Die Verstetigung von Bürgerräten in Deutschland
„Lieber Herr Kollege Amthor, wovor haben Sie eigentlich Angst?“ So beginnt der Redebeitrag von Matthias Miersch in der Plenardebatte vom 14.3.2024. Mierschs Antwort unterstellt Amthor, dieser habe doch „eigentlich Angst, unsere Entscheidungen von Bürgerinnen und Bürgern mal richtig kritisch reflektieren zu lassen“. In der Debatte ging es um die Ergebnisse des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“, der vom Bundestag 2023 eingesetzt wurde und im Februar 2024 ein Bürgergutachten mit 9 Empfehlungen an den Bundestag übermittelte.
Philip Amthor griff in seiner Rede auf gängige Kritikpunkte an gelosten Bürgerräten zurück und referierte, dass Volkssouveränität sich in Deutschland „durch Wahlen und Abstimmungen (…) und nicht durch Auslosung“ auszeichnet, dass Repräsentation „keine Frage von Zufällen, sondern eine Frage von parlamentarischen Verfahren“ sei oder dass „parlamentarische Demokratie (…) Repräsentation durch Parlamentarier in Verantwortung vor ihren Wählern und nicht Entscheidung oder Beratung zur Entscheidung in herbeiquotierten Räten“ bedeute. Obwohl Amthor eindringlich forderte, dass „das Parlament gestärkt werden“ müsse, kam ihm an keinem Punkt seines Beitrags in den Sinn, Bürgerräte als Instrumente zu sehen, die das Parlament stärken und die Legitimität politischer Entscheidungen erhöhen können. Im Gegensatz dazu befand Miersch, dass der Bürgerrat für den Bundestag „wertvolle Impulse gesetzt“ habe und die Arbeit der Parlamentarier „stärke“ und „legitimiere“. Mierschs Partei SPD hat im Bundestagswahlprogramm 2025 den Bürgerrat dann auch erwähnt und orientiert an dessen erster Empfehlung – „Investition in die Zukunft: Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit“ – im Programm versprochen, sich „in allen Bildungseinrichtungen für eine gute und kostenfreie Verpflegung“ einzusetzen und dabei die Empfehlungen des Bürgerrats zu beachten.
Ein kurzer Überblick: Bürgerräte in Deutschland
Was sagt uns diese Debatte über Bürgerräte in Deutschland? Zunächst einmal, dass Bürgerräte – also per Zufallsverfahren ausgeloste Versammlungen von Bürger:innen, die zu einem bestimmten politischen Thema in einem moderierten Verfahren strukturiert diskutieren und Empfehlungen erarbeiten – auf nationaler Ebene stattfinden. Und dass der betreffende Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ durch den Bundestag eingesetzt wurde. Die Debatte zeigt allerdings auch, dass Abgeordnete unterschiedlicher Parteien unterschiedliche Meinungen zur Wirksamkeit und Legitimität von Bürgerräten haben. Was nicht zuletzt daran liegt, dass der betreffende Bürgerrat nicht vom Parlament, sondern von der regierenden Parlamentsmehrheit mit Unterstützung der Linken durchgesetzt wurde. Schließlich zeigt sich an der anschließenden Diskussion zwischen den Parteien und Abgeordneten, dass im politischen System eine Bereitschaft zum Experimentieren mit neuen demokratischen Beteiligungsformaten und deren Ergebnissen besteht. Damit ist nicht gesagt, dass künftig permanent Bürgerräte auf nationaler Ebene stattfinden und diese zu Eckpfeilern des demokratischen Prozesses werden. Denn deren Zustandekommen und Erfolg sind mit der Bereitschaft politischer Parteien verbunden, auf solche Beteiligungsformate zurückzugreifen.
Ein vergleichender Überblick zu Bürgerräten in Deutschland zeigt, dass diese zunehmend Bestandteil politischer Entscheidungsprozesse werden. Die Datenbank Bürgerräte erfasst für den Zeitraum 2000-2023 „insgesamt 190 Verfahren losbasierter Beteiligung“, wobei die Mehrheit dieser Verfahren (80 Prozent) kommunal organisiert wurde (siehe hierzu den Bericht zu Bürgerräten in Deutschland). Die Stadt Aachen hat den ersten verstetigten Bürgerrat auf kommunaler Ebene eingerichtet. Und die Stadt Konstanz ermöglicht es ihren Bürger:innen seit dem vergangenen Jahr, mit 800 Unterschriften von Konstanzer Einwohner:innen einen gelosten Bürgerrat zu beantragen, der dann vom Gemeinderat eingesetzt werden muss. Daraus folgt, dass es politischen Entscheidungsträger:innen auf kommunaler und regionaler Ebene scheinbar leichter fällt, losbasierte Bürgerräte einzuberufen, als dies bei Bundestagsabgeordneten der Fall ist.
