folgerichtig: Die Unterstützer der BDS-Bewegung sind keine unmittelbaren Subjekte des Verfassungslebens; schon das formelle Kriterium ist nicht erfüllt.
Das BVerwG hat diesem Verständnis in seinem BDS-Urteil aber nunmehr eine ausdrückliche Absage erteilt (Rn. 19, 23). Das formelle Kriterium sei nicht relevant; ausschlaggebend sei vielmehr der materielle Gehalt einer Streitigkeit. Das streitige Rechtsverhältnis sei danach schon dann verfassungsrechtlicher Art, wenn es entscheidend vom Verfassungsrecht geprägt werde (Rn. 20). Überzeugend arbeitet das Gericht dabei heraus, dass weder Wortlaut noch Systematik zwingend ein „formelles Kriterium“ erforderten, der Telos der Norm aber einen umfassenden Ausschluss verfassungsrechtlicher Streitigkeiten von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte verlange (Rn. 21f.). Denn in der Ordnung des Grundgesetzes sind die obersten Bundesorgane dazu berufen und ermächtigt, ihren verfassungsspezifischen Zuständigkeiten und Aufgaben eigenständig – lediglich gehemmt und gemäßigt primär durch die anderen Zweige der Staatsgewalt – nachzukommen. Wo es innerhalb dieses staatsorganisationsrechtlichen Gefüges zu rechtlichen Streitigkeiten kommt, ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner enumerativen Zuständigkeiten (Art. 94 Abs. 1 – 3 GG) als selbständiger Gerichtshof des Bundes zur Entscheidung berufen. Diese grundgesetzliche Entscheidung für die Verfassungsgerichtsbarkeit kommt gleichzeitig mit einer rechtsschutzerweiternden und einer rechtsschutzbegrenzenden Konsequenz daher: Einerseits wird die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Agierens von Staatsorganen zugelassen, andererseits, dies zeigt auch das Zusammenspiel mit § 40 I 1 VwGO, der fachgerichtliche Rechtsschutz in diesen Fällen versagt. Ein Selbstzweck ist das nicht. Indem eine singuläre Instanz Verfassungsstreitigkeiten entscheidet, wird abschließend Rechtssicherheit geschaffen. Andernfalls könnte der Handlungsspielraum der obersten Bundesorgane aus möglicherweise divergierenden Entscheidungen einzelner Verwaltungsgerichte beschränkt werden. So verstanden kann es im Rahmen des § 40 I 1 VwGO dann aber nicht notwendigerweise auf ein formelles Kriterium ankommen, denn es richten nicht die Subjekte einer Streitigkeit, sondern ihr Gegenstand darüber, ob der spezifische Funktionsbereich der inneren Staatsorganisation – das staatsorganisationsrechtliche Können, Dürfen, Müssen eines Verfassungsrechtssubjekts (Rn. 25) – betroffen ist.
Auf Grundlage dieses Maßstabs, so führt das BVerwG richtigerweise aus, sind Streitigkeiten über schlichte Parlamentsbeschlüsse durchweg verfassungsrechtliche Qualität zuzusprechen; denn ob der Bundestag im Einzelfall Resolutionen, wie hier den BDS-Beschluss, rechtmäßig verabschiedet hat, betrifft gerade sein verfassungsrechtliches Können bzw. Dürfen (Rn. 27).
Der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht
Für den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz kommt für Einzelpersonen insbesondere die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 94 I Nr. 4a GG in Betracht. Damit die Betroffenen beschwerdebefugt sind, müssten sie zunächst darlegen, dass eine Verletzung ihrer Grundrechte möglich erscheint. Im BDS-Fall lassen sich hierfür insbesondere die Meinungs- und ggfs. Versammlungsfreiheit anführen; denkbar wäre zudem eine mögliche Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.
