22 October 2019

Was ist das Entwenden von Brot gegen das Verbrennen von Brot?

„Die Wertlosigkeit einer Sache als solche gewährt Dritten nicht das Recht zur Wegnahme.“ Wer wollte diesem Satz des Reichsgerichts aus dem Jahr 1911 widersprechen, zumal es sich beim Diebstahl nach allgemeiner Meinung nicht um ein Vermögens-, sondern um ein Eigentumsdelikt handelt, so dass ein messbarer Vermögensschaden für die Verwirklichung eines Diebstahls gerade nicht vorausgesetzt wird.

Allerdings: man kommt ins Nachdenken, wenn man erfährt, dass das Bayerische Oberste Landesgericht diesen Satz in einem Beschluss vom 02. Oktober 2019 im Zusammenhang mit einem Fall sogenannten Containerns zitiert. Der Begriff erfährt bereits seit geraumer Zeit eine große mediale Aufmerksamkeit und erfasst Fälle, in denen Menschen – sei es aus Not oder aus persönlicher Überzeugung – Lebensmittel, die zur Entsorgung bestimmt sind, vor eben dieser „retten“ und verwerten; so geschehen auch im Fall von zwei Studierenden, die aus politischen und ethischen Gründen container(te)n.

Ein Edeka-Container in Olching

Beide hatten am 04. Juni 2018 abends einen frei zugänglichen Ladebereich eines Edeka-Marktes in Olching bei München betreten, dort mit Werkzeug einen Container geöffnet und daraus Lebensmittel entnommen. Unmittelbar im Anschluss wurden sie durch zwei Polizeibeamte angetroffen. Nachdem zunächst sogar wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall (§ 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB) ermittelt worden war – immerhin war der Container verschlossen –, wurden sie mit Urteil des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck wegen Diebstahls nach § 242 Abs. 1 StGB verwarnt, und es wurde eine Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu 15 Euro vorbehalten, quasi eine „Geldstrafe auf Bewährung“ (vgl. § 59 Abs. 1 StGB). Im Rahmen der Bewährungsauflage wurden den beiden Verurteilten jeweils acht Stunden soziale Arbeit auferlegt – wohlgemerkt: abzuleisten bei der Tafel, wie der Verteidiger einer der beiden Beschuldigten auf seiner Internetseite mitteilt.

Nicht nur dieser Umstand legt nahe, dass das Amtsgericht kein wirkliches Strafbedürfnis erkannt hat. In Berichten über das Strafverfahren heißt es, das Gericht habe den Aufwand für das Verfahren „nur noch schwer nachvollziehen“ können; demgegenüber habe die zuständige Staatsanwaltschaft München II, die für die beiden Angeklagten Geldstrafen in Höhe von jeweils 1.200 Euro gefordert hatte, ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung im Sinne von § 248a StGB – das für eine Verfolgung von Diebstählen geringwertiger Sachen bei fehlendem Strafantrag des Geschädigten erforderlich ist – bejaht und sich damit über den Umstand hinweggesetzt, dass der Leiter des betroffenen Supermarkts einen solchen Antrag zurückgezogen hatte, wie berichtet wird, freilich erst nach massivem öffentlichen Protest. Die beiden Studierenden haben gegen die Verurteilung, unterstützt durch die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Sprungrevision eingelegt.

Zwischenzeitlich stellte die Fraktion DIE LINKE im April 2019 unter Bezugnahme auf die Verurteilung im Bundestag einen Antrag, das Containern von Lebensmitteln zu entkriminalisieren (BT-Drs. 19/9345). Darin wird ausgeführt, den hehren Motiven der Containerer mit dem „scharfen Schwert des Strafrechts“ zu begegnen, sei „ungerecht und unnötig.“ Anlässlich der Justizministerkonferenz im Juni 2019 unternahm der Hamburgische Justizsenator einen Vorstoß, das Containern gesetzlich zu regeln. Eine Einigung scheiterte an den Einwänden der CDU-geführten Bundesländer (Hygiene, Haftungsfragen, grundsätzliches Strafbedürfnis). 

Das Bayerische Oberste Landesgericht

Anfang Oktober dieses Jahres verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht die Sprungrevision der beiden Studierenden nun als unbegründet. In dem Beschluss konzentriert sich der Senat auf die Frage, ob es sich bei den Lebensmitteln zum Zeitpunkt der Wegnahme um fremde Sachen im Sinne des § 242 Abs. 1 StGB handelte und bejaht dies.

