Das Minus zum Minimum: Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht
Hartz IV ist das Minimum: Das Arbeitslosengeld II ist dazu da, das vom Bundesverfassungsgericht 2010 postulierte Recht jedes in Deutschland lebenden Menschen auf ein “menschenwürdiges Existenzminimum” zu gewährleisten. Wer das zum menschenwürdigen Dasein “unbedingt Erforderliche” nicht hat, dem muss der Staat es verschaffen, einschließlich eines “Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben”. Weniger als das ist menschenunwürdig.
Und doch kommt es regel-, plan- und gesetzmäßig und in nicht geringer Anzahl vor, dass Menschen auch dieses Minimum noch zusammengestrichen wird: Wer seine in § 31 SGB II niedergelegten Pflichten versäumt und etwa eine vollkommen hirnlose Weiterbildung hinschmeißt oder einen elenden Ausbeutungsjob nicht annehmen will, dem wird das Arbeitslosengeld II gekürzt, erst um 30%, dann um 60% und zuletzt ganz. Das kann nicht sein, fand 2016 das Sozialgericht Gotha und legte dem Bundesverfassungsgericht die § 31, 31a und 31b SGB II zur Kontrolle auf ihre Verfassungsmäßigkeit vor.
Heute hat der Erste Senat in Karlsruhe diese Vorlage mündlich verhandelt. Ich bin hingefahren. Mein Eindruck: da kommt was Größeres.
Selber schuld
Ulrich Karpenstein von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs versuchte im Namen der Bundesregierung das Paradox vom minimierten Minimum wie folgt aufzulösen: An der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums wirke nicht nur der Staat, sondern auch der Mensch selbst mit. Das Maß seiner Mitwirkung gehöre bereits zum Tatbestand des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Daher sei es Teil der Ausgestaltung dieses Grundrechts, die dem Gesetzgeber aufgetragen ist, wenn er an diese Mitwirkung Anforderungen stellt. Wenn das SGB II somit Pflichten vorsieht und sanktioniert, Jobs und “Maßnahmen” nicht auszuschlagen, dann sei dies Ausgestaltung des Grundrechts – und nicht etwa ein Eingriff in das Grundrecht.
Die Sanktionen sind in dieser Lesart somit nicht so sehr etwas, das der Staat dem Leistungsempfänger zufügt, sondern sozusagen dieser sich selbst: An der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt mitzuwirken, sei eine “Selbsthilfeobliegenheit”, so Karpenstein. Wenn der ALG-II-Empfänger das Seine nicht beiträgt, dann schrumpft halt entsprechend sein Anspruch – nicht unähnlich zu der zivilrechtlichen Konstellation, dass jemand den Schaden mitverursacht hat, für den er Ersatz fordert (§ 254 BGB). Der “Vorrang der Selbsthilfe” folge aus nichts Geringerem als der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG höchstselbst als Frage der “Achtung und Selbstachtung der Persönlichkeit”.
Da staunte ein Teil der Richterbank. Ob er damit nicht die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt stelle, fragte Berichterstatterin Susanne Baer. Hinter der Menschenwürde stehe keine “Leistungsidee”. Sie komme jedem Menschen qua Menschsein zu, egal was er oder sie leiste. Ihre Kollegin Gabriele Britz fragte hörbar irritiert, ob es nicht ehrlicher wäre, gleich zu sagen, worum es geht, nämlich die Gemeinschaft zu entlasten, anstatt Art. 1 “aus dem Hut zu ziehen” und die Menschenwürde ihrem Träger als Einschränkung entgegenzuhalten, als sei es “eine Wohltat für den Bedürftigen, ihn am Ende zu sanktionieren”.
Möglich, entgegnete Karpenstein kühl. Das sei aber gar nicht “die Position, die ich vertrete, sondern die des Senats.” In der Entscheidung zu den Lohnabstandsklauseln aus dem Jahr 1999 habe sich “der Senat klar dazu bekannt, dass es der Menschenwürde entspricht, seine Existenz selber zu sichern.”
