Die eventuell, aber nicht potenziell verfassungswidrige NPD
So viel ist immerhin klar: Jawohl, die NPD ist verfassungsfeindlich. Sie kämpft für das Ziel, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen oder zu beeinträchtigen (Art. 21 Abs. 2 GG). In der von ihr angestrebten “Volksgemeinschaft”, in der nur Angehörige der deutschen Ethnie Angehörige des deutschen Staates sein können, gibt es keine Menschenwürde, keine Demokratie und keinen Rechtsstaat. Das sagt sie nicht nur so, das meint sie. Das will sie, und zwar planmäßig. Das hat das Bundesverfassungsgericht heute in erster und letzter Tatsacheninstanz festgestellt.
Sie ist also verfassungsfeindlich. Aber ist sie auch verfassungswidrig? Das ist sie nicht, so das BVerfG. Denn sie will ja nur, kann aber nicht. Sie ist zu schwach, zu jämmerlich, zu unbedeutend. Zur Verfassungswidrigkeit fehlt ihr zum Willen noch die Möglichkeit zur Verwirklichung desselben, die so genannte Potentialität, ein neuer Rechtsbegriff, über dessen Verortung zwischen Übermaßverbot und Gefahrenprognose noch viel zu streiten sein wird. Die NPD würde nur allzu gern “darauf ausgehen”, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen oder zu beeinträchtigen, wie Art. 21 ungelenkerweise formuliert, aber sie ist in Wahrheit gar nicht in der Lage dazu. Also ist sie (einstweilen) nicht verfassungswidrig, nicht verboten, nicht aufgelöst. Sie kann weitermachen.
Nur: womit?
Diese Linie, die der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts heute gezogen hat, genießt den großen Vorzug, dass sie das Problem der Vereinbarkeit des Parteiverbotsverfahrens in seiner bisherigen Form mit der Europäischen Menschenrechtskonvention abräumt. Der Straßburger Gerichtshof fordert bekanntlich, dass das Verbot einer Partei der von ihr ausgehenden Gefahr angemessen sein muss. Das wäre bei der marginalisierten Vollpfostenpartei NPD, die von eng begrenzten lokalen Ausnahmen abgesehen der Macht in dem halben Jahrhundert ihres Bestehens noch nie auch nur auf zehn Kilometer nahe zu kommen vermochte, womöglich nicht so richtig der Fall.
Worüber ich mir jetzt aber den Kopf zerbreche: was fangen wir mit einer solchen Wollen-aber-nicht-Können-Verfassungsfeindpartei jetzt an? Wie muss man sich das praktisch vorstellen? Macht das Bundesverfassungsgericht hier mit seinem neuen Tatbestandsmerkmal der Potentialität eine neue dritte Kategorie zwischen verfassungswidrig und nicht verfassungswidrig auf? Die eventuell, aber eben nicht potenziell verfassungswidrige Partei, brutzelnd im Fegefeuer ihres einstweiligen Nicht-Verbotenseins?
Parteienprivileg
Wie macht man aus diesem Fegefeuer heraus überhaupt Politik? Und wie stellt sich der Staat einer solchen Partei gegenüber auf? Muss ein Oberbürgermeister wirklich seine Stadthalle für einen NPD-Parteitag hergeben, bei dem für die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung getrommelt wird? Müssen wir das Werben für dieses Ziel wirklich mit öffentlichen Geldern subventionieren?
Die Antwort des BVerfG in RNr. 526 liest sich erst einmal eindeutig: Am Parteienprivileg ändert sich gar nichts. Solange eine Partei nicht verboten ist, genießt sie die gleichen Rechte wie jede andere Partei auch, und der Innenminister darf vielleicht mit den Zähnen knirschen, aber nichts gegen sie tun (außer einen neuen Verbotsantrag zu formulieren).
