Antiterrordatei-Urteil: Fäusteschütteln in Richtung Luxemburg
Die Antiterrordatei ist im Prinzip verfassungsmäßig, im Detail jedoch nicht, und dazu gäbe es eine Menge zu sagen. Zu Datenschutz und Trennungsgebot wird man heute noch viel lesen können. Ich will mich hier erst einmal auf einen Punkt konzentrieren, der mit dem eigentlichen Verfahrensgegenstand nur auf sehr verschlungenen Wegen zu tun hat: die ziemlich unverhohlene Aufforderung an den EuGH, seine Grundrechtsrechtsprechung zurückzustecken. Eine Aufforderung, der der Senat mit der ebenso unverhohlenen Drohung Nachdruck verleiht, sonst die Ultra-Vires-Bazooka herauszuholen. Der Erste Senat, wohlgemerkt. Und zwar einstimmig.
Um diese Art freundschaftlichen Meinungsaustauschs im europäischen Verfassungsgerichtsverbund pflegen zu können, schiebt der Senat eigens zwischen Zulässigkeit und Begründetheit einen speziellen Gliederungspunkt ein: Darin legt er dar, warum er in diesem Fall nicht verpflichtet ist, den EuGH per Vorlageverfahren um europarechtliche Klärung zu bitten. Der Fall habe nichts mit Europarecht zu tun, insbesondere nicht mit dem europäischen Grundrechtsschutz. Dass Antiterrordatei-Daten in Europa weitergegeben werden müssen, mache die Antiterrordatei nicht zu einem Anwendungsfall für die europäische Grundrechtecharta. Es sei nicht zu bezweifeln, dass der EuGH oder irgendein anderes Gericht in der EU das anders sehen (Acte-Claire-Rechtsprechung des EuGH).
Wenn das alles nicht ist, wozu dann der ganze Aufwand? Die Antwort liegt auf der Hand: Åkerberg Fransson.
So heißt ein vor wenigen Wochen ergangenes Urteil des EuGH, das besagt, dass alle Fälle, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegen, am Maßstab der europäischen Grundrechtecharta zu messen und somit im Zweifel dem EuGH vorzulegen sind – auch wenn der Anwendungsbereich nur am Rande berührt ist. Das ist er bei der europarechtlichen Durchdringung fast aller Rechtsbereiche in den allermeisten Fällen. Was wiederum bedeuten würde, dass Grundrechtsfragen künftig im Regelfall von Luxemburg beantwortet würden und nicht mehr von Karlsruhe.
Dem will Karlsruhe aber nicht tatenlos zusehen: Åkerberg Fransson, so der Senat, dürfe nicht so verstanden werden, dass
jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses
genüge, um die Regelung voll der Grundrechtecharta zu unterwerfen. Denn anderenfalls wäre die Åkerberg-Fransson-Entscheidung
offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen (…) oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise (gefährdet), dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte.
Eine solche Lesart sei
im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof
zu vermeiden.
Eine Frage, die ich mir da stelle: Wenn hier so viel von möglichen Lesarten und Deutungsmöglichkeiten des Åkerberg-Fransson-Urteils die Rede ist – ja, warum hat denn dann der Senat nicht vorgelegt? Wie verträgt sich diese Passage mit der wenige Zeilen zuvor geäußerten Meinung, es handle sich um einen unzweifelhaften Fall im Sinne der Acte-Claire-Rechtsprechung? Zumal erst vor eineinhalb Jahren der selbe Erste Senat in der selben Besetzung im Fall Investitionszulagengesetz in klaren Worten beschrieben hat, wie hoch die Hürde für Acte Claire ist:
Ein letztinstanzliches nationales Gericht darf einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage nur verneinen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Europäischen Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, darf das letztinstanzliche innerstaatliche Gericht davon absehen, diese Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen und sie stattdessen in eigener Verantwortung beantworten
Dass für den Europäischen Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde… Hm. Weiß nicht. Scheint mir jetzt nicht so total unbezweifelbar, ehrlich gesagt.
Tatsächlich macht das nur Sinn, wenn man die Sache durch die Ultra-Vires-Brille betrachtet, die sich das BVerfG mit dem Maastricht-Urteil aufgesetzt hat: Es handelt sich hier um einen Fall, in dem zwar mehrere Lesarten möglich sind, aber manche sind nach Meinung des BVerfG ultra vires, andere nicht. Die angeblichen ultra-vires-Lesarten stehen dem EuGH gar nicht zu Gebote, sie werden von Karlsruhe schon vorher abgefangen, bevor sie überhaupt über die Integrationsbrücke in den Wahrnehmungsbereich des EuGH gelangen. Nur die enge intra-vires-Lesart kann das Karlsruher Brückenwärterhäuschen passieren, und so ist das, was drüben am europäischen Ufer ankommt, tatsächlich ein wunderbar eindeutiger Acte Claire.
