Der Europarat muss den Austritt Russlands erklären
Nachdem Russland nach der Suspendierung der Mitgliedschaft im Europarat durch das Ministerkomitee am 25.2.2022 nicht selbst den Austritt erklärt hat, muss der Europarat jetzt Russlands Ausschluss beschließen. Der Europarat darf Menschenrechte und Demokratie in Russland deshalb aber nicht abschreiben.
Die Suspendierung
Einen Tag nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, am 25.2.2022, hat das Ministerkomitee des Europarats Russlands Mitgliedschaft nach Art. 8 der Satzung des Europarats wegen eines schweren Verstoßes gegen die Ziele des Europarats nach Art. 3 der Satzung suspendiert. Das Votum fiel angesichts der jahrelangen Kontroverse um Russlands Mitgliedschaft vergleichsweise klar aus. 42 der 47 Mitgliedsstaaten stimmten für die Suspendierung Russlands. Folge der Suspendierung nach Art. 8 der Satzung ist im Wesentlichen, dass Vertreter Russlands nicht mehr an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung und des Ministerkomitees teilnehmen dürfen. Darüber hinaus bleiben die Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft aber bestehen.
Beobachter waren davon ausgegangen, dass Russland nach der Suspendierung durch den Europarat nach Art. 7 der Satzung selbst den Austritt von der Organisation erklären würde. Die Annahme beruhte darauf, dass Russland über Jahre mit dem Austritt gedroht hatte, um zu erreichen, dass seine Mitgliedschaftsrechte in der Parlamentarischen Versammlung, die nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 sanktioniert worden waren, wiederhergestellt würden. Aus diesem Grund hatte die Parlamentarische Versammlung die Sanktion im Jahr 2019 schließlich wieder aufgehoben. Ziel war es, einen Austritt Russlands zu verhindern. Das Entgegenkommen war damit begründet worden, mit Russland im Dialog zu bleiben und russischen Bürgerinnen und Bürgern die Beschwerdemöglichkeit zum EGMR offen zu halten. Eine Verbesserung der Menschenrechtssituation konnte jedoch nicht erreicht werden.
Doch entgegen den früheren Drohungen erklärte Russland auch nach der vollständigen Suspendierung am 25.2.2022 zunächst nicht den Austritt. Gleichzeitig wurde die Suspendierung von Vertretern Russlands scharf kommentiert. Der bisherige russische Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung, die sich auf ihrer Website „das demokratische Gewissen Europas“ nennt, Petr Tolstoj, warf dem Europarat in einem aggressiven Beitrag voller Lügen auf Facebook höhnisch unangebrachte Solidarität mit der Ukraine vor, dort würden Nazis marschieren. Die Ukraine würde mit der Atombombe drohen. Zynisch setzt er hinzu: „Unseren Mitbürgern, die sich all die Jahre empört haben, dass Russland für die Beschimpfungen und ungehobelten, an uns gerichteten Resolutionen, Mitgliedsbeiträge (an den Europarat) zahlt, möchte ich sagen: Wir waren ehrlich, wir haben versucht, den Dialog bis zum Ende fortzusetzen. Nun wird die Wiederaufnahme unseres Gesprächs vom Europarat abhängen. Wir Russen werden uns nicht ändern.“ Am 10.3.2022 hat das russische Außenministerium nun erklärt, Russland werde nicht länger im Europarat mitarbeiten, aber diese Aussage ist unklar, da die aktive Mitarbeit Russlands vom Europarat bereits durch die Suspendierung ausgeschlossen wurde. Offensichtlich will man einem Ausschluss vorgreifen, ohne dies aber konkret zu machen.
Dass Russland nicht sofort den Austritt erklärt, verdeutlich, dass es die Mitgliedschaft auch jetzt weiter nutzen kann, um die eigene Macht zu testen und die Glaubwürdigkeit des Europarats zu beschädigen.
Nach der Suspendierung folgt der Ausschluss
Eine Suspendierung ist aber dauerhaft nur sinnvoll, wenn dadurch eine Verbesserung der Situation erzwungen werden kann. Dies ist aktuell aussichtslos. Der russische Angriffskrieg kann mit den Mitteln des Europarats nicht gestoppt werden. Die Möglichkeit der Beschwerde gegen Russland zum EGMR ist ebenfalls kein überzeugender Grund. Die aktuellen vorläufigen Maßnahmen des EGMR sind wirkungslos. Angesichts von Tod und Vertreibung können die Menschen aktuell nicht einmal mehr Beschwerde erheben. Und punktuelle Feststellungen von einzelnen Menschenrechtsverletzungen würden dem Ausmaß der russischen Verbrechen insgesamt nicht gerecht. Stattdessen müssen durch das (internationale) Strafrecht Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit benannt werden. Immer wieder hat der EGMR argumentiert, die Konvention solle Rechte nicht theoretisch oder illusorisch garantieren, sondern praktisch und wirksam. Denn Entscheidungen des EGMR, die nicht umgesetzt werden, schwächen ihn.
Dass der eintretende Wegfall der russischen Beitragszahlungen angesichts des Krieges kein Argument sein darf, ist offensichtlich.
Deshalb muss das Ministerkomitee Russland jetzt auffordern, gemäß den Bestimmungen des Art. 7 auszutreten. Wird dieser Aufforderung nicht Folge geleistet, so muss das Ministerkomitee nach Art. 8 beschließen, dass Russland nicht mehr dem Europarat angehört. Die Frage der Mitgliedschaft darf nicht erneut zu einer rechtlichen Grauzone werden. Selbst wenn Russland den Austritt erklärt, ist es wichtig, dass das Ministerkomitee den Ausschluss selbst erklärt und nicht einfach nur die russische Entscheidung zur Kenntnis nimmt.
Der Europarat muss deshalb nicht aufhören, die Menschenrechtsverletzungen in Russland klar zu benennen. Außerdem sollten russische Menschenrechtsverteidiger, die bisher bereits unter Risiken die Rechtsprechung des EGMR mit ihren Beschwerden ermöglicht und vorangebracht haben, in der aktuellen Situation vom Europarat unterstützt werden. Auch sollte der Europarat wichtige Dokumente weiter ins Russische übersetzen und in die russische Gesellschaft kommunizieren. Der Austritt Russlands darf nicht dazu führen, dass die russische Zivilgesellschaft vergessen wird. Russland sollte auch Mitglied der Kulturkonvention bleiben.
Der Europarat hat die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen. Insofern ist der Krieg auch eine Krise des Europarats. Wie bereits Andrew Forde sehr überzeugend argumentiert hat, sollte die Krise jetzt genutzt werden, um die Einheit zu stärken und z.B. in einer Konferenz der Regierungschefs eine neue politische Vision für den Europarat zu entwerfen und daraus gestärkt hervorzugehen.
Russlands Fahne darf angesichts der Verbrechen aber nicht weiter vor Europas wichtigster Menschenrechtsinstitution wehen. Ein glaubwürdiger und starker Europarat wird gerade jetzt sehr gebraucht.