19 June 2023

Deutsches Staatshaftungsrecht im Sog der EMRK

Ein Strafhäftling rügt vor dem EGMR in Straßburg die bayerische Praxis, Inhaftierte nach dem Zufallsprinzip im Anschluss an einen Besuch zu durchsuchen, und zwar vollständig nackt und unter Einschluss intimer Körperöffnungen. Der EGMR stellt eine Verletzung von Art. 3 EMRK fest und spricht ihm Entschädigung wegen immateriellen Schadens in Höhe von 12.000 EUR zu (Fall Roth). Ein anderer Häftling klagt wegen derselben Praxis vor den deutschen Gerichten. Er obsiegt, wenngleich erst im zweiten Anlauf: Es bedarf der Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts, um die Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts feststellen zu lassen, so geschehen im September 2020. Dann begehrt der Häftling Entschädigung vor den innerstaatlichen Gerichten – und geht leer aus. Kann nicht sein? Doch, das kann sein, sagen die Instanzgerichte. Nein, kann nicht sein, sagt das Bundesverfassungsgericht in dem erst jetzt veröffentlichten Beschluss vom 19. Mai 2023. Aber: ganz so trivial, wie das auf den ersten Blick vielleicht scheint, ist das nicht.

Alles richtig gemacht – und trotzdem verloren

Vor den Instanzgerichten verteidigt sich der beklagte Freistaat Bayern zunächst entlang der Logik des Amtshaftungsrechts. Die Durchsuchung, heißt es da, hätte nach damaligen Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprochen (Rn. 10).

Man mag dem beklagten Freistaat zugute halten, dass die Maßstäbe des Beschlusses vom November 2016, in dem sich das Gericht zur bayerischen Praxis geäußert hatte, nicht in jeder Hinsicht frei von Zweifeln waren. So hatte das Gericht die stichprobenartige Durchsuchung von unverdächtigen Häftlingen unter vollständiger Entkleidung nicht schlechterdings für verfassungswidrig erklärt. Vielmehr war maßgeblich, dass in Einzelfällen, in denen besonders fernliegend sei, dass das Besuchsrecht durch den Gefangenen (etwa zum Einschmuggeln von Drogen) missbraucht werde, von der Durchsuchung müsse abgesehen werden können. Hierauf hatte die Regelung in der vorliegend betroffenen JVA reagiert, indem bei Besuchen von Amts- oder vergleichbaren Personen wie Polizisten, Rechtsanwälten usw. von einer Durchsuchung abgesehen werden sollte (Rn. 3). Da der Beschwerdeführer aber nicht von seinem Anwalt, sondern von seiner Familie besucht worden war, profitierte er von der Regelung nicht. Das Bundesverfassungsgericht beanstandete später, dass die Gefahr eines Missbrauchs des Besuchsrechts durch den Beschwerdeführer nicht im konkreten Einzelfall geprüft worden sei, da lediglich ein Kästchen auf einem Formblatt angekreuzt worden war.

Für den Amtshaftungsanspruch bedeutete dies Folgendes: Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom September 2020 stand lediglich im Außenverhältnis Staat-Bürger fest, dass die Grundrechte verletzt worden waren. Grundrechtsverletzungen knüpfen typischerweise an ein Erfolgsunrecht an, d.h. auf Fragen der Vermeidbarkeit oder des Verschuldens des handelnden Amtswalters kommt es nicht an. Das ist beim Amtshaftungsanspruch grundlegend anders. Die ständige BGH-Rechtsprechung versteht das Tatbestandsmerkmal der Amtspflichtverletzung im Sinne eines Verhaltensunrechts, d.h. das beanstandete Verhalten muss aus der Perspektive des Handelnden vermeidbar gewesen sein. Geht ein Amtswalter in vertretbarer Weise davon aus, rechtmäßig zu handeln, fehlt es an der Amtspflichtverletzung – oder zumindest am Verschulden. (Der Bundesgerichtshof formuliert insoweit gern, eine „schuldhafte Amtspflichtverletzung“ liege nicht vor, und lässt damit die konkrete Zuordnung zur Amtspflichtverletzung oder zum Verschulden offen.) Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Argument des Freistaats, nach damaligem Rechtsverständnis hätte die bayerische Praxis den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts entsprochen. Erfolg hatte der Freistaat hiermit vor dem Bundesverfassungsgericht jetzt nicht.

