This article belongs to the debate » Die Verstetigung von Bürgerräten in Deutschland
14 May 2025

Wer ist dabei?

Zugang zu Bürgerräten ohne deutsche Staatsangehörigkeit

Bürgerrat ist nicht gleich Bürgerrat. Allzu pauschale Betrachtungen drohen aus dem Blick zu verlieren, dass über Chancen und Risiken des Formats weitgehend sein institutionelles Design entscheidet. Bürgerräte können vor allem dort wirksam werden, wo blinde Flecken des repräsentativen Systems liegen. Ein besonderes Potenzial von Bürgerräten liegt deshalb in der Beteiligung derjenigen Bevölkerungsteile, die von der Wahlteilnahme ausgeschlossen sind. Dazu gehören 14,1 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Um ihren Zugang zu Bürgerräten geht es in diesem Beitrag.

Gestaltbarkeit der Beteiligung

Die Bezeichnung „Bürgerrat“ kann in verschiedener Hinsicht falsche Erwartungen wecken. Die Popularisierung des Formats hat zwar zu der Erkenntnis beigetragen, dass es sich meist weniger um Orte der Entscheidung, als um Orte des Austauschs handelt. Aber es drohen nicht nur Verwechslungen mit Formen direkter Demokratie, sondern die Bezeichnung als „Bürgerrat“ kann auch in anderer Hinsicht den Blick verengen: Der Begriff des Bürgers könnte nahelegen, dass allein die wahlberechtigten deutschen Staatsangehörigen an dem Format beteiligt sind. Wer an den Bürgerräten teilnimmt, ist aber eine Frage der Ausgestaltung: So wurden die Teilnehmenden beim Bürgerrat „Ernährung“ unter den Einwohner:innen ab 16 Jahren und bei „Hallo Bundestag“ unter den Einwohner:innen ab 12 Jahren ausgelost. Am Bürgerrat „Demokratie“ und dem Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ konnten dagegen nur deutsche Staatsangehörige ab 16 Jahren teilnehmen.

Menschen, die in Deutschland leben, ohne die deutsche Staatsangehörigkeit zu haben, sind nach derzeitiger Rechtslage weitgehend von demokratischen Wahlen ausgeschlossen. Lediglich auf kommunaler Ebene sind diejenigen von ihnen wahlberechtigt, die Angehörige eines anderen EU-Mitgliedsstaates sind. Dieser Ausschluss der nichtdeutschen Wohnbevölkerung von Wahlen ist ein demokratisches Problem. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts entspricht es der „demokratischen Idee, insbesondere dem in ihr enthaltenen Freiheitsgedanken, eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen“ (BVerfGE 83, 37 [52]). Anders gesagt: Es widerspricht der demokratischen Idee, wenn Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben, von politischen Mitbestimmungsrechten ausgeschlossen bleiben. Es wird kontrovers diskutiert, welche Wege dem Gesetzgeber offenstehen, um die Inkongruenz zwischen denjenigen, die den Entscheidungen unterworfen sind, und denjenigen, die diese Entscheidungen legitimieren, abzubauen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Jahr 1990 der landesgesetzlichen Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts in den Weg gestellt und zum Abbau der Inkongruenz stattdessen auf das Staatsangehörigkeitsrecht als alternative Regelungsmöglichkeit verwiesen. Die Verfassungswidrigkeit des Ausländerwahlrechts sieht das Bundesverfassungsgericht im Kern darin begründet, dass „Wahlen, bei denen auch Ausländer wahlberechtigt sind, […] demokratische Legitimation nicht vermitteln [können]“ (BVerfGE 83, 60 [81]). Überall dort, wo Staatsgewalt ausgeübt werde und damit Legitimationsbedarf entstehe, seien sie deshalb von Wahlen auszuschließen. Folgt man dieser Argumentation, hängt die Übertragbarkeit dieser Rechtsprechungslinie auf die Bürgerräte davon ab, ob Bürgerräte Staatsgewalt im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG ausüben. Solange diese Schwelle nicht erreicht ist, fehlen auch nach diesen restriktiven Legitimationsvorstellungen verfassungsrechtliche Anhaltspunkte dafür, dass die Teilnahme an Bürgerräten den Deutschen (im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG) vorbehalten sein müsste.1) Unabhängig von der Streitfrage, wo diese Schwelle genau liegt,2) gilt: Solange Bürgerräte keine Staatsgewalt ausüben, bedürfen sie keiner demokratischen Legitimation, sodass ihre Ausgestaltung auch nicht den hierfür aufgestellten Regeln zu folgen hat. Was teils als Schwäche der Bürgerräte begriffen wird – die mangelnde faktische wie rechtliche Verbindlichkeit der erarbeiteten Ergebnisse –, eröffnet also zunächst einmal Gestaltungsspielräume.

