Die ‘Bundesnotbremse’ ist nicht zustande gekommen
Der Reform des Infektionsschutzgesetzes fehlt die Zustimmung des Bundesrates
Die fein ziselierte Unterscheidung von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen wird gemeinhin nicht zu den aufregendsten Gegenständen des Verfassungsrechts gezählt. Zu Unrecht, wie sich in diesen Tagen einmal mehr zeigt. Sie ist nichts weniger als das Herzstück der föderalen Gewaltenteilung. Aller Orten war in den letzten Tagen von der mutmaßlichen materiellen Verfassungswidrigkeit des neuen § 28b IfSG, der „Bundesnotbremse“, und insbesondere der dort vorgesehen nächtlichen Ausgangssperre zu lesen und zu hören. Angesichts der großen Aufmerksamkeit muss verwundern, dass die offenkundige formelle Verfassungswidrigkeit der Norm bislang nicht thematisiert wurde. Bei der „Bundesnotbremse“ handelt es sich um ein gleich in zweifacher Hinsicht zustimmungsbedürftiges Gesetz, dem die Zustimmung des Bundesrats fehlt und das daher nicht gemäß Art. 78 GG zustande gekommen ist. Eine Umdeutung der Nichtanrufung des Vermittlungsausschusses in eine Zustimmung scheidet aus.
Entgegen der ursprünglichen Rechtsauffassung insbesondere des Bundesrates (sog. Mitverantwortungstheorie) ist es zwar inzwischen gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass nicht jede Änderung eines ursprünglich zustimmungsbedürftigen Gesetzes zustimmungsbedürftig ist, doch dürfen inzwischen vier Fallgruppen der Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen als gesichert gelten. Neben der selbstverständlichen Fallgruppe, dass das Änderungsgesetz selbst neue zustimmungsbedürftige Vorschriften enthält, sind Änderungsgesetze in drei weiteren Fällen zustimmungspflichtig. Unproblematisch sind dabei die beiden Fallgruppen, in denen die ursprünglich die Zustimmungsbedürftigkeit begründenden Vorschriften des Gesetzes selbst geändert werden oder die Geltungsdauer eines befristeten Zustimmungsgesetzes verlängert wird. Konkretisierungsbedürftig ist dagegen die letzte Fallgruppe. Nach gut begründeter ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Änderungsgesetz auch dann zustimmungsbedürftig, wenn es solche materiell-rechtlichen Regelungen enthält, die bestehende zustimmungsbedürftige Vorschriften zwar formell nicht ändern, ihnen aber eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen. Wenn mindestens eine der Fallgruppen einschlägig ist, ist die Zustimmungsbedürftigkeit nicht auf die sie auslösende Einzelbestimmung beschränkt, sondern trifft das (Änderungs-)Gesetz als Ganzes (sog. Einheitsthese).
Zustimmungsbedürftigkeit nach Art. 104a Abs. 4 GG
Die vermeintlich unscheinbare Regelung in § 28b Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG, nach der ab einem Inzidenzwert von 100 „die Teilnahme am Präsenzunterricht […] nur zulässig für Schülerinnen und Schüler sowie für Lehrkräfte“ ist, „die zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 getestet werden“, löst schon bei isolierter Betrachtung die Zustimmungsbedürftigkeit der gesamten „Bundesnotbremse“ aus. Gemäß Art. 104a Abs. 4 GG bedürfen nämlich Bundesgesetze, die unter anderem Pflichten der Länder zur Erbringung von „geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit […] ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesrates, wenn daraus entstehende Ausgaben von den Ländern zu tragen sind“.
