Beredtes Schweigen
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit des Containerns
Die Antwort ist da, die eingehende Erklärung fehlt: Containern zu kriminalisieren, verstößt nicht gegen das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 18. August. Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen des Gesetzgebers und der Strafgerichte bei diesem Thema hatte sowohl in der juristischen als auch in der allgemeinen Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt. Doch wer gehofft hatte, dass das Bundesverfassungsgericht Licht ins Dunkel der juristischen Unklarheiten bringen und sich positionieren würde, der hoffte vergeblich.
Zwei Studierende hatten im Juni 2018 verzehrfähige Lebensmittel aus dem verschlossenen Container eines Supermarkts entnommen, die der Marktbetreiber zur Entsorgung vorgesehen hatte. Sie wurden daraufhin vom Amtsgericht Fürstenfeldbruck wegen Diebstahls verurteilt, was das Bayerische Oberste Landesgericht auf die Sprungrevision hin bestätigte (vgl. NStZ-RR 2020, 104 m. Anm. Bode; Jäger, JA 2020, 393; Jahn, JuS 2020, 85; Dießner, StV 2020, 256). Daraufhin erhoben die beiden Studierenden Verfassungsbeschwerde. Am 18. August meldete das Bundesverfassungsgericht nun, dass die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 05. August 2020 die Verfassungsbeschwerden von den beiden als unbegründet verworfen und nicht zur Entscheidung angenommen hat.
Überraschungen
Das Tempo, mit dem der Beschluss ergangen ist, mag diejenigen verwundern, die in der Vergangenheit teils jahrelang auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten mussten. Gleichfalls überrascht, dass der Beschluss, mit dem die Beschwerden verworfen werden, mit insgesamt elf Seiten – jedenfalls auf den ersten Blick – vergleichsweise umfangreich begründet wird. Dazu wäre das Gericht nach § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG nicht verpflichtet gewesen. Erklären lässt sich die ausführliche Begründung vielleicht durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Verfahren entgegengebracht wurde. Auf den zweiten Blick – den Blick in die Entscheidungsbegründung – ist es wiederum überraschend, dass die Begründung an den interessantesten Stellen ausgesprochen knapp gerät bzw. fehlt. Ein „Teilabsehen“ von einer Begründung im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses zu § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG mag zwar zulässig sein (BeckOK BVerfGG/Scheffczyk, 9. Ed. 1.7.2020, BVerfGG § 93d Rn. 10), verwunderlich ist es doch.
Die Argumentation der Beschwerdeführerinnen
Die Beschwerdeführerinnen hatten die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit geltend gemacht. Die Auslegung des Begriffs der „fremden Sache“ in § 242 StGB sei nicht zwingend mit den zivilrechtlichen Regelungen zum Eigentum gleichzusetzen; im Übrigen könne das Verhalten des Marktbetreibers als Dereliktion (§ 959 BGB) gewertet werden. Die Beschwerdeführerinnen betonten den Charakter des Strafrechts als ultima ratio und nahmen in diesem Zusammenhang unter anderem auf den sogenannten Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 90, 145) Bezug, in dem eine Bestrafung in bestimmten Fällen als Verstoß gegen das Übermaßverbot angesehen wurde. Prozessuale Regelungen böten insoweit nur einen unzureichenden Schutz. Das Strafgesetz bedürfe vielmehr einer verfassungskonform engen Auslegung. Schutzwürdige Interessen des Betreibers des Lebensmittelmarkts – insbesondere Haftungsrisiken – seien bereits wegen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung der Containernden auszuschließen. Das reine Entsorgungsinteresse des Marktbetreibers mit den Mitteln des Strafrechts zu schützen, führe zu weit. Abgesehen davon sei nicht das Entnehmen von Lebensmitteln, die zur Entsorgung in einem Müllcontainer deponiert wurden, sozialschädlich, sondern – umgekehrt – das Entsorgen verzehrfähiger Lebensmittel, das in Konflikt mit der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG stehe.
Die Begründung des Beschlusses
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung zunächst klar, dass eine am Zivilrecht orientierte Auslegung des Begriffs „Fremdheit“ nicht willkürlich sei. Das Argument der Beschwerdeführerinnen, dass die aus dem Container entnommenen Gegenstände nicht fremd gewesen seien, richtete sich gegen die strafgerichtliche Beweiswürdigung. Diese, so das Bundesverfassungsgericht, lasse hinsichtlich der Frage der Eigentumsaufgabe durch Einlegen der Lebensmittel in den zur Entsorgung bereitgestellten Container weder einen Rechtsfehler noch einen Verstoß gegen Verfassungsrecht erkennen.
Auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip, besonders der ultima-ratio-Grundsatz, erfordere mit Blick auf das Containern keine Einschränkung des § 242 StGB. Die Kammer betont:
„Es ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage verbindlich festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht kann diese Entscheidung nicht darauf prüfen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat; es hat lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (BVerfGE 27, 18 <30>; 80, 244 <255>; 90, 145 <173>; 96, 10 <25 f.>; 123, 267 <360>).“
Diesen Maßgaben entspreche die fachgerichtliche Auslegung des § 242 StGB, der zufolge das Eigentum an beweglichen Sachen unabhängig von deren wirtschaftlichen Wert geschützt sei. Bereits das Interesse des Marktbetreibers an der Entsorgung der Lebensmittel, um rechtliche Auseinandersetzungen über Fragen der Haftung zu vermeiden, sei im Lichte des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG „grundsätzlich zu akzeptieren, soweit der Gesetzgeber die Verfügungsbefugnis des Eigentümers nicht durch eine gegenläufige, verhältnismäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung eingegrenzt hat.“ Wie der Zugang zum Container gestaltet und beschildert sei und ob sich die Containernden eventuell selbst gefährdeten, darauf komme es dabei nicht an. So verstanden, umfasse der strafrechtliche Schutz nicht nur eine „rein formale, letztlich inhaltsleere Eigentumsposition“, „sondern ein legitimes Verfügungs- und Ausschlussinteresse am betroffenen Privateigentum“.
Auch der von den Beschwerdeführerinnen thematisierte Cannabis-Beschluss und das darin betonte Übermaßverbot gebe keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Die Fallgestaltungen seien nicht vergleichbar. In dem genannten Beschluss sei es ausschließlich um eine Selbstgefährdung durch den Eigenkonsum geringer Rauschgiftmengen gegangen. Im Fall des Containerns werde hingegen durch die Wegnahme der Lebensmittel in das Recht eines anderen eingegriffen. Im Übrigen ermöglichten sowohl § 242 StGB selbst als auch die Regelungen im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs und in der Strafprozessordnung eine tat- und schuldangemessene Bestrafung bzw. anderweitige Erledigung des Verfahrens. Die angegriffenen Entscheidungen ließen insoweit keinen verfassungsrechtlichen Verstoß erkennen.
Die Kammer thematisiert abschließend andere Grundrechte und Staatszielbestimmungen, bleibt insoweit aber wortkarg:
„Ob der Gesetzgeber im Hinblick auf andere Grundrechte oder Staatszielbestimmungen wie beispielsweise den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nach Art. 20a GG und im Rahmen einer Fortentwicklung von Inhalt und Schranken des Eigentums auch eine alternative Regelung hinsichtlich des Umgangs mit entsorgten Lebensmitteln treffen könnte, ist vorliegend ohne Bedeutung.“
Reaktionen
Als Leserin der zuletzt zitierten Zeilen fühlt man sich wie bei der Lektüre eines Romans, der abbricht, als es gerade spannend wird. Man fragt sich: Warum legt das Bundesverfassungsgericht den normativ geprägten Begriff der Fremdheit im Licht des Art. 20a GG nicht selbst aus?
Dabei kündigt die Kammer in ihrem Beschluss eingangs an, die angegriffenen Entscheidungen darauf zu überprüfen, „dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht“. Aber die Prüfung unterbleibt tatsächlich.
Wie die wörtlich wiedergegebenen Passagen des Beschlusses auch in ihrer Gesamtschau verdeutlichen, wehrt sich das Bundesverfassungsgericht mit Händen und Füßen dagegen, in der höchst umstrittenen Frage der Strafwürdigkeit der Wegnahme der vom (ehemaligen?) Eigentümer als Abfall deklarierten Sachen rechtspolitisch vereinnahmt zu werden, und verweist wiederholt auf den Gesetzgeber.
Die beiden Beschwerdeführerinnen verstehen diesen Fingerzeig als Appell, dem juristischen Kampf nun (weitere) rechtspolitische Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung und zur Entkriminalisierung des Containerns folgen zu lassen. Kommentatoren der Entscheidung sehen den Beschluss als Erfolg für die beiden Beschwerdeführerinnen an, da sowohl das strafgerichtliche Verfahren als auch die Verfassungsbeschwerden ein enormes mediales Echo, eine rechtswissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussion und – damit einhergehend – politische Solidaritätsbekundungen hervorgerufen haben.