Rahmung des Symposiums „Verstetigung von Bürgerräten in Deutschland“
Obschon die Frage nach der Einsetzung von Bürgerräten im bundesdeutschen demokratischen System letztendlich eine politische ist und bleibt, stellen sich mit der Zunahme solcher geloster Beteiligungsformate eine Vielzahl verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Fragen. Grundsätzliche Aspekte zu den „rechtlichen Rahmenbedingungen des Tätigwerdens von losbasierten Bürgerräten“ hat Jan Ziekow bereits in einem Gutachten erörtert. In der Zeitschrift für Parlamentsfragen hat Matthias Friehe im vergangenen Jahr die Einsetzung den Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ recht kontrovers als verfassungswidrig bezeichnet, da hier „durch einfachen Parlamentsbeschluss de facto ein Neben-Parlament eingerichtet“ wurde. Philip Berger hat in seinem 2024 erschienenen Buch „Grundgesetz und aleatorische Demokratie“ die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit von Losverfahren und Demokratieprinzip untersucht. Kurzum: Die vertiefende Auseinandersetzung mit Bürgerräten in den Rechtswissenschaften verweist darauf, dass auch hier eine Debatte um die Rolle von gelosten Bürgerräten geführt wird.
Das folgende Symposium zum Thema „Verstetigung von Bürgerräten in Deutschland“ verfolgt das Ziel, diese Debatte zu vertiefen, und versammelt vierzehn Beiträge von Rechts- und Politikwissenschaftler:innen, die sich mit grundsätzlichen Fragen zu Bürgerräten in Deutschland und den deutschsprachigen Grenzregionen (Österreich, Schweiz, Ostbelgien) befassen. Die interdisziplinäre Weitung der Debatte und Einbeziehung politikwissenschaftlicher Beiträge lässt sich mit der Einsicht erklären, dass verfassungsrechtliche Fragen auch immer verfassungspolitische Fragen sind und der Austausch zwischen den unterschiedlichen Disziplinen den Erkenntnisgewinn fördert.
Diese Einsicht ist in der Praxis gewachsen, denn das Symposium geht auf ein transdisziplinäres Forschungsprojekt zur Institutionalisierung und Entscheidungsfindung von Bürgerräten in Deutschland zurück, das von der VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderlinie Transformationswissen über Demokratien im Wandel gefördert wird. Das in Kooperation von Felix Petersen (Universität Münster), Daniela Winkler (Universität Stuttgart) und Florian Wieczorek (Mehr Demokratie e.V.) durchgeführte Projekt untersucht rechtliche und administrative Möglichkeiten der Institutionalisierung von Bürgerräten und Gelingensbedingungen guten demokratischen Entscheidens in Bürgerräten. Die dem Projekt zugrundeliegende Idee einer Vernetzung diverser Perspektiven auf Politik, Recht und Beteiligung motiviert auch die Zusammenstellung der Symposiumsbeiträge. Die Beiträge erscheinen dabei in fünf thematisch gegliederten Blöcken.
Form, Ausgestaltung und Funktionen von Bürgerräten
Der erste Block umfasst zwei Beiträge, die grundsätzliche verfassungsrechtliche Vorfragen zur Institutionalisierung von Bürgerräten in Deutschland diskutieren.
DANIELA WINKLER und KORNELIUS LÖFFLER argumentieren, dass der Einsetzung von Bürgerräten aufgrund ihrer Form (Abbild der Gesellschaft) und Wirkung (Erfassung des Gemeinwillens) auch verfassungsrechtlich „demokratische Relevanz“ zuzuschreiben sei, obschon diese keine hoheitliche Staatsgewalt ausüben. Als „Transmissionsriemen der politisch-gesellschaftlichen Ordnung“, so argumentieren Winkler und Löffler, können Bürgerräte Gesellschaft und politisches System enger verzahnen und damit zu einer Re-Demokratisierung beitragen. Der Beitrag fragt, ob Bürgerrät:innen, ähnlich den oft im politischen Prozess einbezogenen Expert:innen und Sachverständigen, als „Sachverständige des täglichen Lebens” in relevante Entscheidungsprozesse integriert werden können. Anders als Expert:innen und Sachverständige sollen Bürgerräte aber keine Expertise im engeren Sinne einbringen, sondern die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen abbilden und in den politischen Prozess einspeisen. Bei der Ausgestaltung und Organisation von Bürgerräten verweisen Winkler und Löffler auf politische Parteien und den Art. 21 GG und folgern, dass Bürgerräte – ähnlich den Parteien – demokratischen Prinzipien entsprechen und Grundrechte berücksichtigen müssen.