Der verfassungsändernde Gesetzgeber unterstellte bei der Neuformulierung des Art. 104a Abs. 4 GG im Zuge des Föderalismus-Reform I 2006 – in ausdrücklicher Anlehnung an den sozialrechtlichen Sprachgebrauch – ein bewusst weites Verständnis des Begriffs der geldwerten Sachleistung. Diese sollte etwa auch die „Schaffung und Unterhaltung von Aufnahmeeinrichtungen für die Unterbringung von Asylbegehrenden“, „die Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Schuldnerberatungen oder zur Bereitstellung von Tagesbetreuungsplätzen“ (BT-Drs. 16/813, S. 18) umfassen. Demensprechend sind auch die verpflichtenden Corona-Tests unter den Begriff der geldwerten Sachleistung zu subsumieren.
Gegen diesen Befund lässt sich nicht anführen, dass die Bundesländer eine solche Testpflicht für Schüler ohnehin schon vorsehen. Bislang handelte es sich nämlich um gänzlich autonome Entscheidungen der Bundesländer, die sie jederzeit ändern konnten. Der Schutzzweck des Zustimmungserfordernis des Art. 104a Abs. 4 GG liegt gerade darin, die Länder vor einer finanziellen Fremdbestimmung durch den Bund zu schützen.
Weiter lässt sich nicht entgegnen, es handele sich lediglich um eine unerheblich finanzielle Belastung der Länder. Zum einen sieht Art. 104a Abs. 4 GG aus guten Gründen schon gar keine Erheblichkeitsschwelle vor, zum anderen sind die Kosten, auch wenn ein einzelner Test schon für wenige Euro zu beschaffen sein mag, angesichts der schieren Masse von zwei Tests je Schüler pro Woche in der Summe alles andere als unerheblich.
Ferner kann 49 Jahre nach dem Ende des besonderen Gewaltverhältnis auch nicht ernsthaft behauptet werden, Schüler seien keine Dritten im Sinne des Art. 104a Abs. 4 GG. Falls doch, so handelte es sich bei § 28b Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG übrigens um eine Regelung des Verwaltungsverfahrens ohne Abweichungsmöglichkeit der Länder, die ihrerseits nach Art. 84 Abs. 1 Satz 6 zustimmungsbedürftig wäre.
Schließlich lässt sich auch nicht mit besonderer Spitzfindigkeit einwenden, § 28b Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz IfSG schreibe den Ländern ja gar nicht ausdrücklich vor, den Schülern die Tests tatsächlich kostenlos anzubieten. Schon ein schneller Vergleich zu sozialrechtlichen Leistungstatbeständen zeigt, dass die Kostenfreiheit der Gewährung einer Sachleistung grundsätzlich nicht explizit formuliert wird – alles andere grenzte an sprachliche Absurdität. Zudem kommt den Ländern überhaupt kein rechtlicher Spielraum zu, den Zugang zu öffentlichen Schulen von einem kostenpflichtigen Test abhängig zu machen. Ein solcher Versuch scheiterte an dem in zahlreichen Landesverfassungen und ansonsten in den Schulgesetzen der Länder verankerten Grundsatz der Schulgeldfreiheit. Dieser gilt übrigens jedenfalls für die Grundschulen gemäß Art. 28 Abs. 1 lit. a UN-Kinderrechtskonvention auch im Range einfachen Bundesrechts.
Zustimmungsbedürftigkeit aufgrund wesentlich anderer Bedeutung und Tragweite
Neben der sich aus Art. 104a Abs. 4 GG ergebenden Zustimmungsbedürftigkeit ist § 28b IfSG auch zustimmungsbedürftig, da er solche materiell-rechtlichen Regelungen enthält, die die bestehenden zustimmungsbedürftigen Vorschriften insbesondere des fünften Abschnitts des IfSG zwar formell nicht ändern, ihnen aber eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihen.