Möglichkeiten nutzen, Potenziale realisieren

Der Charakter des Bürgerrats als deliberatives Beteiligungsformat eröffnet damit die Möglichkeit, den Teilnehmerkreis auf Menschen auszuweiten, die nicht wahlberechtigt sind. Der sich hieraus ergebende Gestaltungsspielraum ist auch aus verfassungsrechtlicher Sicht interessant. Denn das Grundgesetz setzt nicht nur Grenzen, sondern will auch mit Leben gefüllt werden. Sich aus der Suche nach Orten der Demokratie und nach Möglichkeiten ihrer Vitalisierung auszuklinken, ist damit auch für die Verfassungsrechtswissenschaft keine Option.

Bürgerräte sollen die repräsentative Demokratie stärken und nicht schwächen.3) Sie können dann eine sinnvolle Ergänzung sein, wenn sie gezielt auf die Herausforderungen gelebter Demokratie antworten. Die Debatte um das Ausländerwahlrecht weist eindringlich auf eine solche Problemlage hin: Das demokratische Ideal der freien und gleichen Selbstbestimmung der Herrschaftsunterworfenen bleibt unerfüllt. Durch die Beteiligung der ausländischen Wohnbevölkerung an unverbindlichen Bürgerbeteiligungsformaten ist dieser Missstand natürlich nicht behoben. Das würde die Bedeutung der demokratischen Wahl ebenso grundlegend unterschätzen, wie es die Möglichkeiten von Bürgerräten überschätzen würde. Ohne Einbürgerung oder anderen Zugang zum Wahlrecht kann echte politische Gleichberechtigung nicht erzielt werden. Das schließt jedoch nicht aus, zusätzlich alternative Möglichkeiten der politischen Partizipation von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit in den Blick zu nehmen. Welche Potenziale liegen nun also in der Beteiligung von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit an losbasierten Bürgerräten?

„Ich bin gemeint“

Wenn aktiv auf Menschen zugegangen und um ihre Teilnahme an einem Bürgerbeteiligungsformat geworben wird, kann das Gefühl erzeugt werden, gemeint zu sein. Das kann zu gesteigertem Zutrauen in die eigene politische Wirksamkeit führen (dazu z.B. hier, S. 32). Diese Form der Wertschätzung zu erleben, kann für jede:n Einzelne:n einen Unterschied machen. Für Menschen, deren Stimme bisher kaum Gehör findet, gilt das umso mehr. Neben Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft betrifft dies auch Jugendliche und Menschen, die aus anderen Gründen kaum Teil des politischen Diskurses sind. Um ihre Teilnahme zu ermöglichen, genügt es nicht, allein das Los sprechen zu lassen. Stattdessen sind Teilnahmehürden aktiv abzubauen. Um die positiven Aspekte der Zufallsauswahl nicht ins Leere laufen zu lassen, sollte daher die „Dynamik der Selbstselektion“ durchbrochen werden, die sich „normalerweise zum Vorteil der Wohlhabenden und Gebildeten“ auswirkt (Lafont, 2021, S. 259). Andernfalls besteht die Gefahr, dass ungleiche Ressourcenverteilung – wie bei der Wahlabstinenz (s. dazu Schäfer, 2015, S. 121 f.) – in ungleiche Beteiligung mündet. Es sind also Strategien zu entwickeln, um dem entgegenzuwirken (z.B. das „aufsuchende Losverfahren“).