MARC ZECCOLA diskutiert in seinem Beitrag potentielle verfassungsrechtliche Funktionen (Legitimations-, Akzeptanz-, Transparenz-, Informations-, Qualitäts-, Ausgleichs-/Befriedungsfunktion), die Bürgerräte unter dem Grundgesetz erfüllen könnten. Der Beitrag leistet eine wichtige Übersetzungs- oder Vermittlungsarbeit, indem er verdeutlicht, dass die „sozialwissenschaftlichen Funktionszuschreibungen“ von Bürgerräten „ins Recht übertragen“ werden können. Zeccola kommt zu dem Schluss, dass die Entfaltung der unterschiedlichen Funktionen und deren Wirksamkeit von den „spezifischen Voraussetzungen und Ausgestaltungen der Bürgerräte abhängen“, was dafür spricht, „Bürgerräte einer hoheitlichen Standardisierung“ zuzuführen.
Die verfassungsrechtliche Verankerung von Bürgerräten
Der zweite Block umfasst zwei Beiträge, die grundsätzliche Fragen nach der verfassungsrechtlichen Verankerung und Einbettung in das politische System erörtern.
PHILIP BERGERS Text behandelt die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von entscheidungsbefugten Bürgerräten. Er argumentiert, dass zufällige Auswahl und substanzielle Beteiligung nahelegen, dass Bürgerräte auch aus rechtlicher Perspektive als Verfahren angesehen werden können, die das Prinzip der „Herrschaft der Freien und Gleichen“ verwirklicht. Der Beitrag folgert, dass entscheidungsbefugte Bürgerräte einer grundgesetzlichen Regelung bedürfen, und schlägt vor, diese vor dem Hintergrund von Art. 20 Abs. 2 GG als „besondere Organe zur Ausübung der Staatsgewalt“ zu verstehen und dementsprechend zu normieren.
Auch KLARA WESTERLAGE befasst sich mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Bürgerräten. Sie argumentiert, dass Bürgerräte mit quasi-legislativer Entscheidungsgewalt verfassungswidrig wären, da sie öffentliche Gewalt ausüben, ohne – wie im Grundgesetz vorgesehen – durch Wahlen oder besondere Organe an das Volk rückgekoppelt zu sein (Art. 20 Abs. 2 GG). Ein losbasiertes Gremium erfüllt diese Anforderung nicht und eine Änderung des Grundgesetzes zur Einführung von legislativen Bürgerräten ist aufgrund der Ewigkeitsklausel (Art. 79 Abs. 3 GG) ausgeschlossen. Westerlage folgert, dass stattdessen eine Befassungspflicht des Bundestags sinnvoll wäre. Diese könnte durch eine Regelung in der Geschäftsordnung des Bundestags umgesetzt werden und festschreiben, dass der Bundestag dazu verpflichtet ist, sich mit den Empfehlungen eines Bürgerrats beispielsweise im Rahmen einer Plenardebatte auseinanderzusetzen.
Gesellschaftliche Perspektiven auf Bürgerräte
Der dritte Block umfasst drei Beiträge, die gesellschaftliche Erwartungen an Bürgerräte und Bürgerpräferenzen über deren Ausgestaltung, die kommunikativen Gelingensbedingungen von Bürgerratsprozessen und das demokratische Potenzial von Bürgerräten für die Einbindung nicht-deutscher Gesellschaftsbürger:innen diskutieren.
ANDRE BÄCHTIGER, SASKIA GOLDBERG und MARINA LINDELL präsentieren die Ergebnisse einer vergleichenden repräsentativen Studie zu den Ansichten von Bürger:innen über Bürgerräte in Deutschland, den USA, Irland und Finnland. Der Beitrag zeigt, dass Bürger:innen Bürgerräte legitim und sinnvoll finden, diesen aber keine bindende Entscheidungsmacht zugestehen würden und bevorzugen, dass Bürgerräte mit dem repräsentativen politischen System verwoben sind. Daraus leiten die Autor:innen ab, dass in der rechtswissenschaftlichen Diskussion erörtert werden müsste, wie eine solche Institutionalisierung von hybriden Verfahren möglich werden kann.