Die Anforderungen an die Konkretisierung der wesentlich anderen Bedeutung und Tragweite sind hoch, sie sind aber jedenfalls dann erreicht, wenn es zu einer „Systemverschiebung“ (BVerfGE 48, 127, 180 f.) des föderativen Gefüges des durch das ursprünglich zustimmungsbedürftige Gesetz geregelten Sachbereichs kommt. Das ist im Falle der „Bundesnotbremse“ in geradezu paradigmatischer Klarheit der Fall. Das IfSG war bislang von einem verschachtelten Kooperationsverhältnis zwischen Bund und Ländern geprägt, dem aber als gemeinsamer Zug innewohnte, dass ein Großteil der rechtlichen Instrumente des fünften Abschnitts des IfSG zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten – mit Ausnahme insbesondere der Quarantäne bzw. Absonderung und Beobachtung nach §§ 29 f. IfSG – erst nach Konkretisierung durch Landesrechtsverordnungen zu anwendbarem Recht wurden. An dieser grundlegenden Architektur hatten auch die bisherigen Änderungen des IfSG im Zuge der Corona-Pandemie, einschließlich des Maßnahmenkatalogs in § 28a IfSG, nichts geändert. Erst die „Bundesnotbremse“ des neuen § 28b IfSG schafft von Bundesrechts wegen höchst detaillierte Verbotsnormen, die die Länder nur noch vollziehen können. Mehr noch, ab einem Inzidenzwert von 100 haben weder die Landesregierungen noch die Kommunen die Möglichkeit, regionale oder lokale Besonderheiten des Infektionsgeschehens zu berücksichtigen. Nur für „weitergehende Schutzmaßnahmen“ bleibt nach § 28b Abs. 5 IfSG Raum.
Keine Umdeutung
Ist ein Gesetz zustimmungsbedürftig und mangelt es an der Zustimmung des Bundesrats, so kommt das Gesetz nicht gemäß Art. 78 GG zustande. Wie alle anderen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane ist auch der Bundesrat allerdings davon ausgegangen, dass es sich bei § 28b IfSG um ein Einspruchs- und nicht um ein Zustimmungsgesetz handelt. Dementsprechend hat der Bundesrat in seiner 1003. Sitzung vom 22. April 2021 auch lediglich den Beschluss gefasst, nicht gemäß Art. 77 Abs. 2 GG den Vermittlungsausschuss anzurufen. Weitgehend ungeklärt ist bislang die Frage, ob sich diese Entscheidung des Bundesrats in eine Zustimmung umdeuten lässt.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine solche Möglichkeit in einer frühen Entscheidung aus dem Jahre 1958 „ausnahmsweise“ bejaht (BVerfGE 8, 274, 296 ff.), wenn „besondere Umstände bei der Beratung und Beschlußfassung eindeutig erkennen lassen, daß der Bundesrat mit der Vorlage einverstanden war und das Zustandekommen des Gesetzes gewollt hat.“ (297, Hervorhebung im Original). Die besonderen Umstände konkretisiert das Bundesverfassungsgericht dahingehend, dass „von keinem Lande Bedenken geltend gemacht worden“ (299) sein dürfen, alle Bundesländer den „Erlaß für unbedingt notwendig gehalten“ (299 f.) haben und die Vorgänge letztlich als „technisches Versehen“ (300) verstanden werden müssen. Keine dieser Voraussetzungen dürfte im Falle der „Bundesnotbremse“ und der 1003. Sitzung des Bundesrates am 22. April 2021 zu bejahen sein. Erstens wurden in allen sieben Reden der Bundesratsmitglieder erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit und gegen die Zweckmäßigkeit des „Bundesnotbremse“ geäußert. So wollte etwa Ministerpräsident Haseloff gar nicht mal einen „Mehrwert“ der Bundesnotbremse erkennen. Zweitens hat jedenfalls ein Teil der Länder nicht etwa deswegen auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses verzichtet, weil sie den Erlass der „Bundesnotbremse“ für unbedingt notwendig erachteten, sondern, wie es Ministerpräsident Haseloff in der Sitzung des Bundesrates ausdrückte, weil eine Anrufung des Vermittlungsausschusses angesichts der vermeintlichen Einstufung als Einspruchsgesetz lediglich eine Verzögerung aber keine Verbesserung oder Verhinderung des Gesetzes bewirken könne. Drittens mögen angesichts der Tatsache, dass die föderative Ordnung der Weimarer Reichsverfassung keine Zustimmungsgesetze kannte, bloß technische Versehen hinsichtlich der Einordnung eines Gesetzes 1958 noch durchaus nachvollziehbar gewesen sein, 2021 sind sie indes nur sehr schwer vollstellbar.
