23 September 2024

Demokratische Diskontinuität

Zur vermeintlichen Fortgeltung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags

Im Vorfeld der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags am kommenden Donnerstag, den 26. September 2024, wird diskutiert, ob der Landtag, bevor er zur Wahl des Landtagspräsidenten bzw. der Landtagspräsidentin schreitet, die in der Geschäftsordnung niedergelegten Regeln dieser Wahl ändern kann. Schon länger (hier und hier, S. 16 f.) wird befürchtet, dass die AfD diese Wahl zur Obstruktion nutzen könnte. Aus Sicht der demokratischen Parteien liegt es daher nahe, die Regeln zu ändern; CDU und BSW haben einen entsprechenden Antrag zur Änderung der Geschäftsordnung eingebracht. Die Diskussion darüber, ob der Landtag vor der Präsidentenwahl die Geschäftsordnung überhaupt ändern kann, beruht auf einer falschen Prämisse. Denn aufgrund des Grundsatzes der Diskontinuität gilt die bisherige Geschäftsordnung mit Zusammentritt des neuen Landtags nicht mehr. Vielmehr muss eine neue Geschäftsordnung vom Landtag erst beschlossen werden. Daran ändert auch eine landesrechtliche Besonderheit nichts: das Thüringer Geschäftsordnungsgesetz, das die Fortgeltung der Geschäftsordnung für den neuen Landtag anordnet. Denn dieses Gesetz kann die demokratische Diskontinuität nicht außer Kraft setzen.

Grundsatz der Diskontinuität

Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags ist – wie jede Parlamentsgeschäftsordnung – eine autonome Satzung, deren Vorschriften nur die Mitglieder des Landtages binden. Die Vorschriften gelten nur für die Dauer der Wahlperiode des Landtags, der die Geschäftsordnung beschlossen hat (so zum Bundestag BVerfGE 1, 144 [148]). Für die Geschäftsordnung gilt damit der Grundsatz der Diskontinuität, der zugleich die Geschäftsordnungsautonomie des neuen Landtags (vgl. Art. 57 Abs. 5 ThürVerf.) schützt. Der neu gewählte Landtag soll sich seine eigenen Regeln geben können und nicht – sei es auch nur vorübergehend – an die Vorschriften gebunden sein, die der alte Landtag sich gegeben hat. Hinter dieser seit langem herrschenden Interpretation der Geschäftsordnungsautonomie steht das Demokratieprinzip, genauer das „Prinzip der sich immer wieder erneuerten Repräsentation, dessen Sinn es ist, in bestimmten zeitlichen Abständen immer wieder den Wandlungen des politischen Willen des Volkes entsprechend eine Neuzusammensetzung des Parlaments zu ermöglichen, um damit den Weg zu neuen politischen Entscheidungen zu eröffnen“ (Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 129 f.; krit. zur herrschenden Diskontinuitätslehre aber Meinel, Selbstorganisation des parlamentarischen Regierungssystems, 2019, S. 137 ff.). Da bereits mit Geschäftsordnungsvorschriften der Weg zu politischen Entscheidungen geebnet (oder versperrt) werden kann, muss das neugewählte Parlament „ungehindert vom Einfluß des vorherigen über seine Angelegenheiten entscheiden“ können (Arndt, a. a. O., S. 130). Mit dem Grundsatz der Diskontinuität vereinbar ist die – in der Praxis übliche – Übernahme der bisherigen Geschäftsordnung durch das neugewählte Parlament (vgl. BVerfGE 1, 144 [148]). Denn auch darin liegt eine autonome Entscheidung des neuen Parlaments, das sich die Geschäftsordnung seines Vorgängers sozusagen aneignet. So verfährt der Bundestag, der in seiner konstituierenden Sitzung nach der Eröffnung durch den Alterspräsidenten zunächst über die Geschäftsordnung Beschluss fasst (vgl. die Tagesordnung vom 26.10.2021). Auch der Sächsische Landtag wird bei seiner konstituierenden Sitzung über eine neue Geschäftsordnung beraten und beschließen (vgl. die Tagesordnung für den 1. Oktober 2024).

Landesrechtliche Ausnahme?