Zur Begründung beziehen sich die Richter auf die herrschende Ansicht, der zufolge sich die Frage, ob eine Sache fremd ist, nach dem bürgerlichen Recht bemisst. Sie sprechen die in § 959 BGB geregelte, sogenannte Dereliktion, das heißt die Aufgabe des Besitzes in der Absicht, auf das Eigentum zu verzichten, bezogen auf den Betreiber des Supermarkts an und verneinen eine solche Absicht. Zur Begründung zitieren die Richter eine Entscheidung des eigenen Gerichts aus dem Jahr 1986 und führen an, eine Eigentumsaufgabe komme nur dann in Betracht, wenn der Wille vorherrsche, sich der Sache „ungezielt“ zu entledigen. Eine solche Situation habe vorliegend nicht bestanden, was bereits daran zu erkennen gewesen sei, dass der auf dem Firmengelände befindliche Container verschlossen war, so dass es eines Werkzeugs bedurfte, um ihn zu öffnen. Und weiter: „Hinzu kommt, dass die Lebensmittel zur Abholung durch ein (von der Firma gesondert bezahltes) Entsorgungsunternehmen bereit gestellt waren.“ Der für eine Eigentumsaufgabe erforderliche Wille sei dann nicht anzunehmen, wenn der bisherige Eigentümer die Sache einer bestimmten Person/Organisation zur Verfügung stellen wolle. Die Richter führen schließlich – offenbar als Beleg für einen nicht existenten Willen des Betreibers des Supermarkts, sich der Ware „ungezielt“ zu entledigen – an, dass der Entsorgende „für die gesundheitliche Unbedenklichkeit der in Verkehr gebrachten Lebensmittel einzustehen hat“.

Die beiden Studierenden haben mit der erfolglosen Revision den ordentlichen Rechtsweg ausgeschöpft. Die Pressemitteilung des Verteidigers einer der Verurteilten ist wie folgt überschrieben: „Containern: Bayrisches Oberstes Landesgericht bestätigt Schuldspruch – Container-Aktivistinnen bleiben straffrei“. In der Meldung heißt es, die Verteidigung habe im Strafverfahren einerseits die Auffassung vertreten, dass das Eigentum an den Lebensmitteln mit dem Einfüllen in die Abfall-Container ende und zum anderen auf die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der in Art. 20a GG enthaltenen verfassungsrechtlichen Pflicht zum Umwelt- und Tierschutz verwiesen. Die verurteilten Aktivistinnen würden, wiederum unterstützt durch die GFF, eine Verfassungsbeschwerde erwägen. Die Pressemitteilung endet mit den Worten: „Jetzt kann man sagen, Containern ist unter Umständen nicht erlaubt – aber zunächst straffrei.“ Damit gibt man den verurteilten Aktivistinnen, um im Bilde zu bleiben, freilich Steine statt Brot, handelt es sich doch beim Containern typischerweise um wiederkehrende Ereignisse, bei denen ein „zunächst“ keinen Rechtsfrieden herbeiführen wird.

Dereliktion?

Überzeugt die Verurteilung nun in rechtlicher Hinsicht? Vor einem Blick auf das Verfassungsrecht lohnt zunächst ein Blick in die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts aus dem Jahr 1986, die, die Richter, wie ausgeführt, zur Ablehnung einer Dereliktion heranzogen. In dem zugrunde liegenden Fall war dem Beschuldigten vorgeworfen worden, „etwa 2 Tonnen Altpapier im Wert von ca. 300,- DM unberechtigt eingesammelt zu haben“, das Anwohner nach einem Sammelaufruf einer Organisation auf dem Gehsteig zur Abholung bereit gelegt hatten (BayObLG wistra 1986, 268). Man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass diese Situation mit derjenigen des Containerns nicht zu vergleichen ist: Sofern die Motivation des bisherigen Eigentümers dahin geht, das betreffende Gut bzw. den darin verkörperten Geldwert an eine wohltätige Einrichtung zu spenden, ist der Wille des Eigentümers darauf gerichtet, sein Eigentum an die Organisation zu übertragen und gerade nicht aufzugeben.

Im Falle des Ablegens abgelaufener bzw. unverkäuflicher Lebensmittel in einen Container zur Abholung durch einen Entsorger ist der Wille des bisherigen Eigentümers hingegen nicht auf eine solche Übertragung von Werten gerichtet. Vielmehr kostet ihn die Entsorgung Geld, das er zum einen aufwendet, um möglichen Gesundheitsgefahren vorzubeugen, zum anderen aber auch deshalb, um sicherzustellen, dass die Lebensmittel nicht in die Hände von Verbrauchern geraten, die sich auf diese Weise den Kauf der Ware im Supermarkt sparen. Ein Unterschied zum Hausmüll, für den eine Eigentumsaufgabe mit der Bereitstellung für die Abfuhr vertreten wird (vgl. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 242, Rn. 7), ist – abgesehen davon, dass beim Hausmüll nicht zu befürchten ist, dass der Containerer als Kunde des Entsorgenden ausfällt – nicht erkennbar.

Schließlich überrascht die Behauptung, der Betreiber des Supermarktes sei für die fachgerechte Entsorgung der abgelaufenen bzw. unverkäuflichen Ware verantwortlich und daher nicht willens, sich der Ware „ungezielt“ zu entledigen. Diese Überlegung dürfte für das Containern (anders als für die Abgabe von Lebensmitteln an die Tafel oder ähnliche Vereine) gerade nicht verfangen, weil es als Fall einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung (dazu allgemein z.B. MüKo/Duttge StGB, 3. Aufl. 2017, § 15, Rn. 152 ff.) anzusehen ist, die jedenfalls eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Supermarktbetreibers für etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen der „Containerer“ ausschließen würde. Im Übrigen ist die sachenrechtliche Dereliktion von etwaigen öffentlich-rechtlichen Entsorgungspflichten zu trennen, die auch bei wirksamer Dereliktion fortbestehen (dazu näher BeckOK BGB/Kindl, BGB, § 959, Rn. 5).

