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09 October 2012

Das Kölner Beschneidungsurteil und das Judentum, Teil 2: Jüdische Beschneidungspraxis

Wie das Judentum mit unbeschnittenen Mitgliedern umgeht, muss den Gesetzgeber nicht interessieren. Dennoch wäre es für die Debatte hilfreich, wenn jüdische Vertreter etwa darlegen würden, wieso die Beschneidung Minderjähriger nicht wenigstens bis zum 13. Lebensjahr verschoben werden könnte, ein Termin, der zumindest deutlich näher an dem staatlicherseits gesetzten Zeitpunkt der uneingeschränkten Religionsmündigkeit des 14. Lebensjahrs läge.

Ob der Gesetzgeber so weit gehen würde, den Betroffenen bereits zu einem so frühen Zeitpunkt die notwenige Eigenständigkeit für eine solche Entscheidung zuzutrauen, ist offen; Zweifel sind auch hier angebracht. Ähnlich wird es sich mit den eigenartigen, kaum mehr als Kompromiss zu bezeichnenden Empfehlungen des Ethikrats verhalten: Es kann davon ausgegangen werden, dass keines der Mitglieder des Rates sich oder gar seine Kindern zumal einer so invasiven Operation wie die Beschneidung unter den hier formulierten vagen Vorgaben unterziehen würde.

Denn was mit “qualifizierter Schmerzbehandlung“ und „fachgerechter Durchführung“ gemeint sein soll, bleibt offen. Die Brisanz dieser vagen Formulierungen wird deutlich, wenn man die breite Debatte um die Operationstechnik im Judentum kennt. Das vom Vertreter des Zentralrats der Juden im Ethikrat gezeigte Video belegt dies eindrücklich. Hier wurden – abgesehen von einer eher symbolischen Desinfektion des Penis offenbar allerdings mit einem Handdesinfektionsmittel – nicht nur die üblichen medizinischen Hygienevorschriften für das Umfeld, die Hände und die Instrumente nicht eingehalten. Es handelte sich dabei zudem um die auch in der innerjüdischen Diskussion vielfach kritisierte ultra-orthodoxe Umsetzung des Rituals mit dem Einreißen des inneren Vorhautblatts mithilfe der Fingernägel, dem Aussaugen der Wunde mit dem Mund und der ebenso häufig kritisierten Art der Blutungsstillung durch einen Druckverband, alles ohne jede Betäubung. Würde der Vertreter des Zentralrats, wohlgemerkt ein Mediziner und kein Rabbiner, in seiner ärztlichen Praxis so arbeiten, würde ihn dies vermutlich die Zulassung kosten.

Auch das aktuelle Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums schreibt diese Unklarheiten fort, obwohl diese das Vorhaben insgesamt fraglich erscheinen lassen. Die Probleme, die sich aus einem solchen Bruch mit der bestehenden Gesetzgebungstradition ergeben, sind zahllos. Zwar versucht man in diesem Entwurf der zweifachen Problematik einer Bevorzugung einiger Religionsgemeinschaften und der rechtlich für den Gesetzgeber nicht zulässigen Möglichkeit, selbst zu bestimmen, was nach einer religiösen Tradition angemessen sei oder nicht, zu entgehen: Damit ist die Beschneidung, und hier zudem jede mögliche Form, männlicher Minderjähriger jedoch für alle Personenkreise zulässig. Verdecken kann dies dennoch die Sonderstellung zweier spezifischer Religionsgemeinschaften keineswegs, denn schon die Begrenzung der Regelung auf die Genitalbeschneidung männlicher Personen unter implizitem Ausschluss der Vielzahl anderer religiöser oder sonst möglicher Körpermodifikationen legt dies nahe. Zugleich wird eindeutig die jüdische Religion gegenüber der islamischen Tradition bevorzugt, wie sich klar aus der eigenartigen Begrenzung der Vornahme der Operation durch Nicht-Mediziner auf die ersten sechs Lebensmonate ergibt.

Offenbar hofft man durch ein solches Gesetz den grundlegenden Einwand, dass dies nicht im Sinne des Kindeswohls sein kann, auszuhebeln: Tatsächlich wird dies dadurch aber keineswegs beantwortet, denn bislang war das einzige halbwegs nachvollziehbare Argument in dieser Hinsicht, die  nahtlose Eingliederung in den Religionsverband. Die grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber dem Aufweichen des Rechts auf körperliche Unversehrtheit sind keineswegs beseitigt. Ein solches Gesetz stellt, wie zu Recht schon gemahnt wurde und wie der Entwurf bestätigt, ein dramatischer Sündenfall der Rechtsgebung dar. Zugleich bleibt das logische Problem bestehen, dass man zwar die religiösen Traditionen der Beschneidung nicht benennt, die Körperverletzung allerdings eben nur auf Beschneidungen begrenzt bleiben soll: Hier könnte man sich mit einigem Recht fragen, warum nicht etwa Tätowierungen und dergleichen weit weniger eingreifende Modifikationen des Körpers nicht auch zulässig sein sollten. Gleiches gilt für den fragwürdigen Spagat, einen weiterhin illegalen Akt straffrei zu stellen, was einen direkten Bezug zu der bestehenden Abtreibungsregelung herstellt, wo abermals unter dem Einfluss von Religionsgemeinschaften eine vergleichbare, logisch schwer verständliche Regelung getroffen wurde.

