Das „Grundrecht auf Autofahren“ als Grenze demokratischer Stadtgestaltung?
Warum der Berliner Senat in seiner Entscheidung über „Berlin autofrei“ einem verfassungsrechtlichen Missverständnis aufsitzt
Diese Woche wurde bekannt, dass der Berliner Senat das Volksbegehren „Berlin autofrei“ für unzulässig erklärt hat. Das Volksbegehren verstoße gegen das Grundgesetz, da es einen unverhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit darstelle. Die Entscheidung lässt aufhorchen. Kann es wirklich sein, dass das Interesse, mit dem Auto durch Berlin zu fahren, ein politisches Projekt zur radikalen Umgestaltung des urbanen Raums verfassungsrechtlich unzulässig macht? Wie im Folgenden zu zeigen ist, beruht das Votum des Senats auf einem grundsätzlichen Missverständnis der Reichweite des Schutzes der allgemeinen Handlungsfreiheit, das zu einer gravierenden Einengung politischer Handlungsspielräume führt.
Vorzeitiges Aus für ein Projekt zur radikalen Umgestaltung des urbanen Raums?
Die lebenswerte Gestaltung urbaner Räume gehört zu den großen Zukunftsfragen. Galt in der Nachkriegszeit die „autogerechte Stadt“ als erstrebenswertes Leitbild, wird heute angesichts des immens gestiegenen Fahrzeugbestands gefragt, inwieweit die Belastungen durch Lärm und Abgase, aber auch die Inanspruchnahme öffentlicher Flächen durch parkende Autos noch hingenommen werden sollen. Fußgängerzonen und Fahrradstraßen prägen vielerorts schon längst das Stadtbild. Einen ungleich radikaleren Schritt plant das Volksbegehren „Berlin autofrei“ (vgl. bereits hier): Nach dem Gesetzesentwurf soll der Autoverkehr im ganzen Berliner S-Bahn-Ring grundsätzlich verboten werden, Ausnahmen sind u.a. für den Lieferverkehr, zur Beförderung von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sowie für zwölf private Fahrten pro Jahr vorgesehen. Eine derart radikale Veränderung ist politisch natürlich hoch umstritten. Ob das Volksbegehren Aussicht auf eine Mehrheit hat, erscheint ziemlich unsicher. Nun geht es aber erst einmal um die Frage, ob überhaupt abgestimmt wird. Das Votum des Senats bedeutet noch nicht das endgültige Aus der Initiative. Ein Einspruch beim Verfassungsgerichtshof Berlin ist möglich und bereits angekündigt worden. Hat der Senat also Recht: Verstößt das Volksbegehren gegen Art. 2 Abs. 1 GG, weil es in unverhältnismäßiger Weise in das von der allgemeinen Handlungsfreiheit mitumfasste „Grundrecht auf Autofahren“ eingreift? Dem ließe sich zunächst entgegenhalten, dass diesem Recht andere, gewichtigere Rechte und Verfassungsgüter gegenüberstehen, insbesondere die staatliche Schutzpflicht für das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und das Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG). Lässt man sich aber auf eine solche Abwägung ein, klingt der Standpunkt des Senats schon plausibel: Statt einen möglichst schonenden Ausgleich herzustellen, würde das Gesetz einseitig den letztgenannten Belangen den Vorzug geben, wird doch Autofahren ganz verboten. Der Entscheidung des Senats liegt nicht eine falsche Abwägung, sondern ein grundsätzliches Missverständnis der allgemeinen Handlungsfreiheit zugrunde: Sie versteht die durch das Auffangrecht gewährleistete Freiheit zu beliebigem Verhalten als Recht mit materiellem Gewicht, das politische Anliegen nur nach Maßgabe einer ausgleichenden Abwägung zulässt. Im Folgenden soll demgegenüber dargelegt werden, dass das Auffanggrundrecht zwar eine Reihe wichtiger Funktionen erfüllt, politische Gestaltungsfreiheit aber nicht substanziell beschränkt.
Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht
In den meisten Verfassungsstaaten bereiten gesetzliche Autofahrverbote keine Probleme: Sie kennen kein Auffanggrundrecht. Spezielle Freiheitsrechte, die vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und der Erkenntnis, dass bestimmte Verhaltensweisen für die persönliche Entfaltung oder das gesellschaftliche Zusammenleben besonders wichtig sind, in der Verfassung gewährleistet werden, genießen einen gewissen Schutz auch gegenüber der Gesetzgebung. Wo sie nicht greifen (und das ist beim Autofahren ziemlich sicher der Fall), bleibt der politische Prozess frei. Unter dem Grundgesetz sind nach dem verfassungsgerichtlichen Verständnis des Art. 2 Abs. 1 GG demgegenüber sämtliche Verhaltensweisen grundrechtlich geschützt. Es gibt also ein Grundrecht auf freies Belieben, zu dem auch ein „Grundrecht auf Autofahren“ zählt. Die Grundlagen hierfür hat das Bundesverfassungsgericht schon früh im Elfes-Urteil gelegt. Das Gericht konnte sich dabei auf eine Formulierung im Herrenchiemsee-Entwurf berufen. Gleichwohl war die Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit nicht selbstverständlich. Der Wortlaut hätte auch ein engeres Verständnis getragen, wie es seinerzeit Peters mit der Persönlichkeitskerntheorie vertrat. Jahrzehnte später hat Dieter Grimm in seinem prominenten Sondervotum noch einmal für eine Begrenzung des Grundrechtsschutzes auf für die Persönlichkeitsentfaltung erhebliche Tätigkeiten argumentiert und das Reiten im Walde als grundrechtlich irrelevant angesehen. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass das Elfes-Urteil auch aus einem historischen Kontext zu verstehen ist, als das BVerfG seine Rolle im politischen Gefüge der Bundesrepublik noch erkämpfen musste. Die starke Stellung des Gerichts beruht zu nicht unerheblichen Teilen auf der Ausweitung seiner Kontrollbefugnisse durch die Elfes-Doktrin. Dennoch sprechen verfassungstheoretisch gute Gründe für einen lückenlosen Schutz negativer Handlungsfreiheit. Dabei stellt sich aber die Frage, wie weit dieser Schutz reichen darf, wenn er nicht die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zur demokratisch-politischen Gestaltung aufzehren soll.
Bereits im Elfes-Urteil hat das BVerfG deutlich gemacht, dass die weite Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG nur tragbar ist, wenn das Recht auch weiten Beschränkungsmöglichkeiten unterliegt. Daher legt es die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ als Summe der verfassungsgemäßen Rechtsnormen und damit als einfachen Gesetzesvorbehalt aus. Dabei unterliegen einschränkende Gesetze aber ihrerseits verfassungsrechtlichen Schranken. Die Funktion der Elfes-Doktrin liegt gerade darin, allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen staatlichen Handelns bei Eingriffen in die negative Freiheit durch die Adressaten einklagbar zu machen. Vielfach ist damit keine signifikante Verkürzung politischer Gestaltungsfreiheit verbunden. Das gilt namentlich für zahlreiche rechtsstaatliche Grundsätze, die durch die allgemeine Handlungsfreiheit einklagbar werden (wobei die Rede von der Subjektivierung verdeckt, dass sie von vornherein im Interesse der Individuen bestanden und somit als Ausprägungen des Freiheitsstatus der Individuen im Verfassungsstaat angesehen werden können): (1.) der an die Verwaltung gerichtete Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes, der verwaltungsprozessual die umfassende Rügefähigkeit von Gesetzesverstößen durch Adressaten belastender Maßnahmen ermöglicht („Freiheit von ungesetzlichem Zwang“), (2.) der Vorbehalt des Gesetzes, der dafür sorgt, dass private Freiheit nur auf der Grundlage demokratischer Gesetzgebung eingeschränkt werden darf und der Delegation von Entscheidungsmacht an die Verwaltung im Eingriffsbereich Grenzen setzt, (3.) das Bestimmtheitsgebot, das den Normgeber verpflichtet Normen so abzufassen, dass die Anwendung vorhersehbar wird, (4.) der Grundsatz des Vertrauensschutzes, der Übergangsgerechtigkeit bei Normänderungen gewährleistet, sowie (5.) Verfahrensrechte wie insbesondere das Recht auf Anhörung. Problematischer ist die Elfes-Doktrin, wo sie zur Einklagbarkeit nicht individualschützender Verfassungsnormen führt. Wichtigstes Beispiel ist die Kompetenzordnung. So hob das BVerfG etwa die Brennelementesteuer auf eine Verfassungsbeschwerde der Kernkraftwerkbetreiber allein wegen eines Kompetenzverstoßes auf. Verfassungstheoretisch spräche einiges dafür, dass nur die jeweiligen Hoheitsträger Kompetenzverstöße geltend machen können. Für das weite Verständnis lässt sich aber immerhin anführen, dass ein Vertrauen das Gesetzgebers, dass Verfassungsverstöße nicht geltend gemacht werden, wenig schutzwürdig erscheint. Weitaus brisanter ist die allgemeine Handlungsfreiheit, wenn sie die politische Gestaltungsfreiheit materiell begrenzt.
