Campen als Protest
Zum versammlungsrechtlichen Schutz von Protest(infra)struktur
Protestcamps sind nicht nur „fester Bestandteil des G-7-Gipfels“, sondern generell weit verbreitet. Sie sind zwar kein neues Phänomen, waren Protestcamps doch schon in der Anti-Atomkraftbewegung der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein Mittel öffentlichkeitswirksamen Protests – erinnert sei nur an die „Republik Freies Wendland“. Erst in jüngerer Zeit beschäftigen sie aber, insbesondere in Form von „Klimacamps“, in großer Zahl die Verwaltungsgerichte und jüngst auch den 6. Senat des BVerwG. In den nunmehr veröffentlichten Entscheidungsgründen eines Urteils vom 24. Mai dieses Jahres (BVerwG 6 C 9.20) etabliert das BVerwG einen weitreichenden akzessorischen Schutz logistisch notwendiger Protestinfrastruktureinrichtungen und bringt damit in begrüßenswerter Weise dogmatische Schärfe in eine bislang offene Rechtsfrage. Problematisch werden die Ausführungen hingegen, soweit sie – über den Streitgegenstand hinaus – den Schutz von Dauerversammlungen betreffen. Und auch die Frage nach dem unmittelbaren Schutz von selbstgewählten Proteststrukturen, also solchen Einrichtungen und Anlagen, die selbst eine kommunikative Funktion erfüllen und damit integraler Bestandteil der Versammlungstätigkeit sind, bleibt offen.
Protestcamps als Kommunikationsformen und -orte
Das besondere (Konflikt‑)Potenzial von Protestcamps ergibt sich aus ihrer spezifischen Struktur: Zum einen artikulieren sie mit einer besonderen Wirkkraft Meinungen. Diese folgt nicht nur aus der Manifestation des kommunikativen Anliegens in der andauernden Inanspruchnahme des öffentlichen Raums, sondern gegebenenfalls auch aus der Wahl des Ortes – man denke nur an die Camps im Hambacher Forst, dem Hamburger Stadtpark oder neben dem Bundeskanzleramt in Berlin. Dabei eröffnen sie ihrerseits Kommunikationsräume, in denen etwa durch Vorträge und Workshops nicht nur für bestehende Positionen geworben, sondern politische Forderungen zur Diskussion gestellt und weiterentwickelt werden. In ihnen kommt eine strukturelle Besonderheit der Versammlungs- gegenüber der Meinungsäußerungsfreiheit zum Ausdruck: Die Verklammerung zu einem Kollektiv führt nicht nur zu einer aufmerksamkeitsverstärkenden Summierung individueller Meinungen, sondern eröffnet einen Kommunikationsraum, in dem diese auch in kollektiver Wechselwirkung überformt werden (können).
Zum anderen sind Protestcamps nicht ohne die Errichtung und Nutzung von Infrastruktur wie Schlafgelegenheiten, mobilen Küchen und sanitären Anlagen durchführbar. Sie bilden also gleichzeitig vorübergehende Lebensorte. Dieser Umstand ist Versammlungsbehörden, aber auch Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur mitunter ein Dorn im Auge – pointiert ist die Rede etwa von der „‚Möblierung‘ der Innenstädte“. Mangels einschlägiger Rechtsprechung aus Leipzig oder Karlsruhe (dort findet sich nur ein im einstweiligen Rechtsschutz erteilter Hinweis darauf, dass die Frage, „ob und in welchem Umfang Art. 8 Abs. 1 GG die Einrichtung von Protestcamps unter Inanspruchnahme öffentlicher Anlagen schützt“ eine „schwierige und in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ungeklärte“ sei) bestanden hinsichtlich des Schutzes von Veranstaltungseinrichtungen durch Art. 8 Abs. 1 GG und die Versammlungsgesetze bislang keine einheitlichen dogmatischen Leitlinien. Zwar formulierten viele OVGs in großer Übereinstimmung, dass ein Schutz der Errichtung und Nutzung von Infrastruktureinrichtungen davon abhänge, ob diese an einem „objektiven“ Maßstab bemessen funktional, symbolisch oder konzeptionell notwendig für die kollektive Meinungskundgabe seien (so auch das OVG NRW als Vorinstanz der aktuellen Entscheidung des BVerwG, Rn. 64). Allerdings ist mit dieser Formel nicht viel gewonnen – wann ist eine Einrichtung etwa an einem wie auch immer zu bestimmenden „objektiven“ Maßstab bemessen „symbolisch notwendig“? Dementsprechend heterogen gestaltete sich auch ihre Anwendung durch die VGs und OVGs. Im Übrigen wird der Schutz von Versammlungseinrichtungen und -anlagen damit, wie gleich noch zu zeigen sein wird, zu eng geführt.