Ein alter Hut: die Kollegialgerichtsrichtlinie

Der Freistaat Bayern bemühte noch einen weiteren Klassiker des Amtshaftungsrechts: die Kollegialgerichtsrichtlinie. Nach dem Konzept dieser (von der Rechtsprechung etablierten) Richtlinie soll es am Verschulden des handelnden (Verwaltungs‑)Beamten fehlen, wenn ein aus mehreren Richtern besetztes Gericht (eben ein Kollegialgericht) das Verhalten des Beamten als rechtmäßig beurteilt, selbst wenn in letzter Instanz dann das Verdikt der Rechtswidrigkeit stehen mag. Der dahinter stehende Gedanke ist folgender: Man kann doch nicht von einem „einfachen Beamten“, der zudem unter Zeitdruck entscheiden muss, bessere Rechtseinsicht verlangen als von mehreren Top-Juristen, die zudem alle Zeit der Welt haben, sich im Nachhinein über die Gesetzesauslegung Gedanken zu machen. So richtig überzeugend war diese Konzeption nie. Der Bundesgerichtshof hat denn auch betont, es handele sich ja bloß um eine „Richtlinie“ und nicht um eine starre Rechtsregel. Wenn ein Kollegialgericht beispielsweise im einstweiligen Rechtsschutz – unter Zeitdruck! – entscheidet, dann soll die Richtlinie nicht gelten.

Ich finde, es wäre an der Zeit, sich endgültig von dieser Rechtsfigur zu verabschieden. Vielmehr sollte gelten: Wenn sich ein Amtswalter eine vertretbare Rechtsmeinung bildet, dann handelt er nicht amtspflichtwidrig. Ist seine Rechtsauffassung hingegen nicht vertretbar, so wird sie nicht dadurch „richtiger“, dass sie im Nachgang von einem Kollegialgericht als rechtmäßig bestätigt worden ist. Ohnehin suggeriert das Argument des Kollegialgerichts eine Einheitlichkeit der Rechtsauffassung, die so nicht der Realität entspricht, da ja aufgrund des Beratungsgeheimnisses im Nachhinein nicht ermittelt werden kann , ob das Kollegialgericht einstimmig oder möglicherweise nur mit knapper Stimmenmehrheit entschieden hat.

The turn to constitutional law

Bislang bewegt sich die Argumentation des Falles ganz in den Bahnen des einfachen (Staatshaftungs-)Rechts. Doch das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Wie wird nun aus einem einfachrechtlichen Fall des Staatshaftungsrechts ein Fall der Verfassungsauslegung? Die Antwort des Bundesverfassungsgerichts lässt aufhorchen: Der Beschwerdeführer sei verletzt in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht „aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG“ (Rn. 24). Ungewöhnlich erscheint vor allem das doppelte „in Verbindung mit“. Das bedarf der Erläuterung.

Beginnen wir mit dem ersten „in Verbindung mit“. Das bezieht sich auf die verfassungsrechtliche Fundierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Grundrecht. Das Bundesverfassungsgericht geht hier zurück bis zur Soraya-Entscheidung (BVerfGE 37, 269 [281 f.]): „Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass der Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens verwirklicht wird, wobei die Gerichte die Fundierung in der Menschenwürde zu beachten haben“ (Rn. 26). Das Bundesverfassungsgericht macht aber zugleich deutlich, dass nach rein innerstaatlichen Maßstäben die restriktive Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Gewährung von Geldentschädigung wegen immaterieller Persönlichkeitsrechtsverletzung grundsätzlich nicht zu beanstanden ist.

