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17 March 2022

Das Mengen- und das Intensitätsproblem der Parteitage

I. Parteitage als Hauptorte innerparteilicher Demokratie

Demokratie hat als ein wesentliches Element Regeln zur Herstellung bindender Entscheidungen. Das typisch Demokratische liegt dabei darin, dass diejenigen, die an die Entscheidungen gebunden sind, über diese Herstellungsregeln die Entscheidungen inhaltlich mitbestimmen können. Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG verpflichtet die Parteien auf die innerparteiliche Demokratie, insofern sind auch die Parteien gehalten, ihre Mitglieder – das „Volk“ der Parteien – an den wichtigen Entscheidungen einer Partei wesentlich mitwirken zu lassen. Dies geschieht insbesondere auf Parteitagen. Das Parteiengesetz hat demgemäß auch die wichtigen Entscheidungen in Parteien einer Mitgliederversammlung oder einem Parteitag vorbehalten, § 9 Abs. 3-5 PartG, man spricht hier von einem Parteitagsvorbehalt für diese Materien.

II. Das Mengenproblem der Parteitage

Jedenfalls einigermaßen erfolgreiche und relevante Parteien haben viele Mitglieder, so dass die Möglichkeit, dass alle sich zugleich an einem Ort versammeln und über die Angelegenheiten der Partei beraten und beschließen, praktisch unmöglich wird. Neue Parteien versuchen häufiger – im Sinne einer basisdemokratischen Ausrichtung – alle Mitglieder auf einem Landes- oder gar Bundesparteitag mitbestimmen zu lassen. Die Erfahrung lehrt, dass dies im Chaos endet und deswegen bald aufgegeben wird. Die Parteien führen ihre Parteitage höherer Organisationsstufen als Versammlungen von gewählten Delegierten durch.

Parteimitglieder sollen nicht nur zahlende Unterstützer sein, sondern auch wirksame Partizipationsmöglichkeiten haben. Das Parteiengesetz verlangt deswegen in § 7 Abs. 1 S. 3, dass die Parteien organisatorische Untergliederungen schaffen, damit die einzelnen Mitglieder angemessene Mitwirkungsmöglichkeiten haben. Wirksame Partizipationsmöglichkeiten für ihre Mitglieder sind den Parteien also auferlegt.

Freilich, auch Parteitage, die aus Delegierten zusammengesetzt sind, haben ein Mengenproblem. Die Parteitage der größeren Parteien kennen zwischen 500 und 1000 Mitglieder. Auch dies ist eine viel zu große Zahl, als dass die Delegierten ohne weiteres miteinander diskutieren und entscheiden könnten. Dies kann an drei Parteitagsphänomenen illustriert werden.

Demokratische Willensbildung soll von unten nach oben erfolgen. Demgemäß können die Gegenstände, über die ein Parteitag beschließt, „von unten“, also aus der Mitgliedschaft, vorgeschlagen werden. Diese Anträge können sich zu tausenden summieren. So gab es auf dem vorletzten Parteitag der Grünen 3500 solcher Anträge. Es ist offenbar, dass diese Zahl nicht von einem Parteitag an einem Wochenende vernünftig behandelt werden kann. Parteitage haben ein gravierendes Mengenproblem.

Ähnlich sieht es mit den Möglichkeiten der Parteitagsmitglieder aus, selbst zu Wort kommen zu können. Die Delegierten, die ja für eine größere Zahl von Parteimitgliedern hinter ihnen stehen, können nicht allen, die sie repräsentieren, Gehör verschaffen.

Schließlich hat ein Parteitag auch eine ganze Reihe von Wahlen durchzuführen, nicht nur der Parteivorstand, der aus mindestens drei Mitgliedern bestehen muss, tatsächlich aber oft deutlich mehr Mitglieder aufweist, ist zu wählen, sondern auch gegebenenfalls ein erweiterter Parteivorstand, ein Parteipräsidium o. ä., die Mitglieder des Schiedsgerichts sind durch Wahl zu bestimmen, für den Parteitag braucht es einen Versammlungsleiter und eine Stimmzählungskommission, auch Rechnungsprüfer müssen gewählt werden (§ 9 Abs. 5 PartG). Das Auszählen der Stimmen in all diesen Wahlen kostet Zeit, die auf einem Parteitag nur in beschränktem Ausmaß zur Verfügung steht.