Die Entscheidung des BVerwG
Das BVerwG hat sich nunmehr ausführlich zu den verfassungs- und versammlungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Protestcamps eingelassen. Den Gegenstand der Entscheidung bildete ein Klimacamp im rheinischen Braunkohlerevier. Während das zuständige Polizeipräsidium Aachen die Nutzung zweier Grundstücke unter anderem mit Zirkuszelten, Feldküchen, Versorgungs- und Veranstaltungs-, aber auch Schlafzelten und einer Bühne noch „vorsorglich“ als Versammlung behandelte (Flurstück 55 mit naheliegendem Sportplatz), kam es zum Rechtsstreit um ein hiervon ca. 800 m entfernt liegendes Grundstück (Flurstück 65), das allein zu Übernachtungszwecken und für Sanitäranlagen, nicht aber für die „eigentliche“ Versammlung genutzt werden sollte (Rn. 3 f.). Die Klägerin, die spätere Veranstalterin und Versammlungsleiterin, stellte den Antrag an das Polizeipräsidium Aachen, die Qualität der Nutzung des Flurstücks 65 als Versammlung festzustellen. Nachdem das Polizeipräsidium diese Qualifikation abgelehnt hatte, begehrte die Klägerin die gerichtliche Feststellung der Versammlungsqualität der Nutzung, die vom VG Aachen in erster Instanz abgewiesen wurde. Das OVG NRW gab der Berufung der Klägerin statt. Schließlich wies das BVerwG die hiergegen gerichtete, vom OVG zugelassene Revision der Beklagten zurück.
Umfassender Schutz logistisch notwendiger Infrastruktur
Bei der Bewertung der Nutzung des Flurstücks 65 zu Übernachtungszwecken knüpft das BVerwG maßgeblich an die generell zum Wesensmerkmal von Protestcamps erhobene Dauer der Hauptversammlung an. Sie begründe einen spezifischen infrastrukturellen Bedarf an Verpflegungs-, Übernachtungs- und Sanitäranlagen (Rn. 17). Vor diesem Hintergrund hat das Gericht an der durch das OVG NRW vorgenommenen Einbeziehung der Schlaf- und Sanitäreinrichtungen auf Flurstück 65 in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG und den Anwendungsbereich des zu diesem Zeitpunkt in NRW noch fortgeltenden Bundesversammlungsgesetzes keine rechtlichen Zweifel. Dabei knüpft es an zwei tatsächliche Parameter an: zum einen die logistische Erforderlichkeit der Infrastruktureinrichtungen (das OVG NRW spricht von „funktionalversammlungsspezifischen Begleiteinrichtungen“), zum anderen ihre räumliche Zurechenbarkeit (Rn. 27). Anders als in der Rechtsprechung der OVGs (s. z.B. OVG Hamburg, Rn. 40; OVG NRW, Rn. 36; weitere Nachweise hier) und in der Literatur bisweilen argumentiert wird, soll demgegenüber eine „inhaltliche Verknüpfung“ der Infrastruktur mit der konkreten Meinungskundgabe (vorstellbar ist etwa das emissionsarme Kochen in einem Klimacamp) nicht erforderlich sein, da andernfalls der Schutz der „eigentlichen“ Versammlung leerzulaufen drohe (Rn. 29).