Bis zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht ist ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin ausgeschlossen, mag diese sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch noch so feindlich verhalten (…). Die Partei darf zwar politisch bekämpft werden, sie soll aber in ihrer politischen Aktivität von jeder Behinderung frei sein (…). Das Grundgesetz nimmt in seiner gegenwärtigen Form die Gefahr, die in der Tätigkeit einer Partei bis zur Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit liegt, um der politischen Freiheit willen in Kauf (…)
Aber wenn man das genauer liest, kommt man ins Grübeln: Die Exekutive darf gegen den “Bestand” der Partei nichts unternehmen – heißt das im Gegenzug vielleicht, dass es unterhalb dieser Schwelle Spielräume gibt? Und was heißt “soll” – weniger als “muss”? Sie darf politisch bekämpft werden – gilt das auch für den Innenminister? Wie kämpft man überhaupt politisch gegen eine Partei, deren Politik aus dem Schmieden einer großen Abrissbirne für die Bedingungen der Möglichkeit politischer Auseinandersetzung unter Freien und Gleichen besteht?
Den letzten Satz dieser Randnummer (“Grundgesetz … in seiner gegenwärtigen Form“) kann man vielleicht als Indiz lesen, dass der Senat die Antwort gern dem verfassungsändernden Gesetzgeber zuspielen würde. Der müsste dann die Verantwortung dafür übernehmen, dass der Staat dann künftig unterhalb der Schwelle des Verbotsverfahrens die Parteien und damit die Willensbildung des Volkes regulieren kann, und wie. Ich glaube kaum, dass er das gerne tun wird.
Nein, das Problem wird vermutlich dann halt doch auf administrativer Ebene gelöst. Was das Parteienprivileg der nicht verbotenen NPD noch wert ist, wird jetzt allerorten ausgetestet (wird es ja eh schon) und geht dann erst mal durch die Verwaltungsgerichtsinstanzen. Und irgendwann landen dieser Fälle wieder in Karlsruhe und können dann ohne die Formzwänge des Parteiverbotsverfahrens gelöst werden, mit ein bisschen Verhältnismäßigkeitsprüfung hier und ein bisschen Beurteilungsspielraum da, und dann wird das schon.
Feindbestimmung
Das Bundesverfassungsgericht kann gar nichts dafür. Das hat sich dieses Verfahren nicht bestellt. Das war die Idee der Landes-Innenminister. Die hatten geglaubt, sich einen Nachweis ihrer Tatkraft im Kampf gegen den Rechtsextremismus abholen zu können. Das ist schief gegangen.
Womöglich war es aber auch ganz generell ein Fehler, dieses Werkzeug der politischen Feindbestimmung aus der verfassungsrechtlichen Versenkung zu holen. Feindbestimmung ist immer toll, um die Fronten zu klären, das Eigene vom Fremden zu scheiden und eine Linie in den Sand zu ziehen: hie Welf, hie Waibling! Hier sind wir, und die da, die gehören nicht zu uns! Das war es wohl, was den Innenministern an der Idee so gut gefallen hat.
Umgekehrt schafft diese Linie aber immer auch neue Möglichkeiten, sie auszureizen. Man kann sich hinstellen und einen Zeh über die Linie drüberschieben. Einen Fuß. Einen ganzen Schritt. Was passiert? Wie reagiert derjenige, der sie gezogen hat?
Was sagen wir jetzt denjenigen, die das deutsche Volk nicht direkt ethnisch im Bluts- und Stammesverbandssinne, aber trotzdem natur- und wesenhaft definieren, “kulturell” nämlich nach dem Motto, wer Hölderlin nicht mit der Muttermilch eingesogen hat, wird nie ein richtiger Deutscher sein? Was sagen wir denjenigen, die sagen, sie hätten den höchsten Respekt vor anderen Völkern, würden ihnen aber nur zur Wahrung ihrer eigenen ethno-kulturellen Identität warm empfehlen, unter sich und möglichst unvermischt zu bleiben? Was sagen wir denjenigen, die Deutsche mit dunkler Haut natürlich nicht deportieren, aber doch anders behandelt sehen möchten als solche mit heller, etwa in Bezug auf die an sie gerichteten Anpassungsforderungen an eine als ihnen fremd definierte “Leitkultur”? Alles diesseits der Linie? Alles eine Frage politischer Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden, aber gleichermaßen legitimen Interessen?