Über diese tatbestandlichen Fragen hinaus sieht sich inzwischen aber auch die grundsätzliche Möglichkeit einer solchen Umdeutung unüberwindlichen Bedenken ausgesetzt. Im Ergebnis ist der überwiegenden Ansicht in der freilich recht spärlichen Literatur zu dieser Frage zuzustimmen, dass das seit 1966 in der Geschäftsordnung des Bundesrates in § 30 Abs. 1 GOBR normierte „Eindeutigkeitsgebot“ von vorneherein jeden Versuch der Umdeutung von Bundesratsbeschlüssen ausschließt. Nach diesem sind die Abstimmungsfragen im Bundesrat stets so zu fassen, „dass sich aus der Abstimmung zweifelsfrei ergibt, ob der Bundesrat mit der Mehrheit seiner Stimmen beschlossen hat, […] einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz zuzustimmen (Artikel 78 des Grundgesetzes), wegen eines vom Bundestag beschlossenen Gesetzes die Einberufung des Vermittlungsausschusses zu verlangen (Artikel 77 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz Einspruch einzulegen oder ihn zurückzunehmen (Artikel 77 Absatz 3 Satz 1 und Artikel 78 des Grundgesetzes).“
Angesichts der normhierarchischen Prämisse, nach der aus Geschäftsordnungsrecht nicht ohne weiteres Maßstäbe zur Beurteilung verfassungsrechtlicher Fragen gewonnen werden können, gilt es eine Begründung für dieses Ergebnis nachzutragen. Diese ist darin zu suchen, dass jede Form der Umdeutung von jeher als subjektives Element einen hypothetischen Umdeutungswillen voraussetzt, also den mutmaßlichen Willen des Erklärenden, die umgedeutete Erklärung möge gelten, wenn sich die ursprüngliche als nichtig erweist. § 30 Abs. 1 GOBR lässt just dieses subjektive Element entfallen, ist er doch nicht anders als einen im Wege der Satzungsautonomie generell-abstrakt vorab gefassten Ausschluss des Umdeutungswillens zu verstehen.
Es bleibt somit bei der fehlenden Zustimmung des Bundesrats zum zustimmungsbedürftigen § 28b IfSG, der folglich nicht gemäß Art. 78 GG zustande gekommen ist. Es handelt sich – nochmals in den Worten Ministerpräsidenten Haseloffs um nicht weniger als einen „Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“.
Was die Schnelltests als geldwerte Sachleistung angeht, scheint mir doch ein Denkfehler vorzuliegen. Der § 28b legt den Ländern keine Pflicht auf, den Schüler*innen Schnelltests zu finanzieren, sondern verbietet ihnen einen Präsenzunterricht. Gleichzeitig ermöglicht die Regelung den Ländern, von diesem Verbot abzuweichen, sofern sie Schnelltests anbieten und durchführen. Diese Abweichungsmöglichkeit ist keine Pflicht im Sinne von Art. 14a Abs. 4 GG, so dass sie auch keine Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes auslöst.
In Bezug auf den zweiten Argumentationsstrang bleibt unklar, welche „Vorschriften insbesondere des fünften Abschnitts des IfSG“ denn (nach geltender Verfassungsrechtslage) zustimmungsbedürftig sein sollen. Denn nur wenn eben solche zustimmungsbedürftigen Vorschriften (und nicht irgendwelche anderen Vorschriften des Gesetzes) durch den § 28b eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erhalten, macht dies den § 28b zustimmungsbedürftig. Der Autor benennt keine solche Vorschrift, und mir ist beim Querlesen des 5. Abschnitts auch keine ins Auge gefallen.