Damit formuliert das BVerwG vergleichsweise geringe Anforderungen an den Schutz von Versammlungsinfrastruktur. Ob das Kriterium der räumlichen Zurechenbarkeit – das im konkreten Fall aufgrund einer „räumlichen Einheit“ der Grundstücke angenommen wird (Rn. 26) – neben der logistischen Erforderlichkeit wirklich dogmatischen Selbststand haben kann, ist allerdings zweifelhaft: Erstens entfällt mit zunehmender räumlicher Distanz zur Kernversammlung typischerweise die logistische Erforderlichkeit. Zweitens ist es nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall auch räumlich entfernte Infrastruktureinrichtungen (z.B. für die technische Realisierung erforderliche Server) logistisch für die Durchführung einer Versammlung erforderlich sein können und daher an deren Schutz teilhaben sollten.
Letztlich kann es daher nur auf die logistische Erforderlichkeit ankommen. Mit diesem Kriterium wird die grundsätzliche Subsidiarität versammlungseigener gegenüber lokal vorhandener Infrastruktur statuiert. Der (akzessorische) Schutz durch Art. 8 Abs. 1 GG und die Versammlungsgesetze scheidet aus, wenn vor Ort hinreichende Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeiten sowie Sanitäranlagen vorhanden sind. Das BVerwG deutet jedoch an, dass in diesen Fällen eine „Vorwirkung“ der Versammlungsfreiheit – nicht aber der Versammlungsgesetze – in Betracht kommen könne (Rn. 30). Im Einzelnen bleiben Status und Reichweite dieser „Vorwirkung“ allerdings offen. Mit ihr scheint ein Perspektivwechsel verbunden zu sein: Während der Schutz von logistisch notwendigen Infrastruktureinrichtungen (vor allem) die Veranstalter:innen betrifft, geht es bei der „Vorwirkung“ um den Schutz der individuellen Teilnahme an der Versammlung. In welchem Maße die Teilnahme allerdings gefährdet sein muss, um die „Vorwirkung“ von Art. 8 Abs. 1 GG auszulösen, ist auch nach der jüngsten Entscheidung des BVerwG (wie schon hier, Rn. 31) unklar. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die Rechtsprechung die „Vorwirkung“ neben der Kategorie der logistisch erforderlichen Infrastruktur operationalisieren wird.
Selbstbestimmungsrecht über die Dauer der Versammlung
Streitgegenstand der Entscheidung des BVerwG war ausschließlich die Nutzung von Übernachtungs- und Sanitäreinrichtungen auf Flurstück 65. Zur Qualifikation anderer Einrichtungen und Anlagen wie beispielsweise der Veranstaltungszelte musste sich das BVerwG nicht unmittelbar äußern. Die Nutzung des Flurstücks 55 und des Sportplatzes war nur von mittelbarer Relevanz, insofern als ihre Qualifikation als Versammlung auch über den akzessorischen Schutz der logistischen Infrastruktur entschied. Obwohl zwischen den Beteiligten unstreitig, führt das BVerwG zur Versammlungseigenschaft aus und stellt dabei einige dogmatische Überlegungen über den Schutz von Dauerversammlungen an.
In den Vordergrund rückt das BVerwG das Selbstbestimmungsrecht der Teilnehmer:innen, das sich auch auf die Dauer der Versammlung erstrecke – nur um wenig später einzuschränken, dass eine längere Dauer dem Schutz als Versammlung grundsätzlich nicht entgegenstehe (Rn. 22, s. auch Ls. 1). Dabei zieht das BVerwG dem Selbstbestimmungsrecht der Teilnehmer:innen über die Dauer der Versammlung zwar keine unmittelbare oder absolute Grenze. Es sieht jedoch in einer „sehr langen, etwa auf viele Monate oder gar Jahre angelegten Dauer“ ein Indiz dafür, dass kein versammlungsspezifischer Zweck vorliege (Rn. 23). Das vermag nicht zu überzeugen. Über die Qualifikation als Versammlung entscheiden gerade nicht die Modalitäten, sondern das mit ihnen verbundene kommunikative Anliegen, die Ausrichtung auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Ein derartiges Indiz ist damit nicht nur überflüssig – nicht absehbar ist auch, welche prozessualen Darlegungslasten über die Substantiierung des kommunikativen Anliegens hinaus für die Veranstalter:innen aus ihm folgen sollen. Völlig zurecht stellt das BVerwG im Anschluss selbst fest, dass durch die Dauer bedingte Beeinträchtigungen keine Frage des Versammlungsbegriffs, sondern der Abwägung sind (Rn. 24). Hier hätten die Ausführungen – so sie denn im konkreten Streitfall überhaupt geboten waren – ihren richtigen Platz gehabt.