Der Grundsatz der Diskontinuität führt dazu, dass das neugewählte Parlament zusammentritt, ohne dass sein Verfahren bereits durch eine Geschäftsordnung geregelt wäre. In Thüringen glaubt man, diese Folge durch einen besonders „elegante[n]“ bzw. „geschickte[n]“ Schachzug abwenden zu können (so die Einschätzungen in der Kommentarliteratur: Bieler/Poschmann/Schulte, in: Dressel/Poschmann, ThürVerf, 2024, Art. 57 Rn. 108; Dette, in: Brenner u. a., ThürVerf, 2. Aufl., 2023, Art. 50 Rn. 10). Denn in seiner ersten Wahlperiode hat der Thüringer Landtag ein Gesetz verabschiedet, nach dem die alte Geschäftsordnung so lange fort gilt, bis der Landtag eine neue beschließt: das Gesetz über die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags, kurz ThürGOG. Bei näherem Hinsehen ist dieses Gesetz eine Selbsttäuschung. Denn würde das ThürGOG wirklich den neuen Landtag rechtlich an die alte Geschäftsordnung binden, wäre es mit dessen Geschäftsordnungsautonomie unvereinbar. Darauf zu beharren, ist keine Förmelei, sondern Ausdruck des demokratischen Prinzips, wonach ein neu gewähltes Parlament von dem Zeitpunkt seines Zusammentritts an Herr des eigenen Verfahrens sein muss. Das lässt sich nicht mit dem Hinweis überspielen, dass der neue Landtag sich jederzeit eine neue Geschäftsordnung geben oder die alte ändern könnte (so aber Dette, in: Brenner u. a., ThürVerf, 2. Aufl., 2023, Art. 50 Rn. 10). Denn gerade in der Phase, in dem ein solcher Beschluss noch nicht gefasst werden konnte, für die aber die alte Geschäftsordnung bereits Regelungen enthält, kommt es darauf an: bei Konstituierung des Landtags (§§ 1–3 ThürGOLT).

Klaus Friedrich Arndt, der 1966 eine bis heute lesenswerte Monographie zum Thema vorgelegt hat, hat das demokratische Problem bereits klar erkannt, das in einer solchen Fortgeltung mit Änderungsmöglichkeit liegt:

„Ein neugewähltes Parlament könnte zwar grundsätzlich Beeinträchtigungen seiner Entscheidungsfreiheit, die es durch die Fortgeltung der Geschäftsordnung erfährt, dadurch aufheben, daß es von der ihm jedenfalls zustehenden Befugnis zur Abänderung der Geschäftsordnung Gebrauch macht. Das neue Parlament wäre dabei aber immerhin an ein von seinem Vorgänger eingeführtes Verfahren für die Abänderung der Geschäftsordnung gebunden und müßte sich wohl auch nach den fortgeltenden Geschäftsordnungsvorschriften konstituieren, da es vor seiner Konstituierung kaum in der Lage wäre, die Geschäftsordnung abzuändern“ (a. a. O., S. 130).

Genau vor diesem Problem stände auch der Thüringer Landtag, hielte man das ThürGOG und damit die alte Geschäftsordnung für anwendbar (so aber Neidinger, für den mit dem ThürGoG „die rechtliche Grundlage außer Diskussion“ steht). Der von CDU und BSW eingebrachte Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung, der am Donnerstag nach der vorläufigen Tagesordnung vor der Wahl des Landtagspräsidenten (§ 2 GOLT) behandelt werden soll, wäre dann nach den Vorschriften der GOLT über die Behandlung von Vorlagen zu beraten (§§ 50 ff. GOLT), die jedoch ihrerseits einen bereits konstituierten Landtag mit gewählter Präsidentin bzw. gewähltem Präsidenten voraussetzen.

Man muss das ThürGOG wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundsatz der Diskontinuität nicht für verfassungswidrig halten, sondern kann darin auch schlicht eine Vorschrift des materiellen Geschäftsordnungsrechts sehen, die wie jede andere Geschäftsordnungsregelung mit Zusammentritt des neuen Landtags außer Kraft tritt. Das ThürGOG ist also nicht nichtig, aber sinnlos. Die Rechtsform des Gesetzes ändert daran nichts. Vielmehr liegt in ihrer Wahl nur der von vornherein untaugliche Versuch durch die vermeintlich erhöhte Bindungswirkung des Gesetzes die Diskontinuität zu überwinden. Das könnte hingegen nur eine verfassungsrechtliche Regelung über die Konstituierung des neuen Landtags, wie es sie – partiell – etwa in Baden-Württemberg und Sachsen gibt (vgl. Art. 30 Abs. 3 S. 2 Verf. BW; Art. 44 Abs. 3 S. 2 SächsVerf.).

Parlamentsbrauch als provisorische Geschäftsordnung

Unterstellt man der Landtagsmehrheit, die 1994 das ThürGOG verabschiedet hat, gute Absichten (die damalige Plenardebatte [erste Lesung, S. 9210 ff.; zweite Lesung, S. 9409 ff.] lässt daran zweifeln), ist die Fortgeltung der alten Geschäftsordnung nur als Service für den neuen Landtag gedacht, dem dadurch eine regellose konstituierende Sitzung erspart bleiben soll. Doch bei näherem Hinsehen besteht die Gefahr der Regellosigkeit überhaupt nicht. Es gibt nämlich seit dem 19. Jahrhundert eine ständige Übung, an der sich konstituierende Sitzungen in deutschen Parlamenten orientieren: Sie werden vom Alterspräsidenten eröffnet und geleitet, bis ein Parlamentspräsident gewählt ist. Diese Übung ersetzt als sog. Parlamentsbrauch geschriebene Regeln des Geschäftsordnungsrechts, die im relevanten Zeitraum noch nicht gelten können. Er ist eine auf Konventionen beruhende provisorische Geschäftsordnung für den allerersten Schritt der Konstituierung. Wenn § 1 Abs. 2 GOLT in Thüringen die Sitzungsleitung durch den Alterspräsidenten ausdrücklich vorsieht, ist das nur eine nachrichtliche Übernahme des Parlamentsbrauchs in der Geschäftsordnung.