Das Gegenteil von Feindbestimmung ist nicht Toleranz und Gewährenlassen und Liebhaben. Sondern Rechte einfordern. Auf Wahrgenommen-, Anerkannt- und Zugelassenwerden, auf Zulassen der Möglichkeit meines So-Seins zu bestehen. Den anderen zum Auf- und nicht zum Herunterklappen des Visiers zu bringen. Auch ein Kampf, aber ein ganz anderer. Das ist der Kampf, den wir führen sollten.
Ich tue mich schwer damit, dass die potentielle Gefahr berücksichtigt wird. Aus heutiger Sicht macht das zwar Sinn, aber für mich stellt sich die Frage ob man eine potentiell gefährliche Partei rechtstatsächlich überhaupt verbieten kann. Denn dies geschähe gegen den Willen von einem dann angewachsenen Teil der Bevölkerung, die, das zeigen schon die (vielleicht nicht übertragbaren) Erfahrungen der Weimarer Republik, das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen würden.
Diese Fragen zum Urteil aus Karlsruhe werden am 24. Januar 2017 um 20 Uhr mit Maximilian Steinbeis und Prof. Dr. Helmut Aust (FU Berlin) in einem Zauberberggespräch diskutiert. Jeder ist herzlich eingeladen.
Ort: Buchhandlung Der Zauberberg
Bundesallee 133
12161 Berlin-Friedenau
030.56 73 90 91 oder
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Das BVerfG spricht sich nicht dagegen aus, dass man eine potentiell gefährliche Partei verbieten kann – es sagt, dass die NPD derzeit nicht einmal potentiell gefährlich ist und eine Veränderung des Status sich auch nicht abzeichnet.
Aus meiner Sicht ist das Urteil aus einer europäischen Perspektive in vollem Umfang zu begrüßen.
Das BVerfG wendet zwar keinen Verhältnismäßigkeits-Test im technischen Sinne an, wertet aber den Normbestandteil „darauf ausgehen“ zu einem eigenen Tatbestandsmerkmal auf, aus dem u.a. folgt, dass ein Parteiverbot (als einzige vorgesehene Rechtsfolge) konkrete Anhaltspunkte von Gewicht voraussetzt, die „einen Erfolg des gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland gerichteten Handelns zumindest möglich erscheinen lassen“ (Ls. 6). Wer an der Sinnhaftigkeit dieses Maßstabs zweifelt, möge sich eine Umkehrung der Aussage vorstellen: also das rechtmäßiges Verbot einer Partei, bei der es keine relevanten Anhaltspunkte dafür gibt, dass ihr Handeln eines der Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG gefährden könnte. Dass das BVerfG im KPD-Urteil, also vor der Erfindung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, entsprechendes noch postuliert hatte, wird ausdrücklich abgeräumt (Rn. 586).
Was die inhaltliche Konkretisierung der Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG angeht, orientiert sich das BVerfG zum Glück nicht an seiner ideosynkratischen und europafeindlichen Auslegung zur Verfassungsidentität des Grundgesetzes, die es Art. 79 Abs. 3 GG entnimmt, sondern nimmt eine enge und damit europäisch verallgemeinerbare Auslegung des Begriffs „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ vor, die um Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat/Gewaltmonopol zentriert ist. Die Ausführungen zu den „zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind“ (Ls. 3), lesen sich wie Butter (Rn. 538 ff.), ebenso die Begründung, warum die NPD diese Grundprinzipien negiert (Rn. 635 ff.; z.B. Rn. 635: „Der von ihr vertretene Volksbegriff negiert den sich aus der Menschenwürde ergebenden Achtungsanspruch der Person und führt zur Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für alle, die nicht der ethnischen „Volksgemeinschaft“ angehören.“).