Parteien haben aus der Erfahrung ihrer Parteitage nun Mechanismen entwickelt, um diesen Mengenproblemen zu begegnen.

Die Flut der Anträge wird typischerweise begrenzt durch die Notwendigkeit, eine bestimmte Mindestzahl von Unterstützern für einen Antrag zusammen zu bringen. So haben die Grünen auf ihrem letzten Parteitag die Erhöhung dieses Forums von 20 auf 50 erreicht, auch wenn der Vorstand eine höhere Hürde wollte. Daneben oder alternativ dazu ist die Antragsbefugnis an Gliederungseinheiten der Partei gebunden; wenn nicht örtliche Gliederungen, sondern nur diejenigen auf Kreisebene oder höher das Antragsrecht haben, wirkt auch dies einschränkend. Ein wichtiges Mittel zum Umgang mit der großen Zahl von Anträgen liegt in der Einrichtung sogenannter Antragskommissionen. Das sind Gremien, welche die eingegangenen Anträge sichten, auf Ähnlichkeit prüfen und in die gleiche Richtung zielende zusammenführen. Auch kann Anträgen sachlich widersprochen werden, dabei können die verschiedensten Argumente eine Rolle spielen, etwa rechtliche Unzulässigkeit des Erstrebten oder auch politische Bedenken.

Die Schwierigkeit, die aus dem Zeitbedarf für die Auszählung der Stimmen von Wahlen entsteht, wird dadurch effizient reduziert, dass man nach einer Wahl den normalen Verlauf des Parteitages fortsetzt und währenddessen auszählt, eine weitere Wahl wird eingeschoben und danach der Parteitag fortgesetzt, während wieder ausgezählt wird.

Die Praxis der Parteitage erweist sich also als ein evolutionäres Produkt, das aus den einem Parteitag inhärenten Problemen gelernt hat.

III. Druck durch direkt-demokratische Bestrebungen

Diese etablierte Parteitagsroutine kommt unter Druck in Gestalt einer Verschärfung des Mengenproblems durch Bestrebungen direkter Demokratie, sprich, weg vom Repräsentationssystem zu kommen und den Parteimitgliedern unmittelbar Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben. Dies ist nicht nur eine Forderung, die aus der Basis erhoben wird, auch die Parteispitzen sind seit einiger Zeit bemüht, den einfachen Mitgliedern mehr Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben, weil sie sich davon eine gesteigerte Attraktivität der Partei versprechen.

Dies wird vor allen Dingen befeuert durch die Möglichkeiten elektronisch gestützter Formen der Willensbildung. Die E-Demokratie vermehrt Hoffnungen auf direkt-demokratische Entscheidungsformen, verspricht deren Realisierbarkeit.

Allerdings: Das Parteiengesetz sieht bislang so gut wie keine Entscheidungen durch die Basis der Mitgliedschaft vor. Es geht von einem Repräsentativsystem aus, die wichtigsten Entscheidungen sind, wie gezeigt, einem Parteitag vorbehalten, der nicht ersetzt werden kann durch eine Abstimmung aller Mitglieder.

Eine Abstimmung aller Mitglieder, zumal eine häufigere, kommt praktisch nur über elektronisch vermittelte Kommunikation in Betracht. Eine Abstimmung per Brief ist kosten- und zeitaufwendig, zumal wenn man daran denkt, dass mehrere Entscheidungsvorschläge keine Mehrheit finden und dann ein neuer Kompromiss formuliert und zur Abstimmung gestellt werden soll. Eine Entscheidungsfindung über das Internet stößt aber auf die Schwierigkeit, dass das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zur Bundestagswahl den Einsatz von Wahlcomputern sehr skeptisch gesehen hat, weil er nach bisherigem Stand der Technik gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit verstoße. Bei Wahlen müsse der normale Wähler die Möglichkeit haben, die Korrektheit des ermittelten Ergebnisses zu überprüfen. Dies sei nicht der Fall, wenn das Ergebnis in den Tiefen eines Computers aus den eingehenden Impulsen produziert werden muss.

