10 May 2019

„Der III. Weg“ in Plauen und das Militanzverbot des Versammlungs­rechts

I. Der Wunsiedel-Beschluss:  Rechtsgüterschutz jenseits der geistigen Sphäre des Für-richtig-Haltens

Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip – dieser Satz begleitet seit dem Sündenfall des Wunsiedel-Beschlusses (BVerfGE 124, 300) wie ein schlechtes Gewissen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, soweit sie sich mit einschlägigen rechtsgerichteten Bekundungen zu befassen hat. Er hat Bedeutung nicht nur für die Zulässigkeit von Meinungsäußerungen im Allgemeinen, sondern gerade auch auf Versammlungen. Soll nämlich mit dem Einschreiten gegen die Versammlung eine Meinungsäußerung unterbunden werden, hängt auch versammlungsrechtlich alles von der Zulässigkeit dieser Meinungsäußerung ab. Der Wunsiedel-Beschluss hatte im strafrechtlichen Verbot der Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft (§ 130 Abs. 4 StGB) Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit gesehen, wie es durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eigentlich verboten ist. Denn der Schutz der Geistesfreiheit lässt die Unterdrückung einer – wenn auch anstößigen, fehlgeleiteten, empörenden – Geisteshaltung nicht zu, erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, solange nicht die Formen ihrer Äußerung „die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutsverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen“ (BVerfGE 124, 300 [330]). Diese Ausgangsposition des Gerichts lässt ein aus der Perspektive der Geistesfreiheit nicht nur einleuchtendes, sondern zwangsläufiges Unterscheidungsprinzip erkennen: Da gerade und nur die geistige Einwirkung auf andere umfassend garantiert ist (bereits BVerfGE 7, 198 [212]), verdient ein das Feld des friedlichen Austauschs von Argumenten überschreitender, mit dem Mittel der Bedrohung und Einschüchterung arbeitender oder tendenziell gewalttätiger oder gewaltfördernder Kampf um Anerkennung der eigenen Meinungsposition keinen Schutz (etwa BVerfGE 25, 256 [264 f.]; BVerfG NJW 2011, 47 [Rn. 23]). Bis zu dieser Grenze aber sind die Gedanken frei, auch wenn sie in provozierender Absicht geäußert werden und auf Konfrontation zielen.

Freilich soll dann nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft doch bereits die Verletzung eines Rechtsguts indizieren. Weil die Frontstellung gegen das nationalsozialistische Unrecht das bundesdeutsche Gemeinwesen prägt, wirkt die demonstrative Solidarisierung mit den realen historischen Verbrechen des NS-Regimes, das ist in der Sache die weitere Botschaft des Wunsiedel-Beschlusses, als realer und friedensbedrohender Angriff auf die geschichtsgeprägte Identität der Bundesrepublik, die wie eine Staatszielbestimmung unter dem Schutz des Grundgesetzes steht. Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit, das auf die „Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft … (zielt)“ ist darum als vorgelagerter Rechtsgüterschutz zulässig, ohne dass es etwa zusätzlich auf gewaltaffine Formen oder Umstände der Äußerung ankäme (vgl. Enders, JZ 2008, 1092 [1097]). Die Konstruktion, die viel Kritik hervorgerufen hat, und als Modell für einen singulären Ausnahmefall gedacht war, wurde inzwischen gleichwohl auf das Verbot der Billigung und Leugnung des Holocaust (nach § 130 Abs. 3 StGB) ausgedehnt (BVerfG NJW 2018, 2858 [Rn. 23]; etwas anders für die Verharmlosung BVerfG NJW 2018, 2861 [Rn. 16]; dazu kritisch Hong, Holocaust, Meinungsfreiheit und Sonderrechtsverbot, VerfBlog, 2018/8/05), auf Äußerungsformen also, die ihrerseits an sich in der Sphäre der geistigen Stellungnahme verbleiben. 

Umso hartnäckiger, hat es den Anschein, betont das Bundesverfassungsgericht in der Folge auf der anderen Seite und für alle übrigen Fälle seine These, dass ein antinationalsozialistisches Grundprinzip dem Grundgesetz unbekannt sei. Die „Verbreitung von rechtsradikalen und auch an die Ideologie des Nationalsozialismus anknüpfenden Ansichten“ darf darum als solche nicht unterbunden werden (BVerfGE 124, 300 [337, vgl. 334]). Stets ist zu fragen, ob mit einer Äußerung die Schwelle zur Rechtsgütergefährdung oder -verletzung durch gewaltaffine Form oder Umstände der fraglichen Äußerung überschritten und damit die Schutzzone des rein geistigen Meinens und Dafürhaltens verlassen ist, Abwehr- und Sanktionsmaßnahmen also gerechtfertigt sind. Eine Unterscheidung, die nicht immer einfach zu treffen ist.