Damit stellt das BVerfG zwar nicht in der dogmatischen Konstruktion, aber im Ergebnis Kompatibilität mit den menschenrechtlichen Vorgaben her, die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben. Mit der entsprechenden Judikatur setzt sich das Urteil ausführlich und inhaltlich plausibel auseinander (Rn. 607 ff.). Es knirscht etwas bei der These, dass die Anwendung der vom BVerfG entwickelten neuen Maßstäbe des GG stets auch den konventionsrechtlich geforderten Test der „Angemessenheit“ des Parteiverbots bestehen würde. Aber wie das BVerfG zu Recht argumentiert, kommt es nur darauf an, dass Deutschland im Ergebnis keinen Menschenrechts-widrigen Eingriff in die Meinungsfreiheit vornimmt. Das ist mit den vom BVerfG entwickelten Maßstäben möglich.
Das gestrige Urteil enthält damit zwei wesentliche Innovationen: erstens eine an universalistischen, gemeineuropäisch geteilten Prinzipien und am Ausnahmecharakter eines Parteiverbots als ultima ratio orientierte Auslegung der Schutzgüter des Art. 21 Abs. 2 GG, und zweitens das Erfordernis einer Gefährdungslage, die zwar unterhalb einer konkreten Gefahr liegen kann, aber doch zumindest einen möglichen Erfolg des gegen diese Schutzgüter gerichteten Handelns verlangt. Das BVerfG vermeidet so nicht nur im konkreten Fall einen Konflikt mit dem EGMR, den die NPD mit Sicherheit angerufen hätte, sondern verzichtet auch darauf, seinerseits Druck auf den EMGR auszuüben, seine Maßstäbe aufzuweichen. Eine solche Aufweichung hätte für die absehbaren zukünftigen Fälle aus anderen Konventionsstaaten (etwa aus der Türkei) verheerende Konsequenzen haben können, etwa wenn der EGMR sich gezwungen sehen würde, unter Hinweis auf nationale Besonderheiten eine zurückhaltendere Kontrolle auszuüben als bislang.
Aus einer verfassungsdogmatischen Perspektive erscheint mir die Aufwertung des “Darauf Ausgehens” (Rn. 575) zu einem eigenen Tatbestandsmerkmal einschließlich der Voraussetzung eines “ausreichenden Maßes an Potentialität” (Rn. 587) zunächst durchaus überzeugend. Allerdings schafft dies Folgeprobleme, die – wie im Beitrag zutreffend angesprochen – auf die administrative Ebene verlagert werden. Dies scheint dem BVerfG durchaus bewusst gewesen zu sein. In Rn. 527 am Ende wird ausdrücklich noch einmal dem “verfassungsändernden Gesetzgeber” mit dem Zaunpfahl gewunken. In der Tat wird sich nun verschärft die Frage stellen, wie etwa Sparkassen, Bürgermeister oder öffentlich-rechtliche Rundfunksender mit Anträgen einer amtlich als verfassungsfeindlich festgestellten, aber für ein Verbot (derzeit) zu unbedeutenden Partei, auf Einrichtung von Konten, Anmietung von Stadthallen oder der Sendung von Wahlwerbung umgehen sollen. Soweit nach bisheriger Rechtslage ein administratives Einschreiten gegenüber einer nicht verbotenen Partei ausgeschlossen ist (wobei es dem Grunde nach bleiben soll, vgl. Rn. 526), erscheint es merkwürdig, einer anerkannt verfassungsfeindlichen Partei nunmehr durch Zurverfügungstellung von Ressourcen oder öffentlichen Foren möglicherweise erst zu einer “Potentialität” verhelfen zu müssen, die ein Verbot schließlich rechtfertigen könnte. Dies lässt zwar den mehr oder weniger dezenten Ruf des BVerfG nach einer Verfassungsänderung verständlich erscheinen. Allerdings ist aus meiner Sicht eine Verfassungsinterpretation grundsätzlich etwas unglücklich, die erst einen solchen Änderungsbedarf erzeugt.