Die Bundesversammlung als Quasi-Parlament?
Der Vor- und der Vor-Vorgänger unseres gegenwärtigen Bundespräsidenten, Horst Köhler und Christian Wulff, hatten bekanntlich wenig zu lachen während ihrer ruhmlosen Amtszeiten. Jetzt könnte ihnen obendrein noch widerfahren, dass ihnen im Nachhinein die demokratische Legitimation ihrer Wahl (bei Köhler jedenfalls die zweite Amtszeit) aberkannt wird. Das ist die Folge einer hier schon mal behandelten Klage eines NPD-Politikers, der vor dem Bundesverfassungsgericht darauf klagt, dass die Bundesversammlung 2009 und 2010 jeweils nicht korrekt zusammengesetzt war.
Heute hat der Zweite Senat bekannt gegeben, am 11. Februar 2014 darüber eine mündliche Verhandlung abhalten zu wollen.
Dem Kläger geht es (zumindest an der Oberfläche) hauptsächlich um die Art, wie die von den Landtagen gewählte Hälfte der Bundesversammlungsmitglieder an ihre Posten kommen – nämlich über eine Art Blockwahl. Das kann man unsauber finden, wenngleich mein Entsetzen über diese Praxis sich in Grenzen hält.
Außerdem empört er sich, dass der Präsident der Bundesversammlung (kraft Amtes der Bundestagspräsident) nicht zulassen wollte, dass sich die verschiedenen zur Wahl stehenden Kandidaten (im Fall der NPD der völkische Klampfenmann Frank Rennicke) erst mal ausführlich vorstellen, und andere angebliche Übergriffe mehr.
Die politische Absicht hinter dieser Klage dürfte auf der Hand liegen. Rechtlich wirft sie allerdings tatsächlich eine ziemlich spannende Frage auf: Was ist das überhaupt, eine Bundesversammlung?
Der Kläger hat eine Organklage eingelegt, d.h. er möchte festgestellt haben, dass er in seinen Rechten als Mitglied der Bundesversammlung verletzt ist. Was könnten das für Rechte sein?
Nicht ganz trivial ist schon die Frage, ob die Organklage eines Mitglieds einer Bundesversammlung überhaupt zulässig ist. Immerhin steht in § 63 BVerfGG folgendes:
Antragsteller und Antragsgegner können nur sein: der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe.
Von der Bundesversammlung ist da nicht die Rede. Das BVerfG sieht das zwar gelegentlich locker. Die Bundesversammlung ist immerhin vom Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet. Aber ihre einzelnen Mitglieder sind, anders als die Abgeordneten des Bundestags, jedenfalls nicht offensichtlich vom Grundgesetz mit eigenen organschaftlichen Rechten ausgestattet, zu deren Wahrung sie nach Karlsruhe ziehen müssten.
Der Kläger sagt, die Statusrechte der Bundestagsabgeordneten aus Art. 38 I 2 GG – also das freie Mandat – gelten analog auch für die Mitglieder der Bundesversammlung. Aber tun sie das? Ist die Bundesversammlung wirklich eine Art Quasi-Parlament, deren Mitglieder eines verfassungsrechtlich garantierten Schutzraums bedürfen?
Ich könnte mir da zwei Sichtweisen vorstellen: Einerseits könnte man sagen, die Bundesversammlung sei ihrem hochtrabenden Namen zum Trotz eigentlich gar keine Versammlung, sondern nur eine besondere Art, aus Bundestag und Landtagen eine Mehrheit zu generieren. Schließlich heißt es in Art. 54 I GG ausdrücklich, dass sie den Bundespräsidenten “ohne Aussprache” wählt. Verfassungsorgan ist aus dieser Sicht die Bundesversammlung selbst, aber nicht ihre Mitglieder.
Andererseits war zumindest die Bundesversammlung 2010 tatsächlich eine hoch politische Sache. Wulff verfehlte bekanntlich zweimal die absolute Mehrheit. Wenn dort aber Politik gemacht wird – anders als beispielsweise im amerikanischen Electoral College – , muss dann den Mitgliedern nicht auch der Schutz des freien Mandates zugestanden werden?
Wie immer man sich entscheidet – eins halte ich für ziemlich ausgeschlossen, nämlich dass Karlsruhe tatsächlich nachträglich die Wahlen für ungültig erklärt und die Präsidentschaften Köhler II und Wulff aus den Staatsannalen tilgt. Erstens ist das Organklageverfahren erst mal nur dazu da, gegebenenfalls eine Verletzung von Organrechten festzustellen, nicht irgendetwas für ungültig zu erklären. Zweitens ist es auch bei Anfechtungen von Bundestagswahlen so, dass selbst wenn tatsächlich die Wahl für ungültig erklärt wird, deshalb noch lange nicht alle von diesem Bundestag beschlossenen Gesetze nichtig sind.
Im Übrigen gibt es auch einen entsprechenden Antrag im Organstreitverfahren bzgl. der 15. Bundesversammlung (Wahl Gauck). Ich habe mich zunächst gewundert, weshalb das nicht gleich mitverhandelt wird. Das hätte ja umso näher gelegen, als dieser Präsident immerhin noch im Amt ist. Ich vermute mal, der Grund liegt bei Richter Müller. Er war selbst Mitglied der 13. und 14. Bundesversammlung. Deshalb hat das BVerfG für diese Verfahren auch bereits entschieden, das er ausgeschlossen ist. Das dürfte aber für die 15. Bundesversammlung nicht gelten. Daher kann man die Sachen wohl nicht gemeinsam verhandeln. Oder hat jemand eine andere Erklärung?