Die Gräueltaten der Hamas, Israels Reaktion und das völkerrechtliche Primat zum Schutz der Zivilbevölkerung
Angesichts der durch Kämpfer der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Jihad (PIJ) in Israel am 7. Oktober 2023 und den Folgetagen begangenen Gräueltaten, und vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung Deutschlands, hat sich die Bundesregierung und die deutsche Politik einhellig mit Israel solidarisiert und dessen Recht auf Selbstverteidigung betont. Deutlich leiser sind in der deutschen politischen Debatte hingegen bislang die Stimmen, die betonen, dass Israels Reaktion gleichwohl an die Regeln des humanitären Völkerrechts gebunden ist und Drittstaaten wie Deutschland eine Verpflichtung zukommt, die Verletzung zwingender Regeln des Völkerrechts zu verhindern. Dabei steht der Schutz der Zivilbevölkerung im Vordergrund. Dem Aufruf von Kai Ambos zu einer differenzierten Debatte vom 17.10.2023 folgend, soll hier erläutert werden, welche humanitär-völkerrechtlichen Vorkehrungen relevant sind und was deutsche Politik beitragen kann, um die Austragung von Gewalt sowie die Leiden der Zivilbevölkerung im akuten Konflikt und künftig einzuhegen.
Seit 7. Oktober haben die Hamas und ihre Verbündeten Tausende Raketen aus Gaza auf Israel abgefeuert, die vor allem in den angrenzenden Gebieten, aber auch bis in den Norden Israels einschlugen und wahllos Menschen töteten. Gleichzeitig stürmten am 7. Oktober bewaffnete Hamas- und PIJ-Kämpfer den Grenzzaun von Gaza nach Israel, eroberten israelische Militärposten und drangen in mehrere israelische Ortschaften und Kibbuze, wie Be´eri und Kfar Aza, ein, töteten brutal hunderte Menschen und nahmen rund 200 Soldat:innen und Zivilist:innen als Geiseln (darunter Babys, Kinder, Frauen und ältere Menschen) und verschleppten sie in den Gazastreifen. Nach Beginn der israelischen Luftangriffe auf den Gazastreifen drohte die Hamas, jedes Mal eine Geisel zu töten, wenn Israel ohne Vorwarnung Wohnhäuser bombardierte. Insgesamt kamen durch Raketenbeschuss und Massaker der Hamas und ihrer Verbündeten nach israelischen Angaben mindestens 1300 Israelis und ausländische Staatsangehörige, die sich in Israel aufhielten, ums Leben.
Zahlreiche Berichte und Videoaufnahmen deuten darauf hin, dass im Rahmen des Hamas-geführten Überraschungsangriffs auf Israel über Luft, Boden und See grausame Massaker und schwere körperliche Misshandlungen stattfanden. Die dokumentierten Gewalttaten führen zu der Annahme, dass es sich hierbei um Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht handelt, sowie voraussichtlich auch um Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Art. 7 des Römischen Statuts (Statut des Internationalen Strafgerichtshofs). Insbesondere dürften die vorsätzlichen Tötungen, die rechtswidrige Gefangennahme und die Geiselnahme von Zivilpersonen den Tatbestand des Kriegsverbrechens nach Art. 8 Abs. 2 a) (i), (vii) und (viii) des Rom-Statuts erfüllen. Seit dem Beitritt Palästinas zum Rom-Statut im April 2015 hat der Internationale Strafgerichtshof auch die Zuständigkeit für auf palästinensischem Gebiet und von Palästinenser:innen begangene Kriegsverbrechen – und somit auch für die oben benannten Taten von Kämpfern der Hamas und des PIJ. Das in bewaffneten Konflikten geltende, in Art. 34 IV. Genfer Konvention und dem gemeinsamen Art. 3 der Vier Genfer Konventionen kodifizierte, humanitäre Völkerrecht untersagt sowohl in internationalen als auch in nicht-internationalen Konflikten Geiselnahmen.
Israels Reaktion und weitere Konfliktdynamiken
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rief ein Tag nach den Hamas-geführten Angriffen den Kriegszustand aus und kündigte Vergeltung an. Israelisches Ziel sei es, die militärischen Kapazitäten der Hamas in Gaza vollständig zu zerstören. Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant gab in der Folge bekannt, den Gazastreifen komplett abzuriegeln. Denn es reiche nicht, die Hamas aus der Luft zu bekämpfen. Man müsse die komplette Versorgung des Gazastreifens beenden. Seit dem 09.10.2023 wurden zunächst keinerlei Güter – keine Lebensmittel, kein Strom, kein Treibstoff, keine Medikamente und kein Trinkwasser – mehr in den Gazastreifen geliefert. In Folge ist das einzige Elektrizitätswerk im Gazastreifen seit dem 12.10.2023 abgeschaltet. Damit ist die öffentliche Stromversorgung zusammengebrochen, mit schweren Folgen insbesondere für die Gesundheits- und Trinkwasserversorgung. Nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) stellte Israel seit dem 15. Oktober über eine Leitung für jeweils wenige Stunden täglich Trinkwasser im Süden des Gazastreifens zur Verfügung. Allerdings konnte dadurch lediglich die Hälfte der Bevölkerung von Khan Younis mit Wasser versorgt werden