Der neue Politikjournalismus: Nichtlinear und visuell
Es war Mitte der Neunziger. Ich hatte gerade den Beschluss gefasst, Journalist zu werden. Ich stand mit einem etwas älteren Freund zusammen, der gerade als Volontär beim Bayerischen Rundfunk genommen worden war, und wir fantasierten über unsere aufregende politische Korrespondentenzukunft: Bonn! Washington! Moskau! Als ich „Brüssel!“ einwarf, zog mein erfahrenerer Freund ein Gesicht.
Ach, Brüssel, sagte er. Brüssel ist doch keine Geschichte.
Jeder weiß, dass die meisten Gesetze auf EU-Ebene entstehen. In Brüssel fallen die maßgeblichen Entscheidungen. Die Politik, die dort gemacht wird, ist für Deutschland und seine Zeitungsleser von ungeheurer Tragweite.
Aber Brüssel ist keine Geschichte.
Wir Politikjournalisten sind gewohnt, es als Problem der Politik zu betrachten, wenn sie „keine Geschichte“ ist: Was können wir dafür, wenn die in Brüssel solche Langweiler sind? Wenn die immer nur Kompromisse aushandeln, anstatt die Entscheidung auf ein sauberes Entweder-Oder zuzuspitzen, ein Dafür-oder-dagegen, mit dem man tüchtig Spannung erzeugen kann? Wie soll man eine Geschichte erzählen, ohne Spannung?
Dann kommen sie halt nicht vor in der Zeitung, sind wir gewohnt zu sagen. Ist doch nicht unser Problem.
Das Dumme ist nur: Diese schöne zugespitzte Entweder-Oder-Situation, die wir so nötig brauchen für unseren Job, die gibt es in der Politik immer seltener. Nicht nur in Brüssel, auch in Berlin: Zwischen zwei bis drei Koalitionspartnern, fünf Parteien, sechzehn Ländern und tausend Verbänden, Experten und Interessenvertretern wird in Berlin längst genauso viel verhandelt und konsultiert wie in Brüssel. Das kann man beklagen und bejammern, aber nach der x-ten Wiederholung ist auch die Beobachtung, dass Angela Merkel „nicht führt“, keine spannende Geschichte mehr.
Uns kommt unser Gegenstand, die Politik, abhanden. Und das ist leider durchaus unser Problem.
Eine Zeitlang haben wir geglaubt, wir kämen damit davon, dass wir „personalisieren“, also das Drama in den handelnden Figuren suchen. Das kann man machen. Aber nicht, wenn es sich bei der handelnden Figur um, sagen wir, Ronald Pofalla handelt.
Unsere Frustration, dass aus so vielen mächtigen Politikern so wenig Drama herauszumelken ist, schlägt sich in jenem verächtlichen, sarkastischen Ton nieder, in dem über sie schreiben, als wären wir in Berlin immer und überall nur von Idioten umgeben, und der vermutlich das Letzte ist, was uns unsere zunehmend befremdeten Lesern noch glauben.
Unser letzter Ausweg: Wir machen uns unsere Spannung einfach selber. Wir bürsten auf Krawall und machen aus jeder Meinungsverschiedenheit einen Riesenkrach und aus jeder Auseinandersetzung um den richtigen Weg in der Hartz-IV-Reform eine „Meuterei gegen von der Leyen“ und verfehlen damit sowohl das Thema als auch das Leserinteresse: Als ob das außerhalb der Hauptstadtdunstglocke irgend jemand interessieren würde, wenn irgendein langweiliger Politiker Ärger mit irgendeinem anderen langweiligen Politiker hat.
Apropos Leser: Denen geben wir auch immer gern die Schuld an der Misere. Sie seien ja so indifferent und politikverdrossen! Mag alles sein. Aber meine Vermutung ist, dass sich das Interesse der Leute da draußen an der Lösung politischer Probleme schon wecken ließe, wenn man sie nicht immer mit Scheinkonflikten und Albernheiten behelligen würde.