Der Erste Senat hat damit wieder einmal klar gemacht, wer seiner Meinung nach der Ober und wer der Unter ist in punkto Kompetenzbereich der EU.
Wenn es nur Karlsruhe und Luxemburg gäbe, wäre mir das ja Recht: Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen diesen beiden Gerichten ist seit einem halben Jahrhundert stabil, und bisher hat sich noch jedes Eskalationsszenario in eine Notfall- und Reservekompetenz nach dem “Solange“-Muster auflösen lassen.
Dieses idyllische Brücken- und Gleichgewichtsbild, das wir da zu zeichnen gewohnt sind, trügt aber: Das ist keine symmetrische Konstellation, kein Tauziehen, in dem Karlsruhe am einen Ende zieht und Luxemburg am anderen. Es gibt nicht nur Karlsruhe und Luxemburg. Es gibt auch andere EU-Staaten, in denen die Frage, ob der EuGH die Grundrechte von Unionsbürgern auch gegen ihren eigenen Staat schützen darf, ganz handfest und konkret auf dem Tisch liegt. Was aus den Ungarn wird, kann Karlsruhe egal sein – Luxemburg aber nicht (oder Straßburg, for that matter). Was das für den europäischen Verfassungsgerichtsverbund bedeutet, diese Frage haben wir gerade erst begonnen uns zu stellen.
Auch wenn das BVerfG hier ausnahmsweise letztzinstanzlich entschieden hat (Gesetzes-VB), kommt die prompte Reaktion auf Akerberg Fransson in der Tat überraschend – aber so überraschend dann doch auch wieder nicht: Die Wut über den EuGH muss bei der gemeinsamen Redaktion des Urteilsentwurfs noch in den Knochen gesteckt haben. Hoffentlich bleibt sie nicht stecken, sondern ist jetzt erst mal draussen. Und in der Pressemitteilung ist ja gleich noch eins draufgesetzt worden: “Der Senat geht davon aus, dass die in der EuGH-Entscheidung enthaltenen Aussagen auf Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts beruhen, aber keine grundsätzliche Auffassung äußern.” So so. Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts, das hatte ich mir gleich gedacht.
@Max: Genau, weil es keine symmetrische Konstellation ist, sollte der EuGH nicht darauf vertrauen, dass Karlsruhe allein bleibt mit der heutigen Begründung. Es soll bei anderen Verfassungsgerichten vergleichbare Verfahren geben…
“Vergleichbare Verfahren” ist gut. Das Verfahren bzw. der Fall hat zu diesen Ausführungen nicht den geringsten Anlass gegeben. Das ist ein allgemeinjuristischer Kommentar im Urteilsgewand.
Ich halte sonst nicht allzu viel von der bei vielen Autoren dieses Blogs tendenziell hervorscheinende BVerfG-von-vorgestern-EuGH-wirds-richten-Haltung. Aber was der Erste Senat sich hier geleistet hat, ist wirklich ein starkes Stück.
@Gerd Gosman: Ja, deswegen passt die Begründung auch so gut, zu wohl jedem verfassungsgerichtlichen Verfahren.
Also als ich die Pressemitteilung las dachte ich, ich seh nicht richtig:
“Der Senat geht davon aus, dass die in der EuGH-Entscheidung enthaltenen Aussagen auf Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts beruhen, aber keine grundsätzliche Auffassung äußern. Die Entscheidung über diese Frage ist im Senat einstimmig ergangen.”
Das ist doch schon eine offene Feindseligkeit Richtung EuGH. Was sollen denn die Besonderheiten des Umsatzsteuerrechts sein? Dass die EU indirekt an Steuern beteiligt wird? Mit dem Argument lassen sich die EU-Grundrechte auf so gut wie jedes Rechtsgebiet anwenden.
Andererseits meckern wir hier in Deutschland auf sehr hohem Niveau. Aus der Perspektive eines beschnittenen ungarischen Verfassungsgerichts ist eine derartige EuGH-Rechtsprechung vielleicht ein Segen..
Die Entscheidung war doch völlig korrekt. Der EuGH sollte endlich – und anders als der EGMR rechtzeitig – erkennen, dass er im Ernstfall am kürzeren Hebel sitzt.
Mal schauen, ob der Wink mit dem Zaunpfahl verstanden wird.
