Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes durch Migration
Zu den anstehenden Reformüberlegungen im Bereich des Erwerbsmigrationsrechts
Pünktlich zum Beginn der Sommerferien in vielen Bundesländern ist das Phänomen eines Arbeitskräftemangels an einer besonders schmerzhaften Stelle zu Tage getreten. An deutschen Flughäfen kam es bei Gepäckabfertigung und Sicherheitskontrolle zu langen Staus und Wartezeiten mit der Folge, dass sich zahlreiche Flüge immens verspäteten oder Familien sogar ihren Flug in die Ferien gar nicht erst antreten konnten. Entsprechend schnell erschallten Rufe nach einem vermehrten Einsatz ausländischer Arbeitskräfte als Abhilfe und dabei vor allem solchen aus der Türkei, die kurzfristig an deutschen Flughäfen für ‚ground services‘ wie bspw. die Gepäckverladung einspringen und der nach einer langen Corona-Pause besonders fernreisehungrigen deutschen Bevölkerung den Sommerurlaub retten sollen. Bewerkstelligt werden soll dies dabei über eine rechtlich interessante Konstruktion. Denn für die Einwanderung dieser Gruppe bemüht wird nicht etwa der zumindest auf den ersten Blick naheliegende Weg über ein bereits mit der Türkei bestehendes Werkvertragsabkommen (§ 19c Abs. 1 AufenthG iVm § 29 Abs. 1 BeschV), sondern der § 19c Abs. 3 AufenthG, der als Einzelfallregelung angelegt ist und tatbestandlich nichts weniger als ein öffentliches Interesse voraussetzt.
Wenig überraschend kamen wenige Tage nach der Ankündigung dieser ‘Sonderregelung’ für die Luftfahrtbranche auch aus dem Gastronomiebereich erste Rufe nach einer ähnlichen Regel für eine erleichterte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ohne Formalqualifikationen – weitere Branchen werden sicher folgen. Aufgezeigt ist dabei ein migrationsrechtlicher Trend: Nachdem in den letzten knapp zwei Jahrzehnten – beginnend mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 über die Umsetzung der EU-Hochqualifiziertenrichtlinie 2012 und mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2020 als vorläufigem Höhepunkt – ausschließlich oder zumindest größtenteils Fachkräfte im ausländerrechtlichen Sinne und damit Drittstaatsangehörige, deren im Ausland erworbene Qualifikationen als zu deutschen Standards gleichwertig anerkannt wurden, im Zentrum der Reformbemühungen standen und die OECD für hochqualifizierte Fachkräfte bereits 2013 zu dem Schluss kam, dass Deutschland zu den liberalsten Einwanderungsländern weltweit gehört, rücken nun – wie der ‚Flughafen-Fall‘ exemplarisch gezeigt hat – (potenzielle) Arbeitskräfte ohne als gleichwertig zu deutschen Standards anerkannte Formalqualifikationen in den Blick der Politik. Verbunden ist damit die Hoffnung, dass die bislang noch nicht richtig in Schwung gekommene Anwerbung von Drittstaatsangehörigen für den deutschen Arbeitsmarkt eine neue Dynamik erhält. Bislang (zu) wenig gesprochen wird aber zumindest bislang über die damit verbundenen Risiken. Denn Folge dieses neuen Fokus‘ auf formal nicht-qualifizierte Arbeitskräfte ist eine Deregulierung des Arbeitsmarktes durch Migration.