Die entscheidende Hürde für die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden in diesen Fällen ergibt sich jedoch aus den weiteren Anforderungen, die das BVerfG an die Beschwerdebefugnis stellt. Insbesondere verlangt es in ständiger Rechtsprechung, dass Beschwerdeführer*innen durch den gerügten Akt öffentlicher Gewalt selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sind. Besonders problematisch erscheint dabei die letztgenannte Voraussetzung. Unmittelbar betroffen ist der Beschwerdeführer nur, wenn der Beschwerdegegenstand selbst auf seine Rechtspositionen einwirkt. Umgekehrt ist die Betroffenheit nicht unmittelbar, wenn sie erst durch einen weiteren Akt bewirkt bzw. von dem Ergehen eines weiteren Aktes abhängig ist (siehe bereits BVerfGE 1, 97, 102f.). Doch kann ein schlichter Parlamentsbeschluss als Akt parlamentarischer Meinungskundgabe in diesem Sinne unmittelbar wirken? Die BDS-Resolution veranschaulicht die Problematik: Unter anderem „verurteilt“ der Beschluss die BDS-Kampagne (Nr. 1), spricht sich gegen die Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten der Bundestagsverwaltung für sich antisemitisch äußernde Organisationen aus (Nr. 2) und schließt die Gewährung finanzieller Förderungen für derartige Organisationen aus (Nr. 4 u. 5). All dies kommt für Unterstützer*innen der Kampagne aber nicht mit verbindlichen Rechtsfolgen daher; ihnen werden weder konkrete Fördermittel entzogen oder nicht gewährt, noch im Einzelfall der Zugang zu etwaigen Räumlichkeiten oder Einrichtungen verwehrt. Dieser Befund verwundert nicht. Handelt es sich bei schlichten Parlamentsbeschlüssen der hier einschlägigen Art lediglich um politische Willens- und Meinungskundgaben der Parlamentsmehrheit, dann können diese im Ausgangspunkt aus sich heraus noch keine rechtlichen Folgen mit sich bringen, sondern allenfalls die Grundlage für weiteres Handeln, für einen weiteren „Akt“, schaffen. Die Situation wäre eine andere, wenn bereits der parlamentarischen Artikulationsakt eine konkrete Maßnahme beinhaltet, etwa wenn der Bundestag der BDS-Bewegung eine bestimmte parlamentarisch zu gewährende Förderung entzöge. Andernfalls muss die Annahme einer unmittelbaren Betroffenheit aber grundsätzlich ausscheiden.
Diesen Erwägungen könnte mit dem Argument entgegengetreten werden, dass auch eine parlamentarisch getroffene Äußerung als solche aus sich heraus unmittelbar auf Rechtspositionen Dritter einwirken könne. Unterstützend ließe sich auf die Fälle ministerieller Warnungen (etwa BVerfGE 105, 279 – „Osho“) beziehungsweise die Rechtsprechung zur sonstigen Öffentlichkeitsarbeit von Amtsträger*innen (etwa BVerwGE 159, 327 – „Lichter aus“) verweisen. In derartigen Konstellationen bejahen Gerichte den (grund)rechtsbeeinträchtigenden Charakter kundgetaner Äußerungen von Träger*innen hoheitlicher Gewalt. Dennoch hinkt der Vergleich. Anders als in Fällen hoheitlicher Informationstätigkeit nimmt der Bundestag, wenn er zu einer Frage von allgemeiner Bedeutung durch mehrheitlich gefassten Beschluss Stellung nimmt, eine ihm genuin durch die Verfassung zukommende Kompetenz wahr. Im Vordergrund steht, anders als in Fällen der öffentlichen Äußerungen durch Amtsträger*innen, die Teilnahme am politischen Meinungsbildungsprozess. So sehr die rechtsbeeinträchtigende Qualität von exekutivem informationshandeln mit der Erwägung gerechtfertigt wird, vom Verhalten der Staatsorgane gingen Wirkung auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes aus (BVerfG, NVwZ 2022, 1113, 1114 Rn. 73 – „Äußerungsbefugnisse von Angela Merkel“), so wenig kann dieser Gedanke auf schlichte parlamentarische Meinungsbekundungen übertragen werden. Das Parlament ist in diesem Meinungsbildungsprozess nämlich kein Außenstehender, sondern als unmittelbar gewählte Volksvertretung selbst Teil des gesellschaftlichen Diskurses (Di Fabio, S. 610). Hält der Bundestag seinen (mehrheitlich gefassten) Standpunkt in einem schlicht meinungskundgebenden Beschluss fest, so will er nicht informieren, sondern mit einem eigenen Beitrag in der demokratischen Diskursarena auftreten. Selbstverständlich soll durch diese Schlussfolgerung nicht in Abrede gestellt werden, dass grundsätzlich auch Meinungsäußerungen ohne informationsbezogenen Charakter auf grundrechtliche Rechtspositionen anderer einwirken können (Suslin/Brockmann, NVwZ 2024, 882ff.). Dafür ist allerdings zumindest zu verlangen, dass sie aus sich heraus „nachteilige Effekte“ für den Betroffenen mit sich bringen (vgl. dazu HessVGH, Bschl. V. 11.7.2017 – 8 B 1144/17). Allgemeinpolitische Meinungsäußerungen der parlamentarischen Mehrheit ohne konkreten Individualbezug sind in diesem Sinne aber regelmäßig nicht geeignet, sich spürbar auf die Rechte Dritter auszuwirken (vgl. Kment, Art. 93 Rn. 32).
