Begnadigung von Gefolgsleuten – und keiner merkt’s
Gnadenentscheidungen in der Hand von autoritär-populistischen Ministerpräsidenten
Am 4. April ging es vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg um die Frage, ob das Bundespräsidialamt der Presse eine Liste der Gnadenentscheidungen von Frank-Walter Steinmeier und seiner Vorgänger aus den Jahren 2004 bis 2021 zur Verfügung stellen muss. Die Antwort des Gerichts ist: Nein. Der Vorsitzende Richter bemerkte zwar gleich zu Beginn der Verhandlung, dass er sich sehr freue, sich mit so spannenden Rechtsfragen beschäftigen zu dürfen, mit denen man sonst nie zu tun habe. Entscheiden wollte das Gericht zu diesen spannenden Rechtsfragen dann allerdings erstaunlich wenig, insbesondere die durchaus relevante Rechtsprechung des EGMR zu vergleichbaren Fällen ließen die Richter*innen weitgehend außen vor. Letztlich blieb es bei den Erwägungen, auf die auch das VG Berlin sein Urteil in erster Instanz bereits gestützt hatte: Das Gnadenrecht schwebe über dem Recht und sei auch dem presserechtlichen Auskunftsanspruch aus Art. 5 GG entzogen.
Ob dem Gericht das Missbrauchspotenzial des Gnadenrechts vor Augen stand? Schon bald könnten in Thüringen oder Sachsen Ministerpräsidenten oder Justizminister der als gesichert rechtsextremistisch eingeschätzten AfD-Landesverbände rechtsextreme Straftäter oder Gefolgsleute begnadigen. Das Recht dazu hätten sie, gerichtlich überprüfbar wären diese Entscheidungen nicht und wir würden davon unter Umständen nicht einmal erfahren. Bevor dieses Recht in die Hände von Rechtspopulisten fällt, müssen wir über eine grundlegende Reform nachdenken!
„Gnade vor Recht“ – ein beliebtes Instrument bei Autoritären
Von dem Recht, verurteilte Straftäter kurzerhand zu begnadigen, insbesondere aus eigenem Interesse, machen rechtspopulistische Staatsoberhäupter gerne Gebrauch. So begnadigte Trump kurz vor dem Ende seiner Amtszeit noch viele seiner Unterstützer und Geldgeber. Auch Putin schafft es mit seinen Gnadenentscheidungen immer wieder in die Schlagzeilen. Erst kürzlich berichteten einige unabhängige russische Medien über die Begnadigung eines wegen Mordes und Kannibalismus verurteilten Mannes, der im Gegenzug für die Freilassung gegen die Ukraine in den Krieg ziehen musste.
Die Empörung über diese dann als willkürlich, archaisch und zutiefst undemokratisch empfundene Praxis ist hierzulande oft groß. Denn dass auch der Bundespräsident bzw. Justizminister*innen und Ministerpräsidentinnen oder Justizminister der Länder das Recht haben, rechtsstaatlich verurteilte Straftäter zu begnadigen oder Disziplinarmaßnahmen gegen Beamte aufzuheben, ist wohl weitestgehend unbekannt. Nur in den seltenen Fällen, in denen die Bundespräsidenten selbst mit ihren Gnadenentscheidungen an die Öffentlichkeit gehen wie bei der Freilassung ehemaliger RAF-Mitglieder, wird kurz laut diskutiert.
Begnadigungen in Deutschland: Keine klaren Kriterien, keine Kontrolle
Das deutsche Recht kennt umfassende Möglichkeiten der Begnadigungen sowohl in Straf- als auch in Disziplinarsachen. Art. 60 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) bestimmt, dass auf Bundesebene der Bundespräsident das Gnadenrecht ausübt, das er nach Art. 60 Abs. 3 GG auch delegieren kann. Von dieser Delegationsmöglichkeit hat der Bundespräsident umfassend Gebrauch gemacht. Für Begnadigungen in Strafsachen ist in erster Linie das Justizministerium zuständig, für Disziplinarsachen die Bundesminister jeweils in ihrem eigenen Geschäftsbereich. In Strafsachen ist der Anwendungsbereich für Begnadigungen auf Bundesebene ohnehin sehr begrenzt. Umfasst sind nur wenige Straftaten, wie etwa die Bildung terroristischer Vereinigungen oder solche aus dem Bereich des Völkerstrafrechts (vgl. § 452 der Strafprozessordnung i.V.m. Artikel 96 Absatz 5 GG). Alles andere ist Ländersache. Die Landesverfassungen sehen vergleichbare Regelungen wie Art. 60 Abs. 2 GG vor. Zunächst sind also die Ministerpräsidenten zuständig, die ihre Befugnisse aber wiederum weitgehend delegiert haben.