Dimensionen der Verhältnismäßigkeitsprüfung
Damit ist die Bindung des in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreifenden Gesetzgebers an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angesprochen. Dieser Grundsatz ist die dogmatische Kategorie, die bei einschränkbaren Grundrechten über den Schutz privater Freiheit vor demokratisch-politischer Gestaltung entscheidet. Allerdings lassen sich verschiedene Elemente abschichten, bei denen das Spannungsverhältnis nicht gleichermaßen stark hervortritt. Eine relativ milde Bindung der politischen Gestaltungsfreiheit ergibt sich, wenn es nur um Rationalitätsanforderungen geht. Dazu zählt zunächst, dass Grundrechtseingriffe einem legitimen Ziel dienen müssen. Der demokratische Gesetzgeber ist zwar in der Setzung politischer Zwecke weitgehend frei. In einem Gemeinwesen, das die Individuen als Subjekte anerkannt, darf das Ziel der Einschränkung aber nicht darin bestehen, die grundrechtliche Freiheit zu unterbinden, weil sie irgendwie anstößig erscheint. Bei der von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Willkürfreiheit ist das besonders wichtig, weil nicht auf Schrankenebene doch wieder eine staatliche „Vernunfthoheit“ über die Individuen eingeführt werden darf. Hieraus ergeben sich namentlich Grenzen für paternalistische Regelungen. Weitere Rationalitätsanforderungen enthalten die Teilaspekte der Eignung und Erforderlichkeit: Eingriffszweck und -mittel müssen in plausibler Weise miteinander verknüpft sein, wobei aber nur evident untaugliche Mittel ausscheiden und solche Alternativen vorzuziehen sind, mit denen das Ziel gleich effektiv verwirklicht wird. Der Gesetzgebung Eingriffe zu versagen, die zur Verfolgung der demokratisch gewählten Gemeinwohlziele nicht nötig sind, wirft demokratietheoretisch kein Problem auf.
Demgegenüber zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen privater und politischer Freiheit deutlich bei der Abwägung von Mittel und Ziel im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Der Kern der national wie international seit langem geübten Kritik an der Abwägung im Verfassungsrecht besteht darin, dass sich keine rationalen Kriterien zur Gewichtung des Eingriffs und der damit verfolgten Ziele angeben ließen. In der Tat handelt es sich hier um Kriterien, für die sich keine gemeinsame Messskale finden lässt (Inkommensurabilität). Einigermaßen gut vergleichbar ist immerhin der Grad der Zielerfüllung und der der Eingriffsintensität. Es gibt Fälle, bei denen ein ganz erheblicher Eingriff das gesetzgeberische Ziel nur unwesentlich fördert, also „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“ wird. Dazu zählen insbesondere gerade noch erforderliche Eingriffe, wenn das mildere Mittel nur etwas weniger effektiv, aber deutlich grundrechtsschonender ist. Eine derart auf Disproportionalität beschränkte Prüfung lässt sich immer noch als Rationalisierungsanforderung begreifen, die auch beim Schutz der Willkürfreiheit tragfähig ist.
Bei den speziellen Freiheitsrechten bleibt das BVerfG zu Recht nicht bei dieser Prüfung stehen. Die Anerkennung eines Rechts im Grundrechtskatalog zeigt, dass es, selbst wenn es unter Gesetzesvorbehalt steht, auch gegenüber der Legislative Schutz genießen und daher ein besonderes Gewicht in gesetzgeberischen Abwägungen haben soll. Der Schutz ist zwar nicht absolut, andererseits soll aber nicht jede Bagatelle als Gemeinwohlziel ausreichen, um diese bedeutenden Rechte einzuschränken. Auch wenn es für die Gewichtung an klaren Maßstäben fehlt, kann sie doch intuitiv einleuchten. So ist beispielsweise klar, dass der Gesetzesvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel nicht dazu berechtigt, Demonstrationen allein zur Verbesserung der Leichtigkeit des Verkehrs zu verbieten. Verkehrsstörungen sind vielmehr in der Grundrechtsgewährleistung eingepreist. Das BVerfG führt aus, der Gesetzgeber dürfe die Versammlungsfreiheit „nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen“. Zu bestimmen, welche Rechtsgüter und Ziele zur Begrenzung welcher Modalitäten der Ausübung spezieller Freiheitsrechte ausreichen, ist die Aufgabe der Verfassungsdogmatik. Die Ergebnisse im Einzelnen sind sicherlich nicht immer zwingend, insgesamt haben die Verfassungsrechtsprechung und -wissenschaft die Aufgabe aber bislang überzeugend bewältigt.