Gleichwohl hat die Covid-19-Pandemie zu einem Schub von Abstimmungsformen über die Distanz hinweg geführt. Weil aus Gründen der Bekämpfung der Pandemie die Möglichkeiten zu Versammlungen stark eingeschränkt waren, hat der Gesetzgeber für die verschiedensten Formen von Organisationen und auch für die politischen Parteien im „Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossen-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie“ festgelegt, dass Parteimitglieder auch auf Distanz ihre Mitgliederrechte im Wege der elektronischen Kommunikation ausüben können. Die wichtigsten Beschlussgegenstände, nämlich die Abstimmung über Satzungen und die Wahl des Parteivorstandes, sind aber von dieser Regelung ausgenommen. Hier braucht es die Briefwahl oder auch eine Urnenwahl an verschiedenen Orten. Hinter dieser Ausnahme steht ersichtlich das Bemühen, die Risiken einer elektronisch erfolgten Beschlussfassung für die beiden wichtigsten Entscheidungsgegenstände auszuschließen, insbesondere also im Hinblick auf den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl.

Von dieser eingeräumten Möglichkeit haben die Parteien Gebrauch gemacht. Allerdings sind die gesetzliche Ausgestaltung und die daran orientierte Praxis der Parteien durch Merkwürdigkeiten gekennzeichnet. Die Wahl des Parteivorsitzenden, so bei der CDU, wurde zunächst elektronisch durchgeführt, und zwar durchaus als Wahl mit mehreren Kandidaten; weil für die Wahl des Vorstandes aber das Gesetz eine Briefwahl vorschreibt, wurde der in diesem Wahlgang erfolgreiche Bewerber in einem zweiten Wahlgang der Briefwahl durch die Mitglieder bestätigt. Diesem Verfahren ist eine gewisse Absurdität insofern eigen, als die eigentliche Wahl – als Auswahl zwischen mehreren Kandidaten – als elektronisch durchgeführte rechtlich unverbindlich war. Die rechtlich maßgebliche Wahl per Brief war aber insofern keine Wahl, als sie keine Auswahl darstellte, weil die ursprünglichen Mitbewerber ihre Kandidatur zurückgezogen haben. Nur auf diese Weise war auch die Vorstandswahl durch Briefwahl durchzuführen. Diese gesetzliche Regelung ist also durchaus als unglücklich zu bezeichnen.

Jedenfalls die praktizierten Formen eines Distanzparteitages, an dem die Mitglieder, seien es Delegierte, seien es alle Mitglieder, elektronisch teilnahmen, gingen mit einer deutlichen Steigerung der Steuerungsrechte der Parteileitung einher. Ein mit technischen Mitteln über die Distanz durchgeführter Parteitag erfordert technische Vorbereitungen, die notwendigerweise in der Hand der Parteileitung liegen. Auf einem Präsenzparteitag kann am Anfang ein Versammlungsleiter gewählt werden – das stellt bei einem Internet-Parteitag eine zusätzliche Schwierigkeit dar, auf die gern verzichtet wird. Überhaupt stellten die durchgeführten Internetparteitage eher fertig inszenierte Abläufe dar als dass sie die Dynamik eines Präsenzparteitages aufwiesen. Das ist zunächst nur eine Beobachtung, kein Vorwurf, weil jedenfalls schwer vorstellbar ist, wie anders ein Internetparteitag durchgeführt werden kann.

Nach den bisherigen Erfahrungen sind Internetparteitage auch regelmäßig mit technischen Schwierigkeiten behaftet. Nicht alle Teilnehmer schaffen es, sich einen Zugang zu ermöglichen oder auch sind die Verbindungen instabil. Ein rechtliches Problem besteht in der Aufgabe, die Teilnahmeberechtigung sicher feststellen zu können. Auch sind Abstimmungen und Wahlen auf elektronischem Wege oder mittels Brief im Hinblick auf die Geheimheit, die von § 15 Abs. 2 PartG gefordert wird, gefährdet. Gleiches gilt für die Freiheit der Entscheidung.