Die Kriterien, auf die die zur Entscheidung befugten Personen ihre Entscheidung stützen, sind dabei nach bisheriger Rechtsprechung gerichtlich nicht überprüfbar. Das Bundesverfassungsgericht entschied in einer äußerst knappen 4 zu 4 Entscheidung im Jahr 1969, das Gnadenrecht unterliege als Eingriff in die Gewaltenteilung nicht dem Rechtsstaatsprinzip. Die Begnadigung ergehe in einem internen Verfahren, das keine justizförmigen Garantien kennt, so das Bundesverfassungsgericht in einem späteren Verfahren. Lediglich der Widerruf einer bereits erfolgten Begnadigung ist laut Bundesverfassungsgericht aufgrund des Vertrauensschutzes gerichtlich überprüfbar, denn der einem Verurteilten im Gnadenverfahren gewährte Freiheitsraum unterliege anders als die ursprüngliche Gnadenentscheidung nicht mehr der freien Verfügung der Exekutive.
In manchen Fällen mag man trotz der kritikwürdigen Intransparenz froh sein, dass es die Möglichkeit der Begnadigung gibt: Etwa die Gnadenerweise während der Corona-Pandemie, um das Infektionsrisiko in den Berliner Gefängnissen zu senken, oder die sogenannte Weihnachtsgnade, wonach Strafgefangene vor Weihnachten jeweils früher aus dem Gefängnis entlassen werden. Auch einem Fehlurteil kann nicht immer mit einem Wiederaufnahmeverfahren begegnet werden, so dass ein Gnadenerweis möglicherweise als einzige Korrekturmöglichkeit bleibt.
Alles kein Problem also? Davon ging jedenfalls der Vertreter des Bundespräsidialamtes in der mündlichen Verhandlung aus. Er schien der Auffassung zu sein, dass der Kläger der ganzen Thematik zu viel Bedeutung beimisst. Dieser Punkt war ihm sogar so wichtig, dass er – obwohl er das Bestehen eines Auskunftsanspruchs vehement bestritt – mitteilte, Bundespräsident Steinmeier sei in seiner gesamten ersten Amtszeit mit lediglich 15 Gnadenverfahren befasst gewesen. Zu diesem Befund passt, dass der thüringische Ministerpräsident laut Auskunft des Thüringer Ministeriums für Migration, Justiz und Verbraucherschutz im Bereich der Justiz seit 2004 nur in zwei Fällen sein Begnadigungsrecht ausgeübt hat. Allerdings gab es in der Vergangenheit durchaus innenpolitisch aufgewühlte Zeiten, wie etwa nach der Wende, in denen es eine Vielzahl von Gnadenverfahren gab. Auch dies konnten Besucher*innen in der mündlichen Verhandlung vergangene Woche lernen. Hinzukommt, dass die Zahl der Gnadenverfahren beim Bundes- oder einem Ministerpräsidenten natürlich nichts darüber aussagt, wie häufig die Behörden, an die das Recht delegiert wurde, begnadigen. Schließlich hängt die Frage, in welchem Umfang und aus welchen Erwägungen heraus vom Gnadenrecht Gebrauch gemacht wird, stets von den Personen ab, die dieses Recht ausüben.
Thüringen: Bald ein Rechtspopulist als oberster Gnadenherr?