Doch werden Fingerzeige und Solidaritätsbekundungen letztlich genügen? Sowohl vor dem Strafverfahren gegen die beiden Beschwerdeführerinnen als auch als Reaktion darauf gab es Versuche, der Lebensmittelverschwendung vorzubeugen und das Containern zu entkriminalisieren – unter anderem vom Hamburger Justizsenator anlässlich der Justizministerkonferenz im vergangenen Jahr. Diese Versuche sind bislang nicht von Erfolg gekrönt. Im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft setzt man derzeit auf freiwillige Initiativen, die in erster Linie bei den Privathaushalten ansetzen und dort langfristig ein verändertes Einkaufsverhalten und eine größere Wertschätzung von Lebensmitteln erzeugen sollen. Die Frage, ob zur Entsorgung bereitgestellte, verzehrfähige Lebensmittel durch Containern „gerettet“ werden dürfen, bleibt damit allerdings unbeantwortet.
Die nun ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts baut insoweit keinen weiteren Handlungsdruck auf, sondern spielt den Ball – obgleich wiederholt auf den Gesetzgeber verwiesen wird – faktisch der Zivilgesellschaft zu, etwa durch (weitere) (Online-)Petitionen. Dagegen ist nichts zu sagen, zumal ein solches gesamtgesellschaftliches Engagement, wie die Erfahrungen in jüngerer Zeit zeigen, recht prompte Reaktionen in der Politik hervorrufen kann.
Bedauern
Allerdings ist es bedauerlich, dass das Bundesverfassungsgericht den Bedeutungsgehalt des Art. 14 Abs. 1 GG als „normgeprägtes Grundrecht“ (vgl. Maunz/Dürig/Papier/Shirvani, 90. EL Februar 2020, GG Art. 14 Rn. 148) auf das einfache Recht reduziert und nicht auch Staatszielbestimmungen – konkret: Art. 20a GG – in den Blick nimmt. Einige Stellen des Beschlusses legen nahe, dass es in erster Linie den Gesetzgeber an die Staatszielbestimmung gebunden erachtet, und zwar bei der Überlegung, ob geltende Regelungen angepasst werden sollten. Tatsächlich beeinflusst die Norm aber bereits nach ihrem Wortlaut die Anwendung – und dabei: die Auslegung – des geltenden Rechts durch die Rechtsprechung.
So verstanden, genügt es bei der gebotenen Betrachtung der Regelungen von BGB und StGB im Licht des Art. 20a GGnicht, die Bestimmung des Begriffs „fremd“ in der Auslegung durch die Fachgerichte auf Willkür zu untersuchen, auf den bis dato untätigen Gesetzgeber zu verweisen und auf ein (angeblich) schützenswertes Interesse des Marktbetreibers an der Vermeidung (hypothetischer) haftungsrechtlicher Auseinandersetzungen abzustellen. Nötig gewesen wäre eigentlich ein Statement zur Schutzwürdigkeit des Interesses der Beschwerdeführerinnen im Lichte der Staatszielbestimmung.
Hinzu kommt, dass die Möglichkeiten des Strafrechts, Fälle von Containern schuldangemessen zu lösen, bei näherer Betrachtung in bestimmten Fallkonstellationen tatsächlich so praktikabel nicht sind, wie das vom Bundesverfassungsgericht behauptet wird. Das hat beispielsweise Jahn für den Fall des „‘arbeitsteiligen‘ Containerns“mit drei Beschuldigten oder mehr an anderer Stelle bereits näher ausgeführt (JuS 2020, 85, 87: „Das bei diesem Ergebnis der Strafrechtsdogmatik, horrible dictu, etwas faul ist, liegt nahe“).
Die Bemerkungen zum Übermaßverbot geraten nicht nur in dieser Hinsicht zu kurz. Angesichts intensiven Debatte, die im Vorfeld zu dem Thema geführt wurde, hätte man sich eine Antwort des Gerichts auf die mit den Beschwerden aufgeworfene Grundsatzfrage gewünscht: Lebensmittelverschwendung – und zwar nicht nur diejenige in Privathaushalten, sondern auch die beim Lebensmittelhandel – ist unstreitig für sich genommen sozialschädliches Verhalten (vgl. den aktuellen Koalitionsvertrag – dort Rn. 4133) und läuft dem Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen zuwider. Wie kann dann die Verschwendung von nutzbaren, vom (bisherigen) Eigentümer als wertlos erachteten Lebensmitteln eine Straftat sein, gegen die das Eigentum geschützt werden muss?
Eine Antwort darauf bleibt das Bundesverfassungsgericht leider schuldig – in dem erkennbaren Bestreben, sich nicht politisch zu positionieren. Angelehnt an Watzlawick steht allerdings fest: Man kann über die Frage der Sozialschädlichkeit des Verhaltens des Marktbetreibers nicht nicht kommunizieren und Art. 14 Abs. 1 GG nicht nicht politisch verstehen.