Kein substanzielles Gewicht der allgemeinen Handlungsfreiheit
Die Besonderheit der allgemeinen Handlungsfreiheit besteht nun darin, dass ihr ein solches substanzielles Gewicht nicht zukommt. Wenn Verhaltensweisen von keinem der in der Verfassung als besonders wichtig anerkannten Rechte erfasst sind (wie weit diese reichen ist eine Frage der Auslegung und Verfassungsfortbildung; dabei kommt dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG besondere Bedeutung zu), darf dieses Ergebnis nicht durch eine selbstständige Wichtigkeits-Zumessung durch Verfassungsrichter ersetzt werden. Vielmehr unterliegt die politische Gestaltung in diesem Bereich keinen materiellen Grenzen. Der bloße Wille der Grundrechtsträger, so und nicht anders zu handeln, hat hinter dem in demokratischen Prozessen gebildeten Mehrheitswillen zurückzustehen, politische Ziele durch Beschränkungen dieser Handlungsfreiheit zu verfolgen. Beschränkungen müssen den rechtsstaatlichen Formen entsprechen und sich mit dem Ziel in rationaler Weise in Verbindung bringen lassen. Die demokratischen Mehrheiten müssen aber nicht nachweisen, dass ihre Ziele besonders gewichtig sind, wenn die Beschränkung privater Handlungsoptionen besonders weit reicht. Wenn die Grundrechtsträger diese Beschränkungen loswerden wollen, sind sie darauf verwiesen, sich hierfür im politischen Prozess einzusetzen.
Diskutabel wäre allenfalls, ob von dem hier skizzierten Modell, die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Bereich der allgemeinen Handlungsfreiheit auf eine Rationalitätskontrolle ohne umfassende Abwägung zu beschränken, Ausnahmen für bestimmte Bereiche anzuerkennen sind. Vielfach wird bei Art. 2 Abs. 1 GG von näher konturierten „Innominatfreiheiten“ wie der Ausreisefreiheit gesprochen, denen anders als dem „Reiten im Walde“ ein objektives, in Abwägungen hinreichend zu berücksichtigendes Gewicht zukomme. Auch wird dafür plädiert, dem Schutz von Verhaltensweisen von Ausländern, die für Deutsche in Spezialgrundrechten wie Art. 8 Abs. 1 GG erfasst sind, ein erhöhtes Gewicht beizumessen. Dabei liegt allerdings der Einwand nahe, dass (verfassungstheoretisch ggf. fragwürdige) Begrenzungen der sachlichen und persönlichen Reichweite der speziellen Freiheitsrechte des Grundgesetzes interpretatorisch nivelliert werden. Wenn man solche Ausnahmen dennoch anerkennen will, wird damit freilich gerade bestätigt, dass die bloße Willkürfreiheit im Unterschied zu ihnen kein Recht sein kann, dem in gesetzgeberischen Abwägungen ein materielles Gewicht zukommen muss.
Was bleibt vom „Grundrecht auf Autofahren“?