Auch die damit erfolgte Begrenzung des Rechts der körperlichen Unversehrtheit auf Personen männlichen Geschlechts wird so nicht einzuhalten sein, will man nicht gegen den tragenden Gedanken der Gleichbehandlung verstoßen. Sogar die bei den Empfehlungen des Ethikrats bereits erkennbaren Probleme aufgrund unklarer Anforderungen an die Operationstechnik werden fortgeschrieben. Dies wird schon aus der eigenartigen Formulierung ersichtlich, dass die Operation nicht nur von Medizinern, sondern in den ersten sechs Lebensmonaten auch von ‚vergleichbar befähigten Personen‘ vorgenommen werden dürfe: Letztlich werden damit die vernünftigen Regelungen der Ausbildungsgänge zum Arzt sowie die ärztliche Zulassung in Frage gestellt, wenn sogar eine zweifellos ernsthafte Operation nunmehr Personen überlassen bleibt, deren eigentliche Befähigung sicherlich keine ärztlich angemessene ist und die in der vorgelegten Regelung insgesamt unklar bleibt.

Gleiches gilt für die an sich vernünftige Forderung nach einer “gebotenen und wirkungsvollen Schmerzbehandlung“ – warum es hier eine Einschränkung auf den ‚Einzelfall‘ geben sollte, bleibt unklar –, was dann aber Nicht-Medizinern sogar das Verabreichen von Lokalanästhesien oder sogar Vollnarkosen erlauben würde, eine ebenso unvorstellbare Missachtung von Patientenrechten bzw. hier der zu Beschneidenden, da eine medizinische Indikation ja nun nicht mehr gefordert wird, auch dies ein Novum, das gegen die bestehenden zentralen Grundlagen ärztlichen Handels verstößt: Gegen all diese Aspekte dürften die Interessensvertretungen der Mediziner in ihrem und im allgemeinen Interesse aller Erwartung nach zu Recht protestieren, während andere Berufsgruppen wie die Tätowierer, letztlich aber jedermann, hier vielleicht ganz neue Berufsfelder sehen könnten, von denen bisher niemand zu träumen wagte.

Die doch eher verhaltene Reaktion und erste Kritiken von Seiten der jüdischen Gemeinden und der Muslime zeigen, dass dieser vorauseilende Regelungsversuch ohne eingehende Kenntnis der eigentlichen Problemfelder zustande kam, da man einer eingehenden Debatte bislang auswich. All dies scheint man gar nicht zu bemerken: Solange nicht klar gesagt wird, dass man hier die für jede Impfung geltenden medizinischen Standards von Hygiene, Operationstechnik und Betäubung fordert – und dies gilt auch für die Aufklärung vor dem Eingriff –, bleiben es im wahrsten Sinne des Wortes fromme Wunschvorstellungen.

Zwar bieten diese vagen Vorschläge den jüdischen Gemeinden nunmehr die Möglichkeit, sich als kompromissbereit darzustellen und eine ‚medizinische‘ Ausbildung der Beschneider an einem Rabbinerseminar und entsprechende Regelungen in den Gemeinden anzukündigen. Damit werden jedoch nur Versäumnisse nachgeholt, denn solche Regelungen sind in anderen Staaten längst selbstverständlich. Und dies nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch von jüdischer: Die jüdische Gemeinde Frankfurt am Main erließ aus Sorge um ihre Kinder bereits in den 1840er Jahren derlei interne Vorschriften. In anderen großen jüdischen Gemeinschaften wurden schon längst sowohl der Ausbildungsgang, die Zulassung, die Praxis und die Kontrolle geregelt, und dies oft in Absprache mit den öffentlichen Verwaltungen.