The turn to Strasbourg

Hier kommt nun das zweite „in Verbindung mit“ ins Spiel. Es hat eine gänzlich andere Funktion als die erste Formulierung und bezieht sich auf die Konstruktion der Görgülü-Entscheidung, wonach vor dem Bundesverfassungsgericht eine nicht ausreichende Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung über das einschlägige deutsche Grundrecht „in Verbindung mit“ dem Rechtsstaatsprinzip gerügt werden kann. Die EMRK wird hierdurch – anders als die Grundrechtecharta in „Recht auf Vergessen II“! – also nicht zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab. Das Bundesverfassungsgericht hält vielmehr am einfachrechtlichen Rang der EMRK im deutschen Recht fest. Der damit verbundene Rechtsanwendungsbefehl hat aber eine Verstärkung der innerstaatlichen Wirkung der Konvention zur Folge: Während die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt insgesamt bindet, führt der Rechtsanwendungsbefehl zur EMRK dazu, dass alle innerstaatlichen Organe an die Rechtsprechung des EGMR (im Sinne einer „Berücksichtigungspflicht“ – dazu sogleich) gebunden sind.

Das Bundesverfassungsgericht zitiert die betreffende Rechtsprechung in Rn. 28 f. Die unreflektierte Übernahme von Stehsätzen aus der (ohnehin sehr schillernden, inhaltlich changierenden) Görgülü-Entscheidung ist in zweifacher Hinsicht nicht ganz unproblematisch: Das Bundesverfassungsgericht zitiert im vorliegenden Fall den Satz, die Fachgerichte hätten die Verpflichtung, „die Gewährleistungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen“ (Rn. 28). In der folgenden Randnummer heißt es gleichsinnig: Die EGMR-Rechtsprechung sei auf Verfassungsebene „möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen“, weshalb sich eine unreflektierte Adaption völkerrechtlicher Begriffe verbiete (Fn. 29). Die Passage im Görgülü-Beschluss, auf die sich das Bundesverfassungsgericht dabei jeweils bezieht, stand allerdings im Zusammenhang mit dem, was das Gericht damals als „mehrpoliges Grundrechtsverhältnis“ bezeichnet hat: Gerade wegen der notwendigen Auskalibrierung der betroffenen Rechtspositionen, sobald mehrere Grundrechtsträger im Spiel sind (Caroline lässt grüßen!), ergab sich für das Bundesverfassungsgericht seinerzeit das Bedürfnis nach schonendem Ausgleich und Einfügung in die deutsche Rechtsordnung. Von all dem ist im vorliegenden Fall nichts zu finden. Es ist ein klassischer Fall des rein zweiseitigen Staat-Bürger-Verhältnisses: Der Staat greift durch die anlasslose und entwürdigende Durchsuchung eines Häftlings in dessen Grundrechte ein. Was soll da schonend eingepasst werden, wenn EMRK und die Rechtsprechung des EGMR konkrete Maßstäbe vorgeben?

Das führt zum zweiten Problem. Görgülü betraf einen Fall der unmittelbaren Befolgung eines EGMR-Urteils: Der EGMR hatte dem Vater des nichtehelich geborenen Kindes zumindest ein Umgangsrecht zugesprochen, das OLG Naumburg hat das mehrfach konterkariert und damit traurige Berühmtheit erlangt (das gegen die OLG-Richter angestrengte Strafverfahren wegen Rechtsbeugung verlief im Sande). Darum geht es im vorliegenden Fall nicht. Vielmehr steht das im Raum, was das Bundesverfassungsgericht selbst als „Orientierungswirkung“ bezeichnet (in Straßburg spricht man eher von „res interpretata“, im Gegensatz zur „res judicata“). Der EGMR hatte in einem gänzlich anderen Verfahren, eben dem Fall Roth, die Maßstäbe der Konvention klargestellt. Nun ist es Aufgabe der deutschen Gerichte, sich auch jenseits der völkerrechtlichen Bindungswirkung aus Art. 46 Abs. 1 EMRK an dieser Rechtsprechung zu orientieren, um Völkerrechtsverstöße der Bundesrepublik Deutschland und Verfahren in Straßburg zu vermeiden. Auch insoweit wäre also bei der Zitation von Görgülü eine gewisse Vorsicht (oder zumindest eine Klarstellung) wünschenswert gewesen.