IV. Das Intensitätsproblem eines Internetparteitages

Parteitage unter Anwesenden sind durch eine sehr viel größere Intensität und deswegen auch Dynamik gekennzeichnet als Internetparteitage. Ein Parteitag besteht nicht nur aus Reden und Abstimmungen. Demokratische Entscheidungsfindung nach der Mehrheitsregel braucht Absprachen, um zu Mehrheiten zu kommen, deswegen verständigen sich am Vorabend eines Parteitages lokale Gruppierungen oder politische Flügel auf gemeinsame Vorschläge und Abstimmungsverhalten. All dies ist über die Distanz hin sehr viel schwieriger. Mehrheiten müssen gegebenenfalls auch ad hoc neu gefunden werden. Stellt sich nach einer Abstimmung heraus, dass es zu keiner Mehrheit für eine bestimmte kleine Position gereicht hat, so müssen erneut Versuche unternommen werden, eine Mehrheit aufzubauen, dies geschieht in Pausengesprächen, oder gegebenenfalls auch durch raschen Blickkontakt. Die Suche nach Mehrheiten durch Kompromisse zwischen verschiedenen ursprünglichen Positionen braucht informale Kommunikation, die unter Anwesenden eben sehr viel eher möglich ist als über eine technisch vermittelte Kommunikation; dies auch aus dem Grund, dass Kompromissfindung auch gegebenenfalls gewagte Vorschläge braucht, auf die man hinterher nicht festgelegt werden will. Der Mündlichkeit ist dies möglich, ein E-Mail-Austausch hinterlässt Spuren und ist nachverfolgbar.

Nicht zuletzt kommt die Dynamik eines Parteitages auch aus dem Reichtum an visueller, akustischer und atmosphärischer Wahrnehmung und Einflussnahme unter den Anwesenden. Der Blick auf den Nachbarn, der während der Vorstellung eines Vorschlags gelangweilt sich mit seinem Handy beschäftigt oder gar den Saal verlässt, ist hierfür ebenso ein Wirkfaktor wie Stöhnen und Augenrollen oder auch das begeisterte Kopfnicken. Der Bildausschnitt, der bei einem Internetparteitag gezeigt wird, beschränkt sich – zwangsläufig – auf den jeweiligen Redner und kann die Saalatmosphäre sehr viel weniger darstellen. Verhandlungen, die über das Internet geführt werden, sind sehr viel wahrnehmungsärmer.

Unter Anwesenden kann also mehr geschehen, sich entwickeln, kann mehr Dynamik entstehen. Demokratisches Entscheiden erfolgt im Normalfall nach vorhergehender Diskussion. Dies geschieht unter der unaufgebbaren Annahme, dass die Teilnehmer ihre ursprünglichen Präferenzen unter dem Eindruck der Argumente oder auch der Notwendigkeit, eine Mehrheit zustande zu bringen, ändern. Hierfür ist die Stimmung in einer Versammlung hilfreich. Wenn demgegenüber die Teilnehmer eines Internetparteitages isoliert zu Hause sitzen, ist die Gefahr sehr viel größer, dass sie bei ihren ursprünglichen Positionen verharren.

V. Für den klassischen Parteitag unter Anwesenden!

Digitalgestützte Entscheidungen unter Abwesenden stellen eine Verarmung gegenüber der Entscheidungsfindung und Anwesenden dar. Sie haben zusätzliche Kosten und Gefahren in mehreren Hinsichten. Auch wenn die Ersparnis an Zeit und Geld, die eine Internetveranstaltung gegenüber der Anreise und dem Aufenthalt auf einem realen Parteitag hat, nicht zu übersehen ist, so sind die Hoffnungen auf eine Demokratisierung durch digitale Teilhabe der Mitglieder doch eher eine Illusion. Die Erweiterung auf digitale Mitgliederentscheide und auch die Durchführung von Parteitagen lediglich im Internetmodus stärkt die Leitungsebene der Parteien wegen der notwendigen technischen Vorbereitungen und auch, weil sie weniger durch die Mitglieder des Parteitags behindert den Meinungsbildungsprozess strukturieren können. Schließlich ist der Erlebniswert eines Parteitages – einschließlich des Geschehens an den Abenden – sehr viel größer und trägt zur Motivation der Parteimitglieder wie zur Identifikation mit der Partei bei. Parteitage sollten von Notfällen abgesehen als Präsenzversammlungen durchgeführt werden.


SUGGESTED CITATION  Morlok, Martin: Das Mengen- und das Intensitätsproblem der Parteitage, VerfBlog, 2022/3/17, https://verfassungsblog.de/das-mengen-und-das-intensitatsproblem-der-parteitage/, DOI: 10.17176/20220318-001303-0.

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