Den Pass im Visier
Die völkerrechtlichen Grenzen von Ausbürgerungen
Das Staatsangehörigkeitsrecht ist ein fein austariertes Gefüge, das sowohl durch das Grundgesetz als auch durch das Völkerrecht bestimmt wird – und eben kein Instrument für gesellschaftspolitische Schnellschüsse. Die Frage, ob die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft von Straftätern mit doppelter Staatsbürgerschaft, wie jüngst von Friedrich Merz gefordert, rechtlich zulässig ist, lässt sich daher nicht pauschal beantworten. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte dazu inzwischen, dass ein Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit allein wegen Verstoßes gegen Strafvorschriften „mit verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar“ sei. Präziser wäre die Aussage gewesen, dass Staaten in ihrer Souveränität zwar grundsätzlich frei sind, eigene Regeln für den Entzug oder Verlust der Staatsbürgerschaft festzulegen. Diese Freiheit findet ihre Grenzen jedoch nicht nur in Art. 16 des Grundgesetzes, sondern – wie dieser Beitrag aufzeigen soll – darüber hinaus auch im Völkerrecht.
Grenzen der Ausbürgerung nach nationalem und internationalem Recht
Begrifflich ist im Staatsangehörigkeitsrecht zwischen der Entziehung und dem Verlust der Staatsangehörigkeit zu unterscheiden. Während die Entziehung nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts eine „Verlustzufügung, die der Betroffene nicht beeinflussen kann“ (BVerfG, Urt. v. 24.05.2006, Az.: 2 BvR 669/04) ist, stützt sich der Verlust der Staatsangehörigkeit auf Umstände, die der Betroffene willentlich oder zumindest vorhersehbar herbeiführt. Die Entziehung der Staatsbürgerschaft ist nach Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG verboten, der Verlust gem. S. 2 aufgrund eines Gesetzes unter der Maßgabe möglich, dass keine Staatenlosigkeit eintritt. Dass die bestehenden Verlustgründe hier nicht einschlägig sind und auch eine Neueinführung höchst fraglich erscheint, wurde auf diesem Blog schon diskutiert (hier und hier).
Neben dem Grundgesetz setzt dabei auch das Völkerrecht der Souveränität des Staates in Bezug auf die Wegnahme der Staatsbürgerschaft Grenzen. Insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (ÜvSt) und das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (EuStAÜ) sind hier zentrale Bezugspunkte. Mit Blick auf Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bei einer französischen Regelung, für verurteilte Gefährder mit doppelter Staatsangehörigkeit den Verlust der französischen feststellen zu können, zwar keine Verletzung von Privat- und Familienleben erblickt (EGMR, Urteil v. 25. Juni 2020, Ghoumid/Frankreich, 25.6.2020 – 52273/16 – NVwZ 2021, 625). Da der französische Verlusttatbestand aber auf terroristische Straftaten begrenzt ist, verbleibt auch Art. 8 Abs. 1 EMRK für Merz´ Vorschlag als völkerrechtliche Grenze. Die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen einer Ausbürgerung gehen dabei über das Verbot des Eintritts der Staatenlosigkeit weit hinaus und sprechen gegen wertungsabhängige Entziehungs- oder Verlusttatbestände.