Gesellschaftliche Begegnungsräume

Die Teilnahme von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist aber nicht nur aus individueller Perspektive ein Gewinn. Stattdessen rückt man durch ihre Teilnahme dem Ziel eines inklusiven politischen Diskurses insgesamt ein entscheidendes Stück näher (s. dazu Bauböck). Das Losen aus einem so breiten potenziellen Teilnehmerfeld erzeugt viele unwahrscheinliche Begegnungen: Zusammentreffen, für die es keinen anderen Ort gibt. In einem politischen System, das auf gegenseitiger Anerkennung baut, braucht es solche „Räume gesellschaftlicher Allgemeinheit“ (Möllers, 2. Aufl. 2009, S. 37). Gelingt in diesen „Mini-Öffentlichkeiten“ ein Austausch auf Augenhöhe und ein respektvolles Miteinander, kann Empathie gefördert und Selbstwirksamkeit erlebt werden (s. dazu Kübler/Leggewie/Nanz, S. 52). Das kann aus demokratischer Sicht in verschiedener Hinsicht wertvoll sein: Einerseits kann das Erleben dieses Miteinanders demokratische Werte stärken. So kann der Zusammenhang zwischen Vertrauen in den Menschen und dem Vertrauen in politische Institutionen empirisch belegt werden (dazu hier, S. 15). Und auch die Selbstwahrnehmung als Teil einer Gesellschaft, für die alle gemeinsam Verantwortung tragen, kann gestärkt werden (s. dazu Mau, 4. Aufl. 2024, S. 136). Andererseits können hier unter besonders guten kommunikativen Bedingungen Vorschläge entwickelt werden, die andernorts nicht entstehen können. Letzteres darf jedoch nicht dazu verleiten, das Gelingen des Formats allein daran zu bemessen, inwiefern diese Vorschläge politisch aufgegriffen werden.

Stattdessen ist der Gefahr enttäuschter Erwartungen durch allseitiges Erwartungsmanagement zu begegnen: Das Format muss sich selbst, den Teilnehmenden und der Öffentlichkeit in seinen Möglichkeiten und Grenzen bewusst sein. Wo diese liegen, ist vor allem eine Frage der konkreten Ausgestaltung: Auf welcher Ebene des demokratischen Systems wird der Bürgerrat eingesetzt? Ist er auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene angesiedelt? Wer setzt einen solchen Bürgerrat ein? Durch wen erfolgt das Agenda Setting? Aus diesen Parametern ergeben sich vielfältige Kombinationsmöglichkeiten. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem institutionellen Design so entscheidend. So steht etwa ein vom Bundestag eingesetzter Bürgerrat, für den Menschen aus ganz Deutschland zusammenkommen, unter ganz anderen Vorzeichen als ein Bürgerrat, der sich auf lokaler Ebene zusammensetzt. Der geweitete Blick für unterschiedliche Ausgestaltungsmöglichkeiten erlaubt es, institutionelle Formen zu entwerfen, die nicht in systematische Konkurrenz zum parlamentarischen Repräsentationsanspruch treten, sondern dessen praktische Schwächen adressieren.

Viel zu gewinnen

Es ist schwer, verlorengegangenes Vertrauen in Demokratie wiederzugewinnen. Das ist Auftrag und Mahnung zugleich: Die Formate müssen erprobt, evaluiert, kritisiert und weiterentwickelt werden. Die Verantwortung gegenüber der repräsentativen Demokratie stets vor Augen, ist bei der Ausgestaltung von Bürgerräten in den Blick zu nehmen, wo ihre spezifischen Potenziale liegen. Freiheiten und Möglichkeiten des Formats sollten genutzt werden, um Demokratie zugänglicher zu machen – gerade durch die Beteiligung derer, die andernorts keine Stimme haben. Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit haben im repräsentativen System keinen festen Platz. Gerade deshalb ist es so wichtig, ihnen diesen Platz in Bürgerräten einzuräumen.

Pola Brünger ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Projekts „Hallo Bundestag“. Sie gibt hier ihre persönliche Auffassung wieder.

References

References
1 S. dazu Ferdinand Weber, Auf der Welle der Deliberative(n), JöR 71 (2023), S. 259 (262).
2 S. dazu Matthias Friehe, Neben-Parlament Bürgerrat?, ZParl 2024, S. 263 (268 m. w. N.).
3 Für diesbezügliche Warnungen, s. nur; Philip Manow, Repräsentative Politik zwischen Demokratisierung und Entdemokratisierung, APuZ 2021, S. 32 (34); Frank Decker, »Bringen ausgeloste Bürgerräte die Demokratie voran?«, NG/FH v. 18.5.2022; Christoph Möllers, Das Politische, das Soziale – und das Deutsche, Merkur 2024, S. 55 (57, 62).

SUGGESTED CITATION  Brünger, Pola: Wer ist dabei?: Zugang zu Bürgerräten ohne deutsche Staatsangehörigkeit, VerfBlog, 2025/5/14, https://verfassungsblog.de/burgerrate_demokratie_beteiligung/.

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