Eine Grundsatzfrage

Ob diese Überlegungen für das Bundes- oder das Landesverfassungsgericht Anlass geben, eine grundlegende Verkennung des Schutzbereichs des Rechts auf Eigentum zu erblicken, mag dahinstehen, wenn sich auch bei Zugrundelegung der Auffassung des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck und des Bayerischen Obersten Landesgerichts sowie anderer Gerichte (vgl. z.B. AG Düren, Urt. v. 24. Januar 2013, 10 Ds 288/12 – zit. nach juris), es habe zum Zeitpunkt der Wegnahme der Lebensmittel noch keine Dereliktion vorgelegen, ein verfassungsrechtlicher Verstoß erkennen ließe. An dieser Stelle kommt es zur Grundsatzfrage: Vermag die Missachtung des Willens des Betreibers des Supermarkts, die Lebensmittel durch einen Entsorger vernichten zu lassen, die strafgerichtliche Verurteilung der beiden Studierenden wegen Diebstahls zu rechtfertigen?

Das Bundesverfassungsgericht hat, beispielsweise in der sogenannten Inzestentscheidung, ausgeführt, dass das Strafrecht als „ultima ratio“ des Rechtsgüterschutzes dann eingesetzt werde, „wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.“

Man kann bereits zweifeln, ob das Containern ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut tangiert. Zwar ist umstritten, ob sich die in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG statuierte Gemeinwohlverpflichtung unmittelbar schutzbereichsbegrenzend auswirkt oder ob sie als ein allein an den Gesetzgeber gerichteter Appell zu verstehen ist, bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Eigentums auf die Sozialbindung zu achten (vgl. Papier/Shirvani, GG Art. 14, Rn. 415 f.). Selbst wenn man eine Dereliktion zum Zeitpunkt des Zugriffs auf den Container verneinen wollte, müsste man konstatieren, dass der Wille des „Noch-Eigentümers“ sich darin erschöpft, die Vernichtung seines Eigentums durch den Entsorger sicherzustellen. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG zielt jedoch darauf ab, „das Recht des ‚Habens‘ und ‚Gebrauchens‘ an einem konkreten Gegenstand“ zu schützen (so Maunz/Dürig/Papier/Shirvani, GG Art. 14 Rn. 146). Dass der Betreiber des Supermarkts mit der Vernichtung zugleich die Verkaufsfähigkeit der regulär angebotenen Ware sicherstellen möchte, ist jedenfalls nicht vom Schutzbereich der gegenstandsbezogenen Eigentumsfreiheit (dazu Papier/Shirvani a.a.O., Rn. 146) erfasst.

Ein strafrechtlicher Schutz des Eigentums um seiner Vernichtung willen erscheint im übrigen unverhältnismäßig, abgesehen davon, dass damit, bezogen auf den Fall des Containerns, mittelbar vermeidbaren Lebensmittelabfällen in der Lebensmittelwirtschaft – einer seinerseits von der Bundesregierung in besonderer Weise als sozialschädlich erkannten Vorgehensweise der Wirtschaft – Vorschub geleistet würde. Im Lichte des vorstehenden Zitats des Bundesverfassungsgerichts würde damit durch das Strafrecht in besonderem Maße als sozialschädlich erkanntes Verhalten strafrechtlich geschützt.

Man darf gespannt sein, ob und gegebenenfalls wie das Bundesverfassungsgericht – oder der Bayerische Verfassungsgerichtshof – die Frage der Vereinbarkeit der Verurteilung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip letztlich beantworten wird. Dem Vorstoß der Fraktion DIE LINKE dürfte nach dem Scheitern einer Einigung anlässlich der Justizministerkonferenz in absehbarer Zeit kein Erfolg beschieden sein. Dass der Vorschlag allein die mit dem Containern verbundenen strafrechtlichen Risiken (z.B. eines Hausfriedensbruchs oder einer Sachbeschädigung beim Öffnen des Containers) nicht umfänglich lösen würde, ist bereits an anderer Stelle erläutert worden (vgl. Lorenz, jurisPR-Strafrecht 10/2019 Anm. 1). Dort wie an anderer Stelle wird auch auf die Situation namentlich in Frankreich hingewiesen, wo Lebensmittelhändler seit dem Jahr 2016 gesetzlich dazu verpflichtet sind, genießbare Lebensmittel an karitative Einrichtungen zu spenden. Bis zu einer solchen Regelung muss man auf Staatsanwaltschaften hoffen, die besonnen abwägen, ob bei der Entnahme von zur Entsorgung bestimmten Lebensmitteln tatsächlich ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung im Sinne von § 248a StGB zu bejahen ist (dazu auch Vergho, StraFo 2013, 15, 19). Jedenfalls an dieser Stelle sollten die Strafverfolger die grundrechtliche Bedeutung der Problematik berücksichtigen.