Versuche in den 1990er-Jahren, ein „Grundrecht auf Mobilität und Autofahren“ als ungeschriebenes substanzielles Recht zu begründen, das den sich „wie Krebsgeschwüre“ ausbreitenden Tempo-30-Zonen entgegengehalten werden könnte (Ronellenfitsch in der Zeitschrift „Deutsches Auto-Recht“ DAR 1992, 321 und 1994, 7), sind als Kuriosum in die Rechtsgeschichte eingegangen. Auch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet weder ein Recht auf Nutzung eigener Pkw an jedem beliebigen Ort, noch im Rahmen des „Anliegergebrauchs“ ein Recht auf Anfahren eigener Grundstücke mit dem Auto zu privaten Zwecken. Autofahren ist allgemeine Handlungsfreiheit, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Demokratischen Mehrheiten steht es daher frei, das Autofahren im urbanen Raum als sozialschädlich einzustufen und daher zu beschränken oder ganz zu verbieten. Dabei müssen sie rechtsstaatliche Grundsätze wahren, insbesondere hinreichend bestimmte Normen schaffen, und ein legitimes Ziel jenseits einer bloß gefühlsmäßigen Ablehnung des Autofahrens angeben. Dieses kann nicht nur in der Verkehrssicherheit, sondern gerade auch in der Gestaltung des urbanen Raums bestehen. Eine Abwägung ist aber nicht erforderlich. Dass der Eingriff gegenüber den rechtlich ohne weiteres zulässigen Teileinziehungen zur Schaffung von Fußgängerzonen und Fahrradstraßen quantitativ weiterreicht, spielt daher keine Rolle. Es bleibt zu hoffen, dass der Berliner Verfassungsgerichtshof dem überspannten Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit durch den Senat energisch widerspricht und damit das spannende Thema, wie die Stadt der Zukunft aussehen soll, in die Arena der politischen Auseinandersetzung zurückholt.
Wie segensreich dieser Versuch ist, den Minderheitenschutz des Grundgesetzes auf einige wenige, enumerativ benannte (und historische gefangene) Rechtsgüter und eine wirkungslose Willkürkontrolle zu reduzieren, zeigt die aktuelle Abtreibungsdebatte in den USA…
M.E. ist schon die – wenngleich verbreitete – Deutung als Auffanggrundrecht verfehlt. Richtigerweise ist die Allgemeine Handungsfreiheit vor dem Hintergrund der Menschenwürde des Grundgesetzes nicht Auffang-, sondern Urgrundrecht. Dem Freiheitsinteresse des Einzelnen aber generell kein materielles Gewicht beizumessen, wäre allerdings auch bei einer Deutung als Auffanggrundrecht kaum vertretbar.
Dass die Abwägung zwischen Gestaltungsfreiheit der Mehrheit und Entfaltung des Einzelnen dadurch nicht einfacher wird (und anfällig für politischen Missbrauch bleibt), ist unbestritten, ist im demokratischen Rechtsstaat aber hinnehmbar und notwendig. Denn ein Modell, in dem nicht der Staat, sondern der Einzelne für die Rechtsausübung rechtfertigungspflichtig wird, ist zwar ggf. demokratisch, aber kein (materieller) Rechtsstaat. Ich könnte dem hier entworfenen Grundrechtsbild daher nicht schärfer widersprechen.
Vielen Dank für diesen Kommentar, der mir Gelegenheit zu einer Klarstellung gibt: Es geht mir nicht darum, den Grundrechtsschutz auf einige wenige historisch gefangene Rechtsgüter zu beschränken. Die Verfassungsfortbildung zu den Spezialgrundrechten, insb. zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, die über das historisch angelegte deutlich hinausgeht und auf neue Gefährdungen z.B. angesichts der Informationstechnologie reagiert, begrüße ich ausdrücklich. Das Recht auf Abtreibung wäre unter dem Grundgesetz auch beim APR oder bei Art. 2 II 1 GG zu verorten und nicht beim Auffanggrundrecht. Notwendig ist dann aber, in der Verfassungsdogmatik herauszuarbeiten, warum bestimmte Verhaltensweisen eines starken Grundrechtsschutzes bedürfen. Und das muss eben über den bloßen Willen hinausgehen. Für den Rest ist es auch nicht so, dass der Einzelne und nicht der Staat rechtfertigungspflichtig wäre: Der Staat muss ein legitimes Ziel angeben, zu dem der Eingriff nicht unnötig ist, außerdem müssen die genannten rechtsstaatlichen Grundsätze eingehalten werden. Dass diese Anforderungen bei jedem Freiheitseingriff gelten sollen, ist in der Tat von zentraler Bedeutung für den Rechtsstaat, insofern kann Art. 2 I GG auch wirklich als Urgrundrecht bezeichnet werden. Dass aber das Interesse der Individuen zum Handeln nach freiem Belieben politische Gestaltungswünsche der Mehrheit nach Maßgabe einer undurchsichtigen Abwägung übertrumpfen können soll, mag man als materiellen Rechtsstaat ansehen, ist m.E. aber eine inakzeptable – und soweit ich weiß auch in keinem anderen Verfassungsstaat übliche – Schwächung der Demokratie.