EMRK und deutsches Staatshaftungsrecht

Damit stellt sich nun die Frage, welche Maßstäbe die EMRK für das deutsche Staatshaftungsrecht bereit hält. Der Beschwerdeführer hatte sich auf die 12.000 EUR berufen, die der EGMR im Fall Roth als immaterielle Entschädigung ausgeurteilt hatte. Bei elf durchgeführten Durchsuchungen entsprach das in etwa 1.000 EUR pro Durchsuchung. Doch lassen sich die Maßstäbe des EGMR ohne weiteres auf das deutsche Staatshaftungsrecht übertragen? Wer so argumentiert, der verkennt, dass es sich bei Art. 41 EMRK um eine Entschädigung handelt, die vom Gerichtshof nach Billigkeitsgesichtspunkten („ex aequo et bono“) gewährt wird. Es handelt sich gerade nicht um einen echten Haftungsanspruch in dem Sinne, dass eine Verurteilung in Straßburg automatisch eine Entschädigung nach sich zöge. Zwar kann es zu Problemen führen, wenn sich die innerstaatlich gewährte Entschädigung allzu weit von den Maßstäben des Straßburger Gerichtshofs entfernt. Eine 1:1-Übertragung ist jedoch nicht veranlasst.

Bedeutung hat die EMRK für das deutsche Staatshaftungsrecht vielmehr unter zwei anderen Gesichtspunkten. Der EGMR hatte im Fall Roth eine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt, weil er davon ausging, eine Verletzung dieser einschränkungslos gewährleisteten Kernbestimmung der Konvention „rufe bei der betroffenen Person … einen immateriellen Schaden hervor, der in der Regel durch Zusprechung einer Entschädigung in Geld wiedergutzumachen sei“ (zitiert nach BVerfG-Beschluss, Rn. 30). Das konnte man in Deutschland im Grunde spätestens seit dem Fall Gäfgen wissen. Der EGMR entnimmt dem Art. 3 EMRK somit eine spezifische, der besonderen Bedeutung des verletzten Rechtsguts geschuldete grundsätzliche Entschädigungspflicht. Darüber hinaus hatte der EGMR aber im Fall Roth auch eine Verletzung des Art. 13 i.V.m. Art. 3 EMRK festgestellt: Angesichts der Beschränkungen, welche das deutsche Staatshaftungsrecht in derartigen Fällen bereit hält – siehe oben! –, hatte er das Vorliegen eines effektiven Rechtsbehelfs verneint. Hieraus also ergibt sich das Bedürfnis nach einer Anpassung des deutschen Staatshaftungsrechts an die Straßburger Maßstäbe.

Und wie weiter?

Die Frage ist nun: Wie soll das Landgericht Regensburg, an den der Fall vom Bundesverfassungsgericht zurückgeschickt worden ist, die Rechtsprechung des EGMR „schonend“ berücksichtigen? Das dürfte nicht ganz einfach werden. Das Bundesverfassungsgericht verweist etwas kryptisch auf die Möglichkeit der teleologischen Reduktion (Rn. 35). Eine erste Option bestünde darin, im Rahmen der Amtspflichtverletzung statt an das Verhaltensunrecht an das eingetretene Erfolgsunrecht anzuknüpfen. Das zöge allerdings einen ziemlich radikalen Umbau des Amtshaftungsanspruchs nach sich. Die Charakterisierung der Amtspflicht als Verhaltenspflicht resultiert aus der Tatsache, dass bei Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 der Beamte noch persönlich haftete. Vor diesem Hintergrund hat die Beschränkung auf Verhaltenspflichten ihren guten Sinn. Die Funktion des Art. 34 GG wiederum beschränkt sich darauf, den vorgefundenen Amtshaftungsanspruch auf den Staat überzuleiten – so jedenfalls der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung. Einen schonenden Einbau der EGMR-Vorgaben in die Eigenrationalität des deutschen Amtshaftungsrechts sehe ich hier eher nicht. Anders läge die Sache nur, wenn man die Amtspflichtverletzung (wie auch immer) bejahte und „lediglich“ das Verschulden im Raum stünde – dann ließe sich ggf. mit dem Argument der teleologischen Reduktion arbeiten.