Ob jetzt das Plenum zusammentritt und beschließt, mit dieser Passage gleich hinter dem Bundesadler und “im Namen des Volkes” jede BVerfG-Entscheidung zu schmücken? Endlich einmal etwas konsensfähiges in Karlsruhe. Aber mal im Ernst: Nachdem ich heute den einschlägigen Leitartikel der opportunistischen FAZ gelesen habe, frage ich mich schon, ob man den doppelten Grundrechtsboden, den der EuGH verlangt, nicht pragmatischer bebauen sollte. Schließlich entscheidet ja das BVerfG nur in den allerwenigsten Fällen letztinstanzlich und könnte sich spätestens nach einem EMRK-Beitritt der EU sogar auf den Standpunkt stellen, dass selbst die unmittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden nicht letztinstanzlich i.S.v. Art. 267 AEUV entschieden werden (Menschenrechtsbeschwerde als Rechtsmittel i.S.v. Abs. 3). Also generell keine Vorlagepflicht des BVerfG in Grundrechtsfragen (sondern nur der Fachgerichte des Bundes) und bei Verfassungsbeschwerden ist der EuGH niemals gesetzlicher Richter. Dann wäre in D auch nach Akerberg Fransson alles wie gehabt.
Als eher zivilrechtlich beschlagener Verfassungsrechts-Laie verstehe ich die Åkerberg-Fransson-Entscheidung als den Versuch, eine umfassende Kognitionsbefugnis zugunsten des EuGH über jedweden rechtlich geregelten Lebensbereich zu erlangen, vergleichbar dem Mechanismus des Lüth-Diktums, also eine dem Bundesverfassungsgericht nur allzu bekannte Konstruktion. Dieses möchte in Europa nicht in der gleichen Weise degradiert werden wie im Nachkriegsdeutschland einst der BGH (und die anderen obersten Bundesgerichte).
Zunächst ist an dem Urteil interessant, dass der Erste Senat die Lissabon-Rechtsprechung des Zweiten Senats billigt und sich zu eigen gemacht – soweit wir sehen einstimmig.
Tja, warum hat der Senat nicht vorgelegt? Bei einer ultra vires-Vorlage müsste sich der Senat vorab sehr genau überlegen, wie er mit dem erbetenen Urteil des EuGH umgehen will. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht ganz gering, dass der EuGH an seiner Rechtsprechung – etwa an Akerberg/Fransson – festhielte. Und dann? Die Schwebelage im “Gerichtsverbund” könnte nicht fortbestehen. Vielleicht zielt das obiter dictum deshalb eher auf die diejenigen Richter im Gerichtshof, die bislang (noch) keine Mehrheit haben und sich um eine funktionserhaltende Auslegung von Art. 51 Grundrechtscharta bemühen.
Was hätte der Senat denn vorlegen sollen? Selbst wenn man einmal davon ausgeht, dass EU-Grundrechte hier anwendbar sind, wäre die Antiterrordatei in keinem Fall unionsrechtlich vorgegeben. Nach Åkerberg Fransson sind mitgliedstaatliche (Verfassungs-)Gerichte in dieser Konstellation nicht daran gehindert, nationales Recht an mitgliedstaatlichen Grundrechtsverbürgungen zu messen, solange – was hier nicht in Rede steht – dabei auch keine sonstigen unionsrechtlichen Vorgaben verletzt werden. Eine Vorlage wäre darum hier ohnehin nicht in Betracht gekommen. Das macht die Ausführungen ja gerade so absurd: Der Senat nutzt den ersten daherkommenden öffentlichkeitswirksamen Fall, um nach Art eines NJW-Editorials vor sich hin zu schwadronieren.
Ich interpretiere das Urteil etwas anders:
Das BVerfG gibt dem EuGH nicht auf, “zurückzustecken”, sondern nicht noch weiter zu gehen. Es stellt also in gewisser Entfernung von der aktuellen Position des EuGH ein großes STOP-Schild auf.
Dafür hat es sich einen Fall ausgesucht, in dem zwar einerseits ein gewisser sachlicher Bezug zur einer unionsrechtlichen Regelung besteht (Art.2 Beschl. 2005/671/JI – http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2005:253:0022:0024:DE:PDF); ohne dass andererseits ein konkreter Anlass für eine Vorlage bestanden hätte.
Meanwhile in Austria: Hier fliegen schon Fäuste im Gerichtsverbund wegen der Grundrechtecharta – innerstaatlich zwischen OGH und VfGH und der EuGH soll Schiedsrichter spielen (s. Rs. C-112/13 – Aliyev – http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20121217_OGH0002_0090OB00015_12I0000_000.pdf).
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