Einrichtungen als kommunikative Gestaltungsmittel
Die Notwendigkeit, sich weitergehend zum Schutz der auf Flurstück 55 und dem Sportplatz befindlichen Einrichtungen und Anlagen zu äußern, bestand für das BVerwG nicht. An dieser Stelle liegt aber ein weiterer wichtiger Aspekt des versammlungsrechtlichen Schutzes von Einrichtungen und Anlagen, den es hervorzuheben lohnt: Diese können nämlich nicht nur als logistisches Hilfsmittel zur Durchführung einer Dauerversammlung erforderlich, sondern selbst kommunikative Gestaltungsmittel sein. Als solche sind sie auf unmittelbare Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet und mithin integraler Bestandteil des kommunikativen Anliegens der Versammlung. Man denke insofern an Workshops in Veranstaltungszelten auf Klimacamps oder das Aufstellen von Betten, um mit dem Akt des Schlafens auf die „verschlafene“ Klimapolitik aufmerksam zu machen. Insofern wäre es verfehlt, den Schutz von Einrichtungen und Anlagen an die infrastrukturelle Gewährleistung einer Dauerversammlung anzuknüpfen, sind die Einrichtungen und Anlagen doch ihrerseits ratio der Dauerhaftigkeit. Das in der OVG-Rechtsprechung dem logistischen Bezug gegenübergestellte Kriterium des „symbolischen“ Bezugs erfasst diesen Zusammenhang nicht präzise: Es geht eben nicht darum, dass ein eigenständiger Kommunikationsakt symbolisch verstärkt wird, sondern um die Einbettung und Kundgabe des kommunikativen Anliegens in und durch die Nutzung von Einrichtungen und Anlagen selbst.
Ausblick
Bei der verfassungs- und versammlungsrechtlichen Bewertung von Einrichtungen muss also differenziert werden (so auch schon hier): Zum einen können sie als (Hilfs‑)Infrastruktur akzessorisch am Schutz der (eigentlichen) Versammlung teilhaben. Das wird vor allem bei Protestcamps relevant, bei denen die Dauer der Versammlung spezifische infrastrukturelle Vorkehrungen erfordert. Die Entscheidung des BVerwG hat sich in dieser Hinsicht mit der „logistischen Erforderlichkeit“ (und der „räumlichen Zurechenbarkeit“) darum bemüht, dogmatisch operationalisierbare Kriterien zu schaffen. Sie werden hinreichende Schärfe freilich erst im Prozess ihrer Anwendung auf unterschiedliche Lebenssachverhalte gewinnen. Zum anderen können Einrichtungen und Anlagen als kommunikative Gestaltungsmittel selbst und unmittelbar in den Genuss des Schutzes der Versammlungsfreiheit und der Versammlungsgesetze kommen. In Form und Ausgestaltung variable Einrichtungen dürfen nicht auf eine infrastrukturelle Hilfsfunktion für die Durchführung von (Dauer‑)Versammlungen reduziert werden. Vielmehr müssen sie als Ausdruck der Pluralität demokratischer Expressions- und Partizipationsformen respektiert, nicht prinzipiell als Störungen des öffentlichen Raums ausgeklammert werden. Wie der demokratische Prozess als Ganzes lebt (gerade) auch die Versammlungsfreiheit von Provokation, Störung und Raumnahme – der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit wird nur verlassen, wo sie in Unfriedlichkeit umschlägt. Ob mit Versammlungen notwendigerweise verbundene Beeinträchtigungen von Rechten Dritter und der Allgemeinheit die Grenze des (verfassungs‑)rechtlich Hinzunehmenden überschreiten, ist (und bleibt) dagegen eine Frage der Abwägung.