Das Bundesverfassungsgericht deutet in dem vorliegenden Beschluss noch eine zweite Option an. Im Grunde war schon immer unverständlich, dass zwar bei Verletzung der Rechte aus Art. 14 GG und Art. 2 Abs. 2 GG ein verschuldensunabhängiger Entschädigungsanspruch richterrechtlich anerkannt ist (enteignungsgleicher Anspruch, Aufopferungsanspruch), bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hingegen nur der „Umweg“ über den (verschuldensabhängigen) Amtshaftungsanspruch gegeben sein soll. Das Bundesverfassungsgericht sieht hier offensichtlich Entwicklungspotential. Doch auch dieser Weg würde eine nicht unbeträchtliche Ausweitung der bisherigen Rechtsprechung erfordern.

Eine dritte Option erwähnt das Bundesverfassungsgericht nicht: Warum sollte man einen Entschädigungsanspruch nicht unmittelbar auf Art. 3 EMRK stützen können? Dass aus der EMRK national durchsetzbare Entschädigungsansprüche resultieren können, ist für Art. 5 Abs. 5 EMRK seit langem anerkannt. Aufgrund des einfachrechtlichen Ranges der EMRK im deutschen Recht ergeben sich keine prinzipiellen Schwierigkeiten, den Anspruch innerstaatlich zu fundieren. Wenn nun der EGMR aus Art. 3 EMRK eine grundsätzliche Pflicht zur Gewährung immaterieller Entschädigung herleitet – warum dann nicht Art. 3 EMRK selbst als Anspruchsgrundlage nehmen? Der Vorteil bestünde darin, dass sich das Bedürfnis nach „Umbau“ des deutschen Staatshaftungsrechts vergleichsweise klein halten ließe.

The elephant in the room: Staatshaftung kraft Grundrechtsverletzung?

Zu guter Letzt: Eine oberflächliche Lektüre des vorliegenden Beschlusses könnte zu der Annahme verleiten, das Bundesverfassungsgericht habe sich in dem seit langem schwelenden Streit um die Frage, ob aus den Grundrechten Ansprüche staatshaftungsrechtlicher Art abgeleitet werden können, auf die Seite der Befürworter geschlagen. Eine genauere Lektüre ergibt jedoch: Genau das Gegenteil ist der Fall.

Zwar bejaht das Gericht im Ergebnis eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wegen der Nichtgewährung von Entschädigung. Allerdings formuliert es im Hinblick auf die nationalen Grundrechtsstandards sehr vorsichtig, die Versagung eines Entschädigungsanspruchs „berühre“ den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Rn. 26). Der Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht resultiert letztlich erst aus der Verstärkung durch die Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung.

Noch auffälliger ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht an der einschlägigen Stelle (Rn. 26) ausschließlich auf seine Rechtsprechung zur Entschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung verweist. Einen Verweis auf den Kunduz-Beschluss, aus dem manche eine grundrechtliche Ableitung von Staatshaftungsansprüchen herleiten wollen, sucht man vergebens. Wenn nun tatsächlich die Grundrechte als dogmatische Grundlage staatshaftungsrechtlicher Ansprüche taugen: Warum hätte dann das Bundesverfassungsgericht einen solchen Aufwand betreiben sollen, unter Rückgriff auf die EGMR-Rechtsprechung Vorgaben für das Staatshaftungsrecht in den deutschen Grundrechtsstandard hineinzuinterpretieren? Dann wäre es doch viel einfacher gewesen, direkt auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abzustellen und die notwendigen Maßstäbe selbst zu setzen!

Schlussbetrachtung

Wir sehen: Die Anpassung der deutschen Rechtsordnung an die Anforderungen der EMRK stellt die Rechtsanwender immer wieder vor neue Herausforderungen. Das Bundesverfassungsgericht fungiert als „Transmissionsriemen“ für die Straßburger Rechtsprechung, indem es den Fachgerichten den bestehenden Anpassungsbedarf vor Augen führt. Bei der „Einpassung“ der Standards der EMRK in das deutsche Recht sind bisweilen Kreativität und juristische Phantasie gefordert. Als abgeschlossen kann der Rezeptionsprozess jedenfalls noch lange nicht gelten – und angesichts der dynamischen Auslegung der EMRK durch den EGMR wird er wohl auch nie ganz abgeschlossen sein.