Das völkerrechtliche Willkürverbot
Neben Artikel 15 Abs. 2 AEMR verbietet auch Art. 4 lit. c) EuStAÜ, die Staatsangehörigkeit willkürlich zu entziehen. Die Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses, die sich auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte stützt, bekräftigt dieses Verbot weiter. Willkür ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Entzug nicht auf vernünftigen, sondern sachfremden Gründen beruht und im Einzelfall unverhältnismäßig ist (vgl. etwa MRA, Suárez de Guerrero v. Colombia, 45/1979 (1982) para 13.3). Die Gründe für eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft müssen also objektiv sowie in Bezug auf die damit verfolgten Interessen des Staates nachvollziehbar sein. Sie dürfen nicht auf bloßen Vermutungen beruhen. Obgleich Merz‘ Vorschlag noch sehr vage ist, droht eine Ausbürgerung aufgrund der „Abkehr von der Werteordnung des Grundgesetzes oder der freiheitlich-demokratischen Grundordnung” schnell in eine Grauzone der Willkür zu gleiten. Unter diesem Deckmantel könnten vom betreffendem Individuum losgelöste Beweggründe Eingang finden, wie etwa die Schimäre der „Staatsräson“ oder ein vermeintliches öffentliches Sicherheitsbedürfnis. Weder aus AEMR noch EuStAÜ folgt damit ein absolutes Verbot, dafür jedoch die zunächst notwendige und von Friedrich Merz wohl nicht infrage gestellte Selbstverständlichkeit, dass nicht jede kritische Äußerung, jede Andersartigkeit oder jede andere Lebensauffassung, aber auch nicht jede rechtskräftige Verurteilung als Verlustgrund völkerrechtlich (und grundgesetzlich) konform wäre.
Das völkerrechtliche Diskriminierungsverbot
Unbestritten bleibt, dass das Völkerrecht auch als Schutz vor Stigmatisierung, Diffamierung und Ausgrenzung zu verstehen sind, und die Aberkennung der Staatsbürgerschaft nicht dazu benutzt werden darf, politisch unbequeme Minderheiten zu verfolgen. Dieser Ratio trägt auch das völkerrechtliche Verbot der Diskriminierung Rechnung, welches sich neben Art. 5d des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung aus Art. 9 ÜvSt ableiten lässt. Dieses verbietet explizit die Aberkennung der Staatsbürgerschaft aus rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen. Das Diskriminierungsverbot erfasst als völkerrechtliches Gebot (etwa Art. 2 AEMR) nicht nur eine offene Benachteiligung, sondern auch eine versteckte, mittelbare Diskriminierung. Ein Verlusttatbestand, der an sich neutral formuliert ist, aber in der Praxis bestimmte Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig stark trifft, kann dabei in unzulässiger Weise diskriminierend sein. Auch Art. 5 Abs. 1 EuStAÜ verlangt die Konformität der Staatsangehörigkeitsvorschriften eines jeden Vertragsstaats mit dem Diskriminierungsverbot, insbesondere aufgrund des Geschlechts, der Religion, der Rasse, der Hautfarbe, der nationalen Herkunft oder der Volkszugehörigkeit. Die hier diskutierte Aberkennung der Staatsbürgerschaft birgt auch mit Blick auf eine etwaige mittelbare, rassistisch motivierte Diskriminierung das potenzielle Risiko einer Verletzung des Diskriminierungsverbots.
Das Risiko wertungsabhängiger Verlusttatbestände
Das Verbot der Staatenlosigkeit, das neben Art. 16 Abs. 1 GG auch in Art. 8 Abs. 1 ÜvSt seinen Ausdruck findet, verbietet ausdrücklich jede Ausbürgerung, die zur Staatenlosigkeit führt. Zwar mag es auf den ersten Blick so scheinen, als wären Doppelstaater von dieser Regelung ausgenommen, doch die Ratio des ÜvSt ist weitreichender. Es zielt nicht nur auf den Schutz von Menschen ohne jede Staatsangehörigkeit, sondern bringt – wie auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgestellt hat – eine inhärente Skepsis gegenüber wertungsabhängigen Verlusttatbeständen zum Ausdruck. Auch müssen die Vertragsstaaten bei der Ratifikation des Vertrages eine entsprechende Erklärung abgeben, ob sie von den Tatbeständen des Übereinkommens abweichen wollen. Deutschland hat eine solche Erklärung nicht abgegeben. Vielmehr hat die Bundesrepublik gar Einspruch gegen eine tunisische Erklärung zum ÜvSt eingelegt (vgl. Art. 20 Abs. 4 der Wiener Vertragsrechtskonvention), da der durch sie vorgesehene, vage gehaltene Verlusttatbestand nach Ansicht Deutschlands dem Zweck des Übereinkommens zuwiderliefe. Nun selber entsprechende Verlusttatbestände einzuführen wäre vor diesem Hintergrund höchst widersprüchlich.