Zudem stellt sich die Geschichte dieses Rituals insbesondere in der Moderne und auch bei der Orthodoxie als allmähliche Anpassung an einen modernen Begriff von Medizin dar. Sieht man einmal von sehr kleinen Gruppierungen ab, die jüngst die vormoderne Praxis des direkten Aussaugens der Wunde mit dem Mund wieder propagieren, wurden durchgängig erste hygienische Grundstandards etabliert. Zweifellos entsprechen dennoch weiterhin wohl die meisten Beschneidungen in vielerlei Hinsicht nicht dem medizinischen Standard. Immerhin erklärte aber auch das orthodoxe Rabbinat das Benutzen medizinischer Instrumente für zulässig, etwa für das Aussaugen, ebenso wie man das innere Blatt der Vorhaut, das bei Kleinkindern noch fest mit der Eichel verklebt ist, nicht mehr mit angeschärften Fingernägeln einreißen und ablösen muss. Es gibt generell auch keine Vorschriften, die sich gegen Desinfektion, Mundschutz und sterile Handschuhe aussprächen. Es wäre bereits ein Fortschritt, wenn diese bestehenden Zugeständnisse überhaupt durchgängig umgesetzt würden.

Derlei Änderungen gingen bezeichnenderweise oft von der Neuregelung der Beschneidung Erwachsener auf diejenige achttägiger Säuglinge über. Im Bezug auf die Schmerztherapie geschah dies jedoch nur unzureichend: Bei der Beschneidung von Erwachsenen toleriert man bei Einhaltung der Rituale inzwischen eine zeitgemäße medizinische Operation, also sowohl eine medizinische Hygiene- und Operationstechnik, vor allem aber eine angemessene Anästhesie, zum Teil sogar die umstrittene kurzzeitige Vollnarkose. Man akzeptiert dies notgedrungen, da sich sonst niemand mehr beschneiden ließe, schließt diese Zugeständnisse jedoch zugleich für Säuglinge aus. Obwohl sich zentrale orthodoxe Gutachter inzwischen trotz erheblicher Bedenken selbst für die Möglichkeit einer Schmerztherapie bei Kleinkindern aussprechen, wurde selbst dies bislang nur teilweise und nicht verpflichtend in die Praxis übernommen. Aus medizinischer Sicht kann die dabei angedachte Schmerztherapie kaum überzeugen, weshalb vage Hinweise wie die des Ethikrats das Problem nicht lösen.

Hierzu muss man sich ein wenig mehr mit den letztlich medizinischen Aspekten der jüdischen Beschneidung befassen, die nicht nur eine Reihe spezifischer Techniken voraussetzt, sondern zugleich eine ganz besondere Form der Beschneidung fordert. Die Hauptargumente gegen eine Anästhesie leiten sich aus älteren Regelungen ab, so etwa dem Verbot, ein schlafendes Kind zu beschneiden, da dies ‚Anfälle‘ – vermutlich war damit die Epilepsie gemeint – hervorrufen könne. Diese Entscheidung wird nunmehr auf die Vollnarkose übertragen.

Hinzu kommt, dass die wache Wahrnehmung einen ganz zentralen Bestandteil des Aktes darstellt. In diesem Zusammenhang wird auch die Erduldung des Schmerzes diskutiert. Obwohl vom orthodoxen Rabbinat der Schmerz mehrheitlich nicht als notwendiger Bestandteil der rituellen Beschneidung anerkannt wurde, konnte sich die etablierte Rechtsauslegung nicht dazu durchringen, einem generellen Verbot der Beschneidung ohne Betäubung oder gar einer wirksamen Lokalanästhesie geschweige denn einer kurzen Narkose zuzustimmen.

Eine Argumentationslinie schätzt die Betäubung als gefährlicher ein als die Beschneidung – ein medizinisch zweifellos überholtes Argument, zumal wenn argumentiert wird, dass der Schmerz durch eine Injektion schwerer als der der Beschneidung selbst sei. Eine zweite zentrale Argumentationslinie bezieht sich entweder auf die Wahrnehmung des Aktes durch den Beschnittenen oder auf die Vorstellung, dass ein nicht vollständig funktionsfähiges, etwa ein betäubtes Organ letztlich nicht mehr wirklich belebt sei, weshalb an diesem kein religiöser Akt vollzogen werden könne: Dies führte zu dem Verbot der Lokalanästhesie, da hier die Nervenbahnen blockiert werden. Erlaubt wurde lediglich die Anwendung einer äußerlich aufgetragenen anästhesierenden Salbe, die den Schmerz jedoch nicht wirklich ausschalten  kann: In den seit Jahren anhaltenden Debatten plädierte die medizinische Seite stets für eine umfassende Lokalanästhesie, wobei gerade bei Kleinkindern nur die problematische kurzzeitige Vollnarkose völlige Schmerzfreiheit zu garantieren scheint.