Der Parlamentsbrauch ist rechtlich nicht bindend. Er ist kein Gewohnheitsrecht, erzeugt keine Rechtsnormen, sondern ist eine historisch informierte politische Praxis. Anderenfalls wäre das neugewählte Parlament nicht nur an die Entscheidungen seines unmittelbaren Vorgängers, sondern an die Praxis „aller“ deutschen Parlamente seit dem 19. Jahrhundert gebunden, was mit der demokratischen Diskontinuität erst recht nicht vereinbar wäre (vgl. Arndt, a. a. O., S. 130 ff.). Der Brauch regelt die Konstituierung des Parlaments, nur weil, soweit und solange die neugewählten Abgeordneten darüber übereinstimmen, dass der Brauch zu befolgen sind. Kommen Zweifel an der Übung auf oder soll bewusst davon abgewichen werden, entscheidet die Mehrheit. Das Mehrheitsprinzip ist in der Verfassung vorgegeben, bedarf also keiner weiteren rechtlichen Ausgestaltung (Art. 61 Abs. 2 S. 1 ThürVerf.; Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Die Mehrheit könnte daher auch dem kraft Parlamentsbrauch amtierenden Alterspräsidenten die Sitzungsleitung entziehen und sie einem anderen Mitglied anvertrauen.

Neue Geschäftsordnung durch Mehrheitsentscheidung

Vor allem aber kann die Mehrheit einen Beschluss über die – ggf. modifizierende – Übernahme der Geschäftsordnung des alten Parlaments treffen. Wer die Unverbindlichkeit der provisorischen Geschäftsordnung als unbefriedigend empfindet, ja in Zeiten polarisierter Parlamente womöglich sogar für gefährlich hält, muss die Konstituierung des Parlaments in der Verfassung regeln (vgl. zum Alterspräsidenten Art. 30 Abs. 3 S. 2 Verf. BW; Art. 44 Abs. 3 S. 2 SächsVerf.).

In Thüringen scheint man jedoch bislang – im Vertrauen auf das ThürGOG – darauf verzichtet zu haben, die alte Geschäftsordnung durch einen ausdrücklichen Landtagsbeschluss zu übernehmen. Da die Übernahme der Geschäftsordnung auch stillschweigend erfolgen kann (vgl. Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 40 Rn. 39), ist das nicht weiter problematisch. Spätestens in der Wahl des Landtagspräsidenten nach den Regeln der bisherigen Geschäftsordnung wird man deren konkludente Übernahme sehen könne. Dasselbe gilt für den Fall, dass der Landtag in der konstituierenden Sitzung die Geschäftsordnung zwar nicht explizit übernimmt, wohl aber einzelne Vorschriften ändert, wie es nun CDU und BSW mit Blick auf die Präsidentenwahl beantragen. Denn mit der Änderung wird zugleich erklärt, dass die Geschäftsordnung im Übrigen unverändert weitergelten soll. Da die Geschäftsordnung bis zu diesem Beschluss nicht gilt, ist eine „Änderung“ ihrer Regeln – auch den Regeln der Präsidentenwahl – ohne weiteres zulässig. Streng genommen wird die Geschäftsordnung erst durch diese „Änderung“ in Kraft gesetzt; es liegt also keine Änderung vor, sondern ein Neuerlass.

Ein expliziter Beschluss, die Geschäftsordnung des Vorgängerlandtags zu übernehmen, wäre bei der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags am 26. September 2024 aus Transparenzgründen wünschenswert. Doch geht der Landtag kein rechtliches Risiko ein, wenn er vor der Wahl der Landtagspräsidentin bzw. des Landtagspräsidenten lediglich die Wahlvorschriften in der Geschäftsordnung „ändert“. Denn bis zu diesem Beschluss gilt keine Geschäftsordnung, an die er gebunden sein könnte, und mit diesem Beschluss übernimmt er implizit die alte Geschäftsordnung in geänderter Fassung. Nimmt man die Diskontinuität als wesentliches Element des demokratischen Parlamentsrechts ernst, werden die Regeln über die Präsidentenwahl immer erst unmittelbar vor der Wahl gemacht und hängen nur von einer Voraussetzung ab: einer Mehrheitsentscheidung. Alles andere ist Politik.


SUGGESTED CITATION  Michl, Fabian: Demokratische Diskontinuität: Zur vermeintlichen Fortgeltung der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags, VerfBlog, 2024/9/23, https://verfassungsblog.de/demokratische-diskontinuitat/.

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