In Thüringen hat der Ministerpräsident die ihm nach Art. 78 Abs. 2 der Thüringer Verfassung zustehende Befugnis zur Begnadigung weitgehend übertragen. Laut einer Anordnung von 1994 hat zum Beispiel der Justizminister das Gnadenrecht für Strafsachen inne und für Disziplinarmaßnahmen und Dienstordnungsmittel in beamtenrechtlichen Sachen die Ministerinnen für ihren jeweiligen Dienstbereich. Ausnahmen, in denen weiterhin der Ministerpräsident zuständig ist, sind im Bereich des Strafrechts aktuell etwa lebenslange Freiheitsstrafen (§ 2 der Anordnung).
Der für Justiz zuständige Minister hat die Befugnis zur Begnadigung in Strafsachen wiederum weiter übertragen an den Leitenden Oberstaatsanwalt bzw. Generalstaatsanwalt, die beispielsweise Freiheitsstrafen und Restfreiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren aussetzen können (Details sind in der Thüringer Gnadenordnung geregelt).
So sieht die Aufgabenverteilung derzeit aus. Was könnte also ein möglicher rechtsextremer Ministerpräsident mit seiner Zuständigkeit für Begnadigungen bewirken? Nach aktueller Rechtslage steht es ihm jedenfalls zu, lebenslange Haftstrafen mit einer Begnadigung zu beseitigen. Darüber hinaus könnte ein Ministerpräsident die aktuell geltende weitgehende Delegation der Gnadenbefugnis einfach wieder rückgängig machen und weitere Zuständigkeiten an sich ziehen. Zahlreichen Begnadigungen etwa rechtsextremer Gewalttäter steht so theoretisch nichts im Wege. Ebenso könnte ein rechtsextremer Justizminister das Gnadenrecht missbrauchen und im großen Stil politisch Gleichgesinnte begnadigen. Willkürliche Begnadigungen sind schließlich auch von Seiten der Ober- bzw. Generalstaatsanwaltschaft denkbar. Zwar enthält die Thüringer Gnadenordnung einige Vorgaben zur konkreten Ausübung des Gnadenrechts. So darf etwa gnadenweise Strafaussetzung nur gewährt werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die erst nachträglich bekannt geworden oder eingetreten sind, und nicht mehr bei der gerichtlichen Entscheidung berücksichtigt werden konnten oder die so außergewöhnlich sind, dass sie eine über die gesetzlichen Aussetzungsvorschriften hinausgehende Vergünstigung angezeigt erscheinen lassen. Gnadenbehörden haben zunächst zu prüfen, ob eine Entscheidung des Gerichts oder der Vollstreckungs- oder Vollzugsbehörde, wie etwa die Wiederaufnahme des Verfahrens oder Aussetzung einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung, dem Ziel des Gesuches entsprechen kann. Ist dies der Fall, sind die Gesuche zunächst dorthin weiterzuleiten. Darüber hinaus sind verschiedene Stellungnahmen einzuholen und unter Umständen Berichte zu erstatten und gegen Entscheidungen des Ober- oder Generalstaatsanwalts kann eine Beschwerde an den Justizminister gerichtet werden. Ob überhaupt und wenn ja welche Konsequenzen positive Gnadenentscheidungen haben können, die unter Missachtung der Richtlinien ergehen, erscheint allerdings unklar. Denkbar wären allenfalls dienstrechtliche Konsequenzen. Hinzukommt, dass der neue Justizminister auch einfach die Gnadenordnung ändern und die ohnehin vagen Richtlinien aufweichen könnte.
Relikt aus der Monarchie
„Die frühere Vorstellung, dass eine mit einem besonderen Charisma begabte Persönlichkeit nach ihrem Gutdünken einen justizfreien Gnadenakt setzen kann, ist mit der rechtsstaatlichen gewaltenteilenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, unvereinbar,“ so bereits die vier abweichenden Richter des Bundesverfassungsgerichts zu der Entscheidung 1969.
Gefährlich wird die Annahme eines über der Verfassung schwebenden Gnadenrechts für eine rechtsstaatliche Demokratie, wenn sie in die Hände von Nicht-Demokraten gerät – was vielleicht schon im September dieses Jahres der Fall sein könnte. Es bleiben noch ein paar Monate, das Gnadenrecht demokratisch einzuhegen und wieder an die Verfassung zu binden.