Wo denn nun das “unerlässliche Minimum” liege, die “Grenze in der Grenze”, fragte Richter Andreas Paulus. In der Verhältnismäßigkeit, so Karpensteins Antwort. Das Minimum werde nicht unterschritten, sondern ergebe sich “aus den Normen selbst” und müsse dabei verhältnismäßig sein. Verhältnismäßig gemessen an welchem Ziel? Das wollten mehrere Richter sehr genau wissen. Nach Ansicht von Karpenstein sei das Ziel die Integration in den Arbeitsmarkt, woraus sich auch die Untergrenze, sozusagen das Minimal-Minimum ergebe: Wenn man jemanden obdachlos macht, dann findet er erst recht keinen Job mehr. Und das sei unverhältnismäßig.
Was die Sanktionen bringen
Der Hauptteil der Verhandlung war der Diskussion gewidmet, wie die Mitwirkungspflichten und die Sanktionen in der Praxis aussehen und was sie bringen. Der Senat war erkennbar beeindruckt von der Zahl und Einmütigkeit von Stellungnahmen der Sozialverbände, die berichten, was alles schiefläuft.
Wenn die Bundesregierung schon so auf ihre Einschätzungsprärogative poche, mahnte Gabriele Britz, dann hätte man seit 2007 “schon einiges herausfinden können.” Beim SGB II operiere der Gesetzgeber “am offenen Herzen”: es gehe immerhin um das Existenzminimum. Von der Bundesregierung habe sie aber insbesondere zu den höheren Sanktionen “klare belastbare Zahlen nicht gehört”.
Dass die §§ 31 ff. SGB II ganz ungeschoren aus dem Verfahren hervorgehen werden, scheint mir nach dem Verlauf der Verhandlung ziemlich unwahrscheinlich. Schwer zu vermitteln war der Richterbank vor allem, dass die Sanktionen zwangsläufig und starr für drei Monate verhängt werden, ob der zuständige Betreuer das für sinnvoll hält oder nicht.
Bundesregierung und Bundesagentur für Arbeit warnten eindringlich davor, den Jobcentern ein Ermessen einzuräumen. Das wäre “hoch risikoreich”, sagte BA-Chef Detlef Scheele. Wenn die Mitarbeiter vor Ort selber entscheiden und verantworten müssten, welche Folgen mangelnde Mitwirkung nach sich zieht, “dann möchte ich da nicht dabei sein”.
Einiges spricht auch dafür, dass die massiveren Stufen der Sanktionierung das Verfahren nicht überleben werden. Der Totalentzug der Stütze, die bei mehrfacher Verweigerung der Mitwirkung greift, sei auch aus seiner Sicht in der Tat verzichtbar, sagte Scheele, ebenso die Kürzung bei den Kosten der Unterkunft. Denkbar sei auch, die Sanktion enden zu lassen, wenn der Empfänger nachweislich seinen Mitwirkungspflichten wieder nachkommt.
Es scheint so, als sollte danach zukünftig grundsätzlich alles zu untersagen sein müssen, was man erlangen kann, soweit ein Existenzminimum nicht sonst durch verhältnismäßig eigenes Tun gesichert ist.
So wegen Verstoßes gegen eine eigene Menschenwürde. Solche soll demzufolge eine Obliegenheitspflicht gegen sich selbst beinhalten, für sich selbst sorgen zu müssen und sein Existenzminimum selbst mit sichern zu müssen. Ohne “müssen” keine Pflicht und demnach keine Menschenwürde.
Zudem sollte dies wegen wegen indirekter Benachteiligung anderer untersagbar sein müssen. Dies soweit solche nur verhältnismäßig entsprechend eigenem Tun und damit entsprechend eigener Menschenwürde etwas erlangen können…..
Mir scheint, dass es eigentlich verfassungsmäßiger Konsens ist, in den Westeuropäischen Ländern, ein Existenzminimum zu belassen. Sprich: Ein Dach über dem Kopf, grundlegende Gesundheitsversorgung und ein Minimum an Lebensmittel. Es ist sicherlich problemlos, beim normalen Arbeitslosengeld, in Deutschland wäre das Alg1, welches normalerweise über dem Existenzminimum liegt, bei Fehlverhalten aufs Existenzminimum zu kürzen. Das aber eine Leistung, welches das Grundminimum abdecken soll, um einen Verfassungsauftrag zu erfüllen, noch substanziell gekürzt werden kann, scheint mir absurd. Müsste man dann dem Betroffenen nicht umgehend den Weg in die kommunale “Sozialhilfe” ermöglichen, um dem Auftrag des Grundgesetzes genüge zu tun? Geschieht das überhaupt? Funktioniert eine behauptete Nothilfe mit Naturalleistungen überhaupt? In der Schweiz wird die wirtschaftliche Nothilfe nicht Substanziell gekürzt, gewisse Asylsuchende erhalten nur Nothilfe. Aber eine Totalstreichung bei nicht Kooperation, scheint es nicht zu geben.