Warum man bei Erwachsenen pragmatisch all dies zumindest toleriert, ausgerechnet bei Säuglingen aber fundamentalistisch darauf beharrt, dass man am alten Ritual so wenig wie möglich ändern dürfe, bleibt unverständlich: Die jüdische Gemeinschaft müsste für sich klären, ob man Säuglingen nicht dasselbe zugestehen kann, was bei Erwachsenen bereits die Regel ist und ob der Verweis auf die Unveränderlichkeit des Rituals, das bereits vielfach modifiziert wurde, und das Beharren auf vormodernen medizinischen Vorstellungen beispielsweise parallele religiöse Gebote wie den Erhalt der Gesundheit oder das Verbot, unnötige Schmerzen zuzufügen wirklich aufwiegt?

Ähnlich verhält es sich denn auch mit der Forderung, dass dies auch weiterhin durch religiöse Beschneider, auch wenn diese keine Ärzte sind, möglich sein muss. Dies erklärt sich religiös allein dadurch, dass man den religiös positiven Verdienst, eine Beschneidung vorzunehmen, weiterhin einer möglichst großen Anzahl jüdischer Männer gestatten möchte. Jenseits dessen könnten die Gemeinden sogar vorschreiben, Beschneidungen ausschließlich durch jüdische Ärzte in der Klinik vornehmen lassen. Mehr sogar: Religionsgesetzlich muss einem Mann, der bereits in der Klinik von einem nichtjüdischen Arzt beschnitten wurde, als Ersatz für das hiermit nicht vollzogene religiöse Aufnahmeritual lediglich durch einen Nadelstich ein Blutstropfen entnommen werden. Beide Ausnahmeregelungen widersprechen den religiösen Vorstellungen und Intentionen zweifellos; sie zeigen jedoch, wie kompromissfähig das Judentum tatsächlich ist.

Auch wenn derlei interne Debatten den Gesetzgeber bei seiner Entscheidung, ob man zugunsten religiöser Normen ein Grundrecht aufheben kann, nicht leiten dürfen: Eine öffentliche Diskussion, die differenziert die Sachverhalte beleuchtet, wäre aber auch den Religionsgemeinschaften dienlich. So würde beispielsweise nicht der Eindruck entstehen, dass es sich beim Judentum generell um eine anti-moderne, religiös-fundamentalistische Tradition handle.

Die rechtlichen Implikationen einer solchen Gesetzesänderung sind tiefgreifend. Sie betreffen das Verhältnis von Staat und Kirche und stellen zugleich auch eine ganze Reihe weiterer grundlegender Rechte in Frage: Denn wie sollte man ein solches Recht nur auf zwei religiöse Traditionen und nur auf Männer begrenzen können, um nur zwei grundlegende Aspekte zu nennen. Zumal in der Übertragung auf ganz andere Rechtsgebiete und Zusammenhänge würde dies unabsehbare Wirkungen auf das Gemeinwesen haben, die man sich nicht ausmalen möchte.

Man mag gar nicht darüber nachdenken, was der ultra-orthodoxe Berliner Gemeinderabbiner Yitzhak Ehrenberg meinte, als er laut TAZ auf die Frage nach der Verschiebung des Zeitpunkts der Beschneidung antwortete, dies sei ‚noch schlimmer als physische Vernichtung‘. Doch wäre es entscheidend, von den Vertretern der jüdischen und der muslimischen Gemeinden, insbesondere ihren religiösen Würdenträgern, zu erfahren, wie sie derlei Veränderungen des gesellschaftlichen Rechtslebens verantworten und mit welchem Recht sie ihren Söhnen jenes Grundrecht der Entscheidungsfreiheit entziehen wollen, das sie für sich ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen?

Prof. Dr. Andreas Gotzmann ist Professor für Judaistik an der Universität Erfurt.


SUGGESTED CITATION  Gotzmann, Andreas: Das Kölner Beschneidungsurteil und das Judentum, Teil 2: Jüdische Beschneidungspraxis, VerfBlog, 2012/10/09, https://verfassungsblog.de/das-klner-beschneidungsurteil-und-das-judentum-teil-2-jdische-beschneidungspraxis/, DOI: 10.17176/20171117-150314.

35 Comments

  1. Mark Swatek-Evenstei Tue 9 Oct 2012 at 14:54 - Reply

    Ein interessanter Kommentar, der die Vielschichtigkeit der Problematik aus jüdischer Sicht aufzeigt. Dass auch im Judentum mit der Frage Beschneidung ja/nein viel ergebnisoffener umgegangen werden sollte/müßte, habe ich schon vor Jahren betont. Die Frage, die der Kommentar jedoch nicht beantwortet, ist, woher die Autorität des LG Köln kommt, die Vorgaben dieser Diskussion bestimmen zu dürfen.