Eine verfassungsrechtlich vorgezeichnete Rechtsschutzlücke
Am Ende also kein Rechtsschutz gegen schlichte Parlamentsbeschlüsse? Das hier gefundene Ergebnis mag unbefriedigend wirken. Doch wie bereits festgestellt können auch schlichte Parlamentsbeschlüsse durchaus mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, vorausgesetzt wird aber stets ihre unmittelbar rechtsbeeinträchtigende, über die allgemeine Kundgabe einer Meinung hinausgehende Wirkung. Dass diese vielfach nicht gegeben sein wird, ist keine Anomalie, sondern liegt in der Natur des behandelten Gegenstands. Wo das Parlament seinen Willen bekunden möchte, muss es dies im Ausgangspunkt autonom tun können. Eine „Rechtskontrolle“ parlamentarisch geäußerter Meinungen ist der Verfassungsordnung fremd. Dies folgt nicht zuletzt aus der Wertung des in Art. 46 I GG verankerten Indemnitätsgrundsatzes: Darf der einzelne Abgeordnete – abseits der Fälle verleumderischer Beleidigungen – wegen einer im Bundestag getätigten Äußerung, ungeachtet der Form, in der sie ergeht (Klein, § 17 Rn. 27), nicht gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden, so muss diese grundgesetzliche Entscheidung auch auf parlamentsmehrheitlich gefasste kollektive Äußerungen mehrerer Abgeordneter übertragen werden. Will der Indemnitätsschutz Abgeordnete vor jeder außerparlamentarischen staatlichen Sanktion schützen, um „dem Forum des Parlaments eine Diskussion frei von Rücksichten auf Dritte zu ermöglichen“ (BGHZ 75, 384, 387), dann würde dieser Zweck unterlaufen, wenn Abgeordneten die durch die Indemnität zugesprochene Freiheit nur individuell, nicht aber gemeinsam zugesprochen würde. Wenn Parlamentarier die gerichtliche Kontrolle solcher gemeinsam geäußerten Meinungsäußerungen befürchten müssen, dann handeln sie wohl möglich nicht frei nach ihrem Gewissen und wären in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben beeinträchtigt. Haben schlichte Parlamentsbeschlüsse also allein meinungsbekundenden Charakter, so steht ihrer (verfassungs)gerichtlichen Überprüfung grundsätzlich auch der Rechtsgedanke des Art. 46 I GG entgegen (vgl. dazu im Ansatz auch Schmelter, 1977, S. 125f.).
Grund zur Resignation ist all dies für Betroffene nicht. Wer der parlamentsmehrheitlich gefassten Meinung ablehnend gegenübersteht, hat im Rahmen von Wahlen stets aufs Neue die Gelegenheit, über eine andere Zusammensetzung der Volksvertretung zu richten. Über die Richtigkeit von meinungsbekundenden Parlamentsbeschlüssen kann also doch entschieden werden, nur dass das Verdikt oftmals nicht im Gerichtssaal, sondern an der Wahlurne fällt.