Zwar haben sich in der völkergewohnheitsrechtlichen Praxis zahlreiche, im EuStAÜ und ÜvSt teils niedergeschriebene Verlusttatbestände etabliert. Gemeinsam haben diese jedoch eine bewusste – oder jedenfalls konkludent zum Ausdruck gebrachte – Abkehr gegenüber dem den Verlusttatbestand anordnenden Staat. Dazu gehören etwa eine örtliche Abstinenz durch lange Auslandsaufenthalte, den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit, der Verzicht auf Antrag, oder der Eintritt in einen fremden Wehrdienst. Allgemeine Straffälligkeit steht hingegen nicht in einem Zusammenhang mit Fragen der Landesloyalität. Art. 7 Abs. 1 lit. d EuStAÜ konzipiert zwar in Anlehnung an Art. 8 Abs. 3 ÜvSt einen wertungsabhängigen Tatbestand des „den Lebensinteressen des Staates in schwerwiegender Weise abträglichen Verhaltens“. Doch begreift das Übereinkommen diesen aufgrund des in Art. 7 Abs. 1 EuStAÜ abschließenden Katalogs („außer in folgenden Fällen”) erkennbar als restriktiv. Die Vertragsparteien sind hier also zu einer besonderen Zurückhaltung mit Blick auf ihren Gebrauch verpflichtet. Der Erläuternde Bericht zum Übereinkommen präzisiert dies insofern, als dass zwar Landesverrat und andere Straftaten, die gegen vitale Interessen des Staates gerichtet sind, ausreichend seien. Das gilt jedoch nicht für generelle Straftaten konventioneller Art, „wie gravierend diese im Einzelfall auch sein mögen” (para 67).
Staatsbürger auf Bewährung?
Der Schaffung eines vagen, straftatbezogenen Verlusttatbestands stehen gewichtige völkerrechtliche Bedenken entgegen. Es bleibt höchst fraglich, ob der Verlust der Staatsbürgerschaft als einschneidender Eingriff in die Rechte und Freiheiten überhaupt ein geeignetes Mittel sein kann, eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Begehung von Straftaten abzuwehren. Die Debatte um die Aberkennung der Staatsbürgerschaft sollte damit nicht zur populistischen Forderung verkommen, sondern auch mit Blick auf die hier dargelegten völkerrechtlichen Restriktionen geführt werden. Diese sollten dabei nicht als eine Fußnote, sondern als zentrale Handlungsanweisung verstanden werden. Paradoxerweise schafft der Vorschlag gar einen Anreiz, seine Doppelstaatsbürgerschaft abzulegen und somit ein grund- und völkerrechtlich unüberwindbares Hindernis zur Aberkennung der nun einzig verbliebenen deutschen Staatsbürgerschaft zu schaffen.
Ungeachtet der Frage nach dem rechtlich Möglichen stellt sich die Frage, ob es einer modernen Demokratie würdig ist, einen Teil ihrer Bürger durch eine drohende Aberkennung der Staatsbürgerschaft zu Staatsbürgern „auf Bewährung“ zu erklären. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ist nicht nur der finale Akt der rechtlichen Gleichstellung von Zugewanderten, sondern auch ein feierlicher Akt der kollektiven Identifikationsschaffung mit dem Verfassungsstaat BRD. So sehr die Ohnmacht angesichts terroristischer Anschläge auch verständlich ist, sollte doch sorgfältig erwogen werden, ob die Vorschläge empirisch tatsächlich dazu beitragen würden, schwere Straftaten zu verhindern. Oder sie stattdessen nur die Illusion einer politischen Lösbarkeit erzeugen, während gleichzeitig populistische Narrative bedient werden. Ein selbstbewusster Rechtsstaat hingegen zeichnet sich nicht durch ein Damoklesschwert der Ausgrenzung, sondern gerade durch die Wahrung seiner Grundwerte auch gegenüber vermeintlich Abtrünnigen aus.