II. „Der III. Weg“ in Plauen

Auch der Aufmarsch der Partei „Der III. Weg“ am 1. Mai 2019 in Plauen bietet Anschauungsmaterial zur immer wieder problematischen Abgrenzung zwischen Äußerungen, die als Beiträge zum Meinungskampf in der rein geistigen Sphäre des Für-richtig-Haltens verbleiben (und insoweit absolut geschützt sind) und solchen, die sich durch ihre Gewaltaffinität disqualifizieren: Die Gruppierung von etwa 500 Personen war – nach ordnungsgemäßer Anzeige der Versammlung – durch Plauen gezogen, mit Plakaten und Transparenten, die etwa „Für einen Deutschen Sozialismus“ warben, die „Asylflut stoppen!“ wollten oder sich für „Soziale Gerechtigkeit“ und gegen  „kriminelle Ausländer“  positionierten („Soziale Gerechtigkeit statt kriminelle Ausländer“). Interessanter noch sind die Begleitumstände. Man marschierte über die Europa-Flagge hinweg, kleidete sich ganz überwiegend einheitlich in hellbraune (und einheitlich bedruckte) T-Shirts und führte, um die Wirkung des Aufzugs noch zu steigern, Signalfackeln (Bengalos) und Trommeln mit. Angesichts unübersehbarer Anklänge an Nazi-Aufmärsche, namentlich Fackelzüge der SA, war die Empörung groß. Wieso war der Aufzug nicht verboten oder jedenfalls beauflagt worden, um der fatalen Symbolik den Stachel zu ziehen? Warum war die Polizei nicht jedenfalls im Verlauf des Aufzugs eingeschritten und hatte dem Spuk ein Ende bereitet?

Die Polizei teilte indessen die Auffassung des Landratsamtes als zuständiger Versammlungsbehörde: Man habe den Aufzug im Vorfeld nicht verbieten, ihn auch später nicht auflösen können. Insbesondere habe die rechtsextreme Gruppierung mit ihrem Auftreten nicht gegen das Uniformverbot verstoßen. Denn eine Anlehnung an aktuelle oder historische Uniformen sei nicht ersichtlich gewesen. (§ 3 SächsVersG; vgl. § 3 [B-]VersG). 

III. Schutz der Geistesfreiheit durch die Unterscheidung von Inhalt und Form: das Militanzverbot

Der Ausgangspunkt juristischer Betrachtung muss allerdings auch hier sein: Das Grundgesetz kennt kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip. Allein Anklänge an nationalsozialistisches Gedankengut rechtfertigen also nicht das Einschreiten der Behörden gegen eine Kundgebung. Meinungen sind ihrem Inhalt nach, selbst wenn sie nationalsozialistisch imprägniert sind, – mit gewissen Einschränkungen (oben I.) – absolut geschützt. Es kommt dann aber weiter darauf an, auf welche Weise, unter welchen Begleitumständen die Botschaft den Adressaten vermittelt wird. Gewaltaffine Formen oder Umstände der Äußerung, mit denen die „rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen (wird) und (Meinungsäußerungen) in Rechtsgutsverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen“, rechtfertigen ein Einschreiten und, je nach Rechtslage, auch Strafsanktionen.

Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu eine Lehre entwickelt, die in ihrem Kern, nicht notwendig in sämtlichen Ausprägungen, überzeugt und Zustimmung verdient, weil sie an den Gegensatz von geistigem Inhalt und gewaltaffiner Vermittlung, an die Differenzierung von Inhalt und Form anknüpft: Versammlungen unter freiem Himmel stehen unter dem gesetzlichen Vorbehalt des Schutzes der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (§ 15 Abs. 3 SächsVersG; § 15 Abs. 3 [B-]VersG). Unter der öffentlichen Ordnung werden dabei ungeschriebene, jedoch allgemein akzeptierte Verhaltensregeln verstanden, deren Beachtung unabdingbar ist, um das soziale Zusammenleben verträglich zu gestalten. Verletzt eine Versammlung, unabhängig von den Inhalten, die sie propagiert, durch die „Art und Weise der Durchführung“ diese ungeschriebenen Verhaltensregeln, sind im Rahmen des Verhältnismäßigen Eingriffsmaßnahmen möglich. Eine für freiheitliche Gesellschaften sicherlich ganz zentrale Verhaltensregel formuliert dabei das allgemeine Verbot, dass im kommunikativen Umgang eine auf Überzeugung angelegte Argumentation nicht durch bedrohliche Einschüchterungsposen ersetzt werden darf. Dieses – als ungeschriebene Anforderung aus der  öffentlichen Ordnung abgeleitete – Militanzverbot ist zu einer wichtigen Eingriffsgrundlage für Maßnahmen gegen rechtsradikale Versammlungen geworden, wenn diese ein „aggressives und provokatives, die Bürger einschüchterndes Verhalten“ an den Tag legen, „durch das ein Klima der Gewaltdemonstration und potentieller Gewaltbereitschaft erzeugt wird“ (BVerfGE 111, 147 [156 f.]). 