Ein Bsp. Aus der Sanktionspraxis. Ich, Harz IV Bezieher und nebenbei angemeldet beim Jc Freiberufler. Als Springer für den Caritas als Coach. 100 Euro/Monat. Kriege drei Tage vor einem Jc Termin – den ich selbst initiiert hatte und nicht das Jc – einen Arbeitsauftrag. Sage meinen Termin ab mit Hinweis auf meine Arbeit. Und arbeite. kriege eine Sanktion, wg. Terminversäumnis. Caritas bestätigt kurzfristigen Arbeitseinsatz. Kein Erfolg. Widerspruch, Klage etc. Alles abgelehnt.
Es wird also trotz Selbsthilfe sanktioniert.
“Wer seine in § 31 SGB II niedergelegten Pflichten versäumt und etwa eine vollkommen hirnlose Weiterbildung hinschmeißt oder einen elenden Ausbeutungsjob nicht annehmen will, dem wird das Arbeitslosengeld II gekürzt”
Ohne solche Polemik wäre der Artikel lesenswerter. Im vorliegenden Fall ging es um einen Job als Lagerarbeiter und eine Probearbeit im Verkauf, die beide abgelehnt wurden. Auch solche Jobs muss jemand machen, und dank Mindestlohn sollte es dafür auch ein erträgliches Gehalt geben.
Inhaltlich sehe ich die Sanktionen auch kritisch, zumindest in der derzeitigen Höhe – dass ein Hartz IV-Empfänger für einen verpassten Jobcenter-Termin faktisch mindestens 127€ Strafe zahlen muss (3 Monate mal 10% von 424€), ist sicher nicht verhältnismäßig, ebensowenig eine 100%-Kürzung.
Wobei die 3-Monats-Dauer laut https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-01/bundesverfassungsgericht-hartz-iv-sanktionen-strafen-verfassungswidrigkeit-faq durchaus verkürzt werden kann: “In der Regel werden die Sanktionen für drei Monate ausgesprochen. Die Dauer kann verkürzt werden, wenn der oder die Betroffene den Pflichten nachträglich nachkommt.”
@Holger
Warum sollte man Arbeitslosengeld für den Fall der Arbeitslosigkeit an den Staat abführen müssen, wenn man in Zukunft nur noch Arbeitslosengeld bekommt, wenn man arbeiten geht? Ist doch unlogisch.
Eine der besten Passagen im Karpenstein Paper ist unter Rn. 66 zu finden:
“Vielmehr sind Betroffene in der Lage, entweder auf bereits angesparte Beträge oder aber auf das monatliche Ansparpotential zurückzugreifen.”
Verkäufer im Geschäft: “Zahlen Sie die Ware bar oder mit Karte?”
Kunde: “Mit meinem Ansparpotential.”
Danke für den kurzen Bericht. Das mit der “Selbsthilfeobliegenheit” von Ulrich Karpenstein hat eine interessante Nebenseite. Denn genau, was Karpenstein vertritt, sehe ja viele ähnlich. Nur in einem von Karpenstein gerade nicht angestrebten Sinne. Etwa so: Mit der Eigenverantwortung § 1 SGB II will der Gesetzgeber im Sozialrecht die durch Art. 79 (3) GG geschützte Menschwürde im Falle von SGB II verfassungswidrig beseitigen. Verfassungswidrig deshalb, weil deren Schutz einzig aller staatlichen Gewalt obliegt. Natürlich lässt sich das umgekehrt auch als Aufforderung verstehen, nun daran zu gehen anstelle der staatlichen Gewalt nun zur Durchsetzung der Menschenwürde ggf. Gewalt anzuwenden. Solche “Eigenverantwortung” zeichnet sich gerade in Frankreich ab. Logisch ist das nicht, weil ja der Hartz IV nicht Sozialstaat oder gar genügend Arbeitsplätze sich selbst schaffen kann.