Qualifikationsanerkennung: Die Gretchenfrage im deutschen Erwerbsmigrationsrecht
Aus rechtlicher Perspektive ist dieser neue Fokus nur konsequent: Für Drittstaatsangehörige mit als gleichwertig zu deutschen Standards anerkannten Qualifikationen ist in Deutschland mittlerweile ein Zustand erreicht, der sich von dem einer Voll-Liberalisierung kaum mehr unterscheidet. Grundsätzlich gilt: Wessen Qualifikation anerkannt ist, kann einreisen, entweder um in Deutschland direkt in einer Beschäftigung zu arbeiten, zu der die jeweilige Qualifikation befähigt (§§ 18a, 18b, 18d Abs. 1 AufenthG), oder um sich einen der Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz zu suchen (§ 20 Abs. 1 und 2 AufenthG). Für diese Gruppen ist damit, zumindest dann, wenn man die Optionen der Erwerbsmigration nicht wieder zurückfahren und beschränken will, der politische Handlungsbedarf gering. Konsequent ist der Fokus auf formal nichtqualifizierte Ausländerinnen und Ausländer aber auch, weil für diese Gruppe im deutschen Recht bislang keine systematischen Zuwanderungsoptionen, sondern lediglich berufs- bzw. länderbeschränkte Ausnahmeregelungen vorhanden sind. Dazu gehört neben der als ‚Westbalkanregelung‘ bekannt gewordenen und zumindest im ausländerrechtlichen Schrifttum (und konkret hier, hier und hier) kritisch bis ablehnend besprochenen Option des § 19c Abs. 1 AufenthG iVm § 26 Abs. 2 BeschV, der unter Verzicht jeglicher qualifikatorischer Anforderungen Staatsangehörigen aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Albanien, Montenegro, dem Kosovo sowie Nordmazedonien die Einreise nach und Arbeitsaufnahme in Deutschland ermöglicht, auch eine Sonderregelung für Arbeitskräfte in Berufen der Informations- und Kommunikationstechnologie (§ 19c Abs. 3 iVm § 6 BeschV). In dieser Branche können Arbeitskräfte, auch ohne Fachkraft iSd Ausländerrechts (§ 18 Abs. 3 AufenthG) zu sein und d.h. ohne Anerkennung einer im Ausland erworbenen beruflichen oder akademischen Qualifikation als gleichwertig zu deutschen Ausbildungsstandards, zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach Deutschland kommen, sofern sie eine in den letzten sieben Jahren erworbene, mindestens dreijährige Berufserfahrung nachweisen können. Ein (koalitionsvertraglich vereinbartes) Punktesystem könnte an dieser Stelle folglich länder- und berufsgruppenübergreifend wirken und den Arbeitsmarkt in Deutschland damit systematisch für eine spezifische Gruppe von Arbeitskräften öffnen, für die – wie die Flughafen-Causa zumindest nahelegt – bereits jetzt eine Nachfrage besteht, die im deutschen Recht bislang aber kaum – oder wie im Flughafen-Fall lediglich unter Bemühung eines öffentlichen Interesses – bedient werden kann. Mittels eines Punktesystem könnte folglich ein materieller Qualifikationsbegriff bspw. über die Berücksichtigung spezifischer Berufserfahrung, einer Ausbildung in einem bestimmten Beruf oder der konkreten Nachfrage der Arbeitgeber stärker Geltung erlangen und die Bereiche im deutschen Erwerbsmigrationsrecht, die weiterhin stark von einem formellen Qualifikationsbegriff geprägt sein werden, ergänzen. Der deutsche Arbeitsmarkt würde somit über die stärkere Zulassung ausländischer Arbeitskräfte ohne Formalqualifikationen partiell deformalisiert und dereguliert.
Formalqualifikationen auf dem Rückzug: Eine potenzielle Gefahr für den Arbeitnehmerschutz?
Nicht zuletzt die Koalitionäre in Berlin erhoffen sich damit den Zugang zu einem deutlich größeren Pool an am deutschen Arbeitsmarkt grundsätzlich interessierten Drittstaatsangehörigen. Angesichts des demografischen Mangels und einer zunehmend branchen- und regionenübergreifenden ‚Arbeiterlosigkeit‘ spricht tatsächlich viel dafür, durch eine Relativierung des bislang das Recht stark prägenden Prinzips der Formalqualifikation im Bereich der nicht-reglementierten Berufe die Möglichkeiten der Arbeitskräftegewinnung zu erweitern und so zumindest einen Beitrag zur Abfederung des in den nächsten Jahren sich noch verstärkenden demografischen Wandels leisten zu können. Gleichwohl sind damit auch Risiken verbunden, die in den jüngst deutlich intensivierten Diskussionen über die Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen bislang aber kaum angesprochen werden. Denn der bislang das deutsche Recht prägende und in der zentralen Programmnorm des Erwerbsmigrationsrechts (§ 18 Abs. 2 Nr. 3 und 4 AufenthG) festgehaltene Fokus auf Formal- und damit auf zu deutschen Standards als gleichwertig anerkannten Qualifikationen dient auch dazu, eine Segmentierung des Arbeitsmarktes in der Form zu verhindern, dass einer Gruppe aus formalqualifizierten und d.h. entweder in Deutschland ausgebildeten oder nach einem Anerkennungsverfahren als qualifikationsspezifisch gleichwertig anerkannten ausländischen Arbeitskräften eine wachsende Gruppe gegenüber steht, die über keine Formalqualifikation verfügt und damit auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der immer noch und vermutlich auch noch weiterhin stark auf die Aussagekraft von Formalqualifikationen vertraut, deutlich vulnerabler sein dürfte. Es spricht zumindest viel dafür, dass auf der Basis rein materieller Kriterien angeworbene ausländische Arbeitskräfte gegenüber ihren formal qualifizierten Kolleginnen und Kollegen erheblich Nachteile nicht nur mit Blick auf innerbetriebliche Aufstiegsprozesse (vertikale Arbeitskräftemobilität), sondern auch hinsichtlich der Option haben, ihren Arbeitgeber zu wechseln (horizontale Arbeitskräftemobilität). Denn ihnen fehlt gerade das von einer inländischen Bildungseinrichtung oder Anerkennungsstelle ausgestellte Dokument und die darüber kommunizierte und offiziell zertifizierte Information über die individuellen Qualifikationen. Rein materiell qualifizierte Arbeitskräfte hingegen sind auf ein vom (ehemaligen) Arbeitgeber ausgestelltes Arbeitszeugnis bzw. die in einem solchen Zeugnis dargelegten Qualifikationen angewiesen, wobei äußerst zweifelhaft sein dürfte, ob die in einem solchen Arbeitszeugnis dargelegten Informationen über die individuellen Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt einen ähnlichen Aussagewert haben wie offizielle und d.h. von den berufsspezifisch jeweils zuständigen Institutionen angerfertigte Zertifikate.