IV. Das Uniformverbot und der Aufmarsch von Plauen

Einen Ausschnitt des allgemeinen Militanzverbots – das inzwischen als solches von einigen neueren Versammlungsgesetzen ausdrücklich positiviert wurde (z.B. Art. 7 Nr. 2 BayVersG) – stellt das Uniformverbot dar, das sich schon von Anbeginn (seit 1953) als spezielle Regelung im Versammlungsgesetz des Bundes findet und sich den „Erfahrungen mit den Aufmärschen militanter Parteiorganisationen in der Spätphase der Weimarer Republik“ verdankt. Es soll die „durch solche Aufmärsche symbolisierte Gewaltbereitschaft mit der damit verbundenen einschüchternden Wirkung verhindern“ (BGH NJW 2018, 1893, Rn. 16 – Sharia Police).  Schon immer war insofern mit Rücksicht auf die Meinungsfreiheit klar: nicht jedes uniforme Auftreten fällt nach diesem Sinn und Zweck der Normierung unter das Uniformverbot. Hinzukommen muss stets eine nach den Umständen einschüchternde Wirkung (BVerfG NJW 1982, 1803; Enders, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 2016, § 3 VersammlG, Rn. 4). Das Sächsische Versammlungsgesetz hat diese allgemein konsentierte, einschränkende Anforderung ausdrücklich im Tatbestand des gesetzlichen Verbots normiert (§ 3 SächsVersG: „Es ist verboten, öffentlich oder in einer Versammlung Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen, wenn infolge des äußeren Erscheinungsbildes oder durch die Ausgestaltung der Versammlung Gewaltbereitschaft vermittelt und dadurch auf andere Versammlungsteilnehmer oder Außenstehende einschüchternd eingewirkt wird“).

Andererseits ist offenkundig, dass keineswegs eine Uniformierung im engeren Sinne einer „Anlehnung an aktuelle oder historische Uniformen“ (so die Einlassung der Polizei zum Aufmarsch in Plauen) Voraussetzung des Verbotstatbestands ist. Es reicht aus, dass „gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung“ getragen werden – wenn das Einschüchterungsmoment hinzutritt. Auf diese letzte und entscheidende Frage wird sich die Subsumtion unter den Verbotstatbestand häufig zuspitzen, so auch für die Ereignisse in Plauen am 1. Mai. 

Hier ist entscheidend, dass es, wie auch die Formulierung in § 3 SächsVersG zum Ausdruck bringt (Erscheinungsbild; Ausgestaltung der Versammlung), auf die Gesamtumstände ankommt (BGH NJW 2018, 1893, Rn. 17 – Sharia Police). Entfaltet die gleichartige Bekleidung von Versammlungsteilnehmern unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, unter denen die Versammlung stattfindet, einschüchternde Wirkung? Ausreichend ist dabei, so der BGH, dass „das Tatgeschehen eine derartige Wirkung erzielen kann“ (BGH NJW 2018, 1893, Rn. 22 – Sharia Police). Das lässt sich für den Aufmarsch in Plauen bejahen, wenn man die einheitliche Bekleidung, die eine einheitliche Gesinnung schon durch Aufdruck bekundet und farblich an NS-Gebräuche anknüpft, im Lichte der weiteren Umstände der Versammlung sieht, der Signalfackeln und Trommeln, die das Erscheinungsbild der Versammlungsteilnehmer in einer bestimmten, leicht als bedrohlich zu empfindenden Richtung (der Identifikation mit den Riten und Symbolen des NS-Regimes, vgl. BVerfGE 111, 147 [157]) allseits wahrnehmbar interpretieren. Die mögliche einschüchternde Wirkung eines solchen Aufmarsches einer nicht ganz geringen Anzahl von Personen ist so wenig von der Hand zu weisen, dass selbst ohne Rücksicht auf das spezielle Uniformverbot, das am Schutz der öffentlichen Sicherheit teilhat, an Eingriffsmaßnahmen zu denken wäre, die sich auf das zum Schutz der öffentlichen Ordnung bestehende allgemeine Militanzverbot berufen könnten. In jedem Fall gilt: Die Europa-Flagge ist zwar als Symbol der Europäischen Union nicht strafrechtlich geschützt (vgl. § 90a StGB). Dass über sie hinweggetrampelt wird, belegt aber im Kontext des übrigen Geschehens doch bildlich eine Bereitschaft zur aggressiven Durchsetzung des eigenen Standpunkts.

V. Rechtliche Konsequenzen

Geht man davon aus, dass der Tatbestand der Eingriffsnorm (§ 15 Abs. 3 SächsVersG) durch den Verstoß gegen das Uniformierungs- oder das allgemeine Militanzverbot erfüllt ist, durfte die Polizei gegen die laufende Versammlung einschreiten. Darüber hinaus liegt freilich nahe, dass in Anbetracht des dann einheitlich rechtswidrigen Erscheinungsbildes der Versammelten das Einschreitensermessen der Polizei „auf Null“ reduziert war, sie also nicht nur einschreiten durfte, sondern einschreiten und die Versammlung mangels milderer Möglichkeiten auflösen musste. Vor allem aber ist zu bedenken: Wird ein Verstoß gegen das Uniformierungsverbot bejaht und schreitet die Polizei nicht ein, steht der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt im Raum (§ 258a StGB). Denn das Uniformierungsverbot ist strafbewehrt (§ 29 SächsVersG; § 28 [B-]VersG) und die Polizei nach dem Legalitätsprinzip zur Strafverfolgung verpflichtet.