Zunächst müsste eigentlich das Strafrecht selbst so ausgestattet sein, dass es Härten und Ungerechtigkeiten erkennt und berücksichtigt. Soweit Bedürfnis für ein letztes Korrektiv besteht, wenn alle Wege ausgeschöpft, und das Ergebnis Jahre später mit unseren Gerechtigkeitsvorstellungen nicht mehr in Einklang gebracht werden kann, wäre die rechtsstaatliche demokratische Lösung ein Expert*innen-Rat , der in einem transparenten Verfahren und nach gesetzlich festgelegten Kriterien entscheidet (so der Vorschlag der Juristin Elisa Hoven) oder gar die erneute Entscheidung eines Gerichts. Auch die Stärkung der Rechte des Parlaments (vgl. etwa Art. 109 Abs. 2 Hessische Verfassung) oder direkt die Übertragung des Gnadenrechts auf parlamentarische Ausschüsse stünden einem demokratischen Rechtsstaat besser zu Gesicht (Harich in Fischer-Lescano, Verfassung der Freien Hansestadt Bremen, Art. 121, Rn. 5)
Zumindest aber müsste das Gnadenrecht – sollte es in den Händen einer Person bleiben – verfassungsrechtlichen Mindeststandards unterworfen werden. Niemand darf in Deutschland am Willkürverbot und der Würde des Menschen vorbei regieren und entscheiden. Als absolutes Minimum ist sofortige Transparenz zu fordern. Das Öffentlichkeitsprinzip im Strafverfahren ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzip. Die Sichtbarkeit von Entscheidungsprozessen begründet die Legitimität von Strafe. Auch eine Entscheidung über die Fortdauer von Strafe darf daher nicht jeglichen rechtsstaatlichen Prinzipien entzogen sein.
Transparenzhinweis: Die Autorinnen arbeiten im Legal Team von FragdenStaat, das das Verfahren gegen das Bundespräsidialamt geführt hat.
Dass das Begnadigungsrecht zumindest politisch ein fragwürdiges Instrument ist, gerät erst etwas spät in den Blick. Rolf Clemens Wagner und Adelheid Schulz sind etwa ebenfalls begnadigt worden, ohne dass das eine größere Anregung zum Nachdenken über den Sinn dieses Instituts ausgelöst hätte.
Im Übrigen finde ich den Vorschlag von Prof. Hoven amüsant, weil er nichts tut, als das Problem auf ein anderes schattiges Gremium zu verlagern. Ich nehme an, der “Expertenrat” wird nicht gewählt, sondern nach politischen Kriterien eingesetzt. Möchte man tatsächlich das “Gerechtigkeitsgefühl” der Bevölkerung widerspiegeln, wäre es angebrachter, ein solches Gremium in einem demarchischen Verfahren nach Zufallslosung zusammenzusetzen, ähnlich wie das im amerikanischen Strafprozess in der “Jury Duty” gemacht wird. Allerdings nehme ich an, dass ein gewöhnlicher Mensch nicht über das hier reklamierte “Expertenwissen” über moralische Fragen verfügt. Wie wird dieses nachgewiesen?
Das “Gnadenrecht” erst dann infrage zu stellen, weil oder wenn es vielleicht auch vom eigenen politischen Gegner genützt werden könnte, ist zwar für mein Empfinden alles andere als überzeugend.
In der Sache selbst allerdings volle Zustimmung. Ein Begnadigungsrecht hat insgesamt nichts in der demokratischen Verfassung zu suchen. Gerechtigkeit muss sich innerhalb des Rechts verwirklichen; aber die Ansichten darüber, ob eine einzelne Entscheidung rechtmäßig oder auch rechtmäßig und gerecht war, werden nie 100% übereinstimmen. Eine weitere Instanz hilft da nicht weiter (egal ob ein Einzelner Gnadenentscheide erlässt, oder ein Gremium etc.).
Ich finde, das noch andere “Erschwernisse” nötig sind.
Es müssen – auch im GG in den Ewigkeitsparagrafen – Änderungen eingestellt werden, damit diese Partei niemals Änderungen zu Ungunsten von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Vielfalt usw. vornehmen kann.
Mir ist das alles zu wichtig und nach 1924 auch zu gefährlich und muss geschützt werden.