Chancen und Risiken einer stärkeren Akzeptanz von materiellen Qualifikationen im Erwerbsmigrationsrecht
Aufgegeben oder zumindest relativiert wird mit einer Reform des Erwerbsmigrationsrechts, die als Anwendungsbereich vor allem Arbeitskräftekräfte identifiziert, die ihre im Ausland erworbene Qualifikation nicht als gleichwertig zu deutschen Standards anerkennen lassen können (oder wollen) und entsprechend auf eine Überprüfung der Gleichwertigkeit einer im Ausland erlangten Qualifikation verzichten, eben nicht nur ein kostspieliges und zeitraubendes bürokratisches Procedere, sondern auch ein über die obligatorische Gleichwertigkeitsüberprüfung in die Struktur des deutschen Erwerbsmigrationsrechts eingebautes Instrument des Arbeitnehmerschutzes. Dies heißt nicht, dass angesichts einer schon allein aufgrund der demografischen Entwicklung absehbaren Zuspitzung der Knappheitsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt eine Reform, die materielle Qualifikationen stärker in den Fokus des Erwerbsmigrationsrechts rückt, nicht umgesetzt werden sollte. Neben den damit verbundenen und derzeit auch medial offensiv diskutierten Chancen einer solchen Reform sollten aber auch deren Risiken dargelegt werden – und dies kommt zumindest derzeit zu kurz.
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Interessante Analyse, vielen Dank. Sie zeigt m.E., dass das FEG das “Spannungsfeld” zwischen Arbeitsmarktpolitik und Aufenthaltsrecht nicht wesentlich reduzieren konnte. Der prominent vorangestellte Grundsatz der Fachkräfteeinwanderung (§18 Abs. 1 AufenthG) hat bei weitem nicht die erforderliche Strahlkraft auf Dogmatik/Systematik u. Anwendung des Aufenthaltsrechts. Das liegt m.E. auch daran, dass der beschränkte Ansatz, durch die Formulierung formaler Qualifikationsanforderungen (§§ 18b ff.) die rare Gruppe vollständig/abschließend qualifizierter Fachkräfte im Ausland zu erfassen und schlicht “abzuschöpfen”, viel zu kurz greift. In diesem Zusammenhang materielle gegenüber formellen Qualifizierungsanforderungen als “Risiko” für eine Deregulierung des Arbeitsmarktes zu betrachten, halte ich für wenig raffiniert. Die aufenthaltsrechtliche Ermöglichung des Zuzugs von “fertiggebackenen” Fachkräften mag (vermeintlich) anhand präzise formulierter Qualifikationsanforderungen passgenau möglich sein; im Bereich kurzfristiger Bedarfe und niedrigschwelligerer Qualifikationsanforderungen – also in der Breite – ist dies wohl (wie auch bei anderen Aufenthaltszwecken) naturgemäß anders. Ein “Risiko” besteht insofern nicht mehr, als es Migrationsbewegungen allgemein inhärent ist. Langfrisitg bedarf m.E. es für die effektive Fachkräftezuwanderung daher in jedem Fall einer Orientierung an materiellen Qualifikationen im Sinne von Mindestanforderungen – gepart mit erheblichen Anstrengungen im Bereich Qualifikationsanerkennung und Weiterqualifizierung.