Politik für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen ist unser Job. Wenn wir das durch Geschichtenerzählen nicht mehr hinbekommen, dann sollten wir uns nach anderen Möglichkeiten umsehen.
Es gibt, ausgehend von den USA und Großbritannien, einen Trend, der sich „data journalism“ nennt: das Zugänglichmachen von gewaltigen Datenmengen durch Navigationshilfen und Visualisierung. Das prominenteste Beispiel war die Veröffentlichung der Afghanistan- und Irak-Protokolle von Wikileaks beim Guardian, bei der New York Times und beim Spiegel.
Solche Darstellungsformen sind die Zukunft des Politikjournalismus. Warum sollte sich nicht auch, sagen wir, die Debatte um die Hartz-IV-Reform auf diese Weise zugänglich machen lassen? Sicher, die Daten sind nicht sauber tabellierbar und nur schwer automatisch zu verarbeiten. Aber um so mehr gäbe es für gestandene Politikjournalisten zu tun.
Der neue Politikjournalismus ist nichtlinear, und er ist visuell. Er versorgt die Leser mit Orientierung, damit sie im Dschungel der politischen Lösungsvorschläge ihren eigenen Standpunkt finden und markieren können. Er kartografiert die politische Meinungslandschaft. Er ist nützlich. Er wird gebraucht. Er ist relevant.
Und spannend ist er obendrein.
Dieser Artikel ist im Dezember-Heft von POLITIK&KOMMUNIKATION erschienen.
Prima Gedanke! Kam schon mal einer auf die Idee, einen Politikatlas zu erfinden?
Gruß
K
Interessante Analyse, aber warum nicht den noch näher liegenden Schluss ziehen. Politik, solange der politische Betrieb gut funktioniert, interessiert die breite Masse nicht. Politik wird tatsächlich erst für die Meisten dann interessant, wenn das geregelte Leben aufgrund von Katastrophen nicht mehr möglich ist. Davon sind wir zum Glück noch etwas entfernt.
Interessant war und ist zu aller erst Entertainment. Denn man natürlich viel lieber dann konsumiert, wenn man der Meinung ist, man ließe sich nicht unterhalten sonder gemäß seiner staatsbürgerlichen Pflicht informieren.
Aber das durchklicken durch irgendwelche Diagramme sowie das Lesen von „langweiligen“ Texten die nicht mit Drama aufgepeppt wurden, ist alles andere als unterhaltend und somit nicht Massenkompatibel.
Trotzdem ein versöhnliches, Frohes Neues!
@ Alexander:
Es ist nicht die Aufgabe des politischen Journalismus, “unterhaltend” zu sein. Zudem “funktioniert der politische Betrieb” ja schon recht lange nicht mehr, was zur Folge hat, dass sehr viele Menschen sich für Politik “interessieren”. Durch den Niedergang des “Qualitätsjournalismus”, der in weiten Teilen nur noch einer Außenstelle des Propagandaministeriums gleicht, wenden sich aber immer mehr Menschen von diesen Medien ab und suchen im Internet nach Alternativen – die Erfolge der Nachdenkseiten und anderer Portale sprechen ja für sich.
Außerdem interessiert es mich, wen genau Du mit “wir” meinst, wenn Du davon schreibst, “wir” seien zum Glück noch etwas von den Katastrophen entfernt, die ein geregeltes Leben verhindern. Millionen von Hartz-Opfern kannst Du nicht meinen – für die ist der tägliche Kampf um die Existenz zur schrecklichen Normalität geworden. Viele Rentner, die mit Niedrigstrenten auskommen müssen, sind in Deinem “wir” auch nicht enthalten. Auch Behinderte fallen nicht darunter, sofern sie vom Staat abhängig sind. Wieviele Katastrophen muss die neoliberale Bande denn noch herbeiführen, bis auch Du bemerkst, dass davon tatsächlich wir alle betroffen sind? Geplant sind ja beileibe genug.
Aber vielleicht klickst Du dich ja weiterhin lieber durch unterhaltende Texte und wirst eines schönen Morgens aufwachen und erstaunt “Oh” rufen, wenn auch Du “plötzlich” zu den Opfern gehörst.