FRANK BRETTSCHNEIDER argumentiert, dass Bürgerräte und andere dialogische Beteiligungsformate einen kommunikativen Austausch zwischen Entscheidungsträger:innen, Zivilgesellschaft und Bürger:innen ermöglichen können. Glückt dieser Austausch, dann ist anzunehmen, dass die Kommunikation vor, während und nach dem Bürgerratsprozess erfolgreich war. Das sei ausschlaggebend für die grundsätzliche Akzeptanz des Verfahrens in zukünftigen Konfliktfällen und grundsätzlichen öffentlichen Fragen. Der Beitrag skizziert für eine gelingende Kommunikation relevante Aspekte, die in der Ausgestaltung von und Kommunikation über Bürgerräte bedacht werden müssen.
POLA BRÜNGER diskutiert die für pluralistische Gesellschaften relevante Frage nach der Beteiligung von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit an Bürgerräten. Der Beitrag thematisiert die Problematik, dass in Deutschland 14,1 Mio. Menschen von Wahlen ausgeschlossen sind und damit de facto in ihrer Einflussnahme auf den politischen Prozess beschränkt. Bürgerräte werden in der Folge als Institutionen konzipiert, die diese Gruppe direkter in den politischen Prozess einbeziehen könnten. Das könnte die politische Teilhabe stärken, gesellschaftliche Begegnungen ermöglichen und demokratische Werte fördern und damit auf die demokratische Grundordnung positiv zurückwirken.
Rechtsvergleich: Bürgerräte auf kommunaler Ebene und in anderen Ländern
Der vierte Block umfasst vier rechtsvergleichende Beiträge, die die Diskussion um Beobachtungen zu Bürgerräten auf kommunaler Ebene und Bürgerräten in anderen Ländern erweitern.
CHRISTIAN ERNST und ENNIO FRIEDEMANN konzentrieren sich auf den kommunalen Raum und argumentieren, dass Bürgerräte hier effektiv eingesetzt werden können. Der Beitrag unterstreicht, dass die Idee kommunaler Selbstverwaltung Partizipation garantiert und damit einen größeren Möglichkeitsraum für Bürgerräte eröffnet. In der Umsetzung ist darauf zu achten, dass Bürgerräte nicht im Alleingang durch die Kommunen, sondern durch Länder und Kommunen gemeinsam reguliert werden können.
PETER BUßJÄGER bietet einen vertiefenden rechtsvergleichenden Einblick in die Situation in Österreich. Im Zentrum des Beitrags steht der 2022 eingesetzte nationale Klimarat. Bußjäger argumentiert, dass dieser weder repräsentativ war noch dessen Empfehlungen Einfluss auf die österreichische Politik hätten entfalten können. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass dies mit unterschiedlichen rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängt, die nahelegen, dass eine verstärkte Nutzung von Bürgerräten vor allem auf lokaler Ebene sinnvoll ist, da hier die Nähe zu Entscheidungsträger:innen besteht und die Hindernisse in der Umsetzung von Empfehlungen geringer sind.
ARNE PAUTSCH widmet sich dem ständigen Bürgerrat in Ostbelgien. Der Beitrag argumentiert, dass in Ostbelgien ein regionales, verstetigtes Bürgerratssystem durch Parlamentsdekret eingerichtet wurde, das für andere Regionen Modellcharakter haben kann. Das System umfasst wechselnde geloste Versammlungen von Bürger:innen, die politische Themen diskutieren und Empfehlungen für die Politik erarbeiten; einen Rat aus ehemaligen gelosten Bürgerrät:innen, der für Themensetzung, Durchführung und die Überwachung der Umsetzung von Empfehlungen verantwortlich ist; sowie ein ständiges Sekretariat, das die Arbeit der beiden anderen Organe unterstützt.
ANDREAS GLASER analysiert die Situation um Bürgerräte in der Schweiz. Der Beitrag ordnet diese als Ergänzungen zur direkten Demokratie ein, die die Beteiligung von unterrepräsentierten Gruppen wie Jugendlichen erhöhen, bei Volksabstimmungen verständlichere und ausgewogenere Informationen bereitstellen und einen politischen Austausch zwischen Verwaltungen und Bürger:innen ermöglichen. Als mögliches Zukunftsmodell folgert der Beitrag, wäre in der Schweiz über die Einbindung von Bürgerräten in Verfassungsprozesse zu diskutieren, die etwa durch die Einsetzung eines ausgelosten Verfassungsrats umgesetzt werden könnte.
Konkrete Vorschläge zur Institutionalisierung von Bürgerräten
Der fünfte Block schließlich umfasst drei Beiträge, die konkrete Vorschläge machen, wie Bürgerratsprozesse auch ohne Verfassungsänderungen verstetigt werden können.
ENNIO FRIEDEMANN und PHILIPP C. VERPOORT skizzieren „Eckpfeiler für ein Rahmengesetz (…), das den Einsatz konsultativer Bürgerräte auf Bundesebene normiert.“ Der Beitrag bewertet die Regelung durch ein Rahmengesetz als einer bloßen Einsetzung durch den Bundestag oder einer Geschäftsordnungsregelung überlegen, da ersteres langfristige Qualitätsstandards setzt und politischen Missbrauch verhindert. Ein solches Gesetz sollte laut den Autoren Bürgerräte als Ergänzungen des Parlaments konzipieren. Sie sollten durch den Bundestag und nicht die Regierung oder der Bundesrat eingesetzt werden, und ein mehrstufiges Losverfahren sollte die statistisch repräsentative Abbildung der Bevölkerung bei der Auswahl von Bürgerrät:innen sicherstellen.
FLORIAN WIECZOREK konzipiert in seinem Beitrag ein staatsbürgerliches Ehrenamt für Beteiligung, das es Bürger:innen ermöglichen soll, als Laienpolitiker:innen an Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Orientiert am Schöffenamt argumentiert er, dass die rechtliche Regelung eines solchen Ehrenamtes die Teilnahme an Bürgerratsprozessen steigern und die Akzeptanz und Selbstverständlichkeit politischer Beteiligung stärken würde. Bezüglich der Umsetzung folgert Wieczorek, dass zunächst „die Freistellung und Entschädigung von Laienpoliker:innen für Beteiligungsverfahren von Vertretungskörperschaften und weiteren Behörden geregelt“ werden müsse, bevor dann im etwaigen „Zuge einer flächendeckenden, institutionalisierten Nutzung von Bürgerräten (…) ein umfassendes System, ähnlich wie bei den Laienrichter:innen und getragen von einer eigenen Administration, geschaffen werden“ könnte.
ORTWIN RENN macht einen Vorschlag, wie die Durchführung von Bürgerräten auf nationaler Ebene verstetigt, professionalisiert und verbessert werden könnte. Auch Renn setzt auf einen mehrstufigen Umsetzungsprozess. Kurzfristig schlägt er den niedrigschwelligen Ansatz vor, beim Deutschen Bundestag eine dem Ältestenrat unterstellte Organisationseinheit „Beteiligung“ zu schaffen. Diese Einheit könnte Bürgerräte durchführen, bis Einigung über eine dauerhafte institutionelle Lösung erreicht ist. Langfristig sei die Gründung einer öffentlichen Stiftung richtig, die institutionelle Kontinuität, Unabhängigkeit, organisatorische Effizienz, finanzielle Nachhaltigkeit und wissenschaftliche Evaluation sicherstellen könnte. Renn folgert, dass eine klare und transparente Organisationsstruktur und Anbindung an das politische System die Durchführung signifikant verbessern könnten.
Bürgerräte und neue politische Möglichkeitsräume
Die im Symposium versammelten Beiträge zeigen, dass Bürgerräte bereits auf unterschiedlichen politischen Ebenen und in unterschiedlichen Politikfeldern zum Einsatz kommen, dass ihnen unterschiedliche Funktionen oder Aufgaben zugewiesen werden können und dass zudem relativ konkrete Vorschläge für ihre Institutionalisierung oder Verstetigung vorliegen. Aus der Perspektive der Forschung bleibt festzuhalten, das Bürgerräte für das politische System neue Möglichkeitsräume eröffnen, die durchaus das Potenzial haben, demokratische Prozesse und Entscheidungen in für die Demokratie herausfordernden Zeiten zu transformieren. Mit Bürgerräten entstehen neue Möglichkeiten demokratische Legitimität zu generieren, denn Bürgerinnen und Bürger können hier auf andere Art und Weise mit politischen Repräsentantinnen und Entscheidungsträgerinnen zusammenkommen, was ein anderes demokratisches Zusammenhandeln möglich macht. Daraus lässt sich nun abschließend folgern, dass Fragen um die Institutionalisierung oder Verstetigung von Bürgerräten nicht nur Fragen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit oder politischen Organisation sind. Vielmehr verweisen sie auf eine grundsätzlichere Weichenstellung: ob und wie sich das demokratische Selbstverständnis weiterentwickeln soll. Bürgerräte werfen damit grundsätzliche Fragen nach der Offenheit des politischen Systems auf und ob eine Gesellschaft bereit ist, neue Formen der Legitimation nicht nur zu erproben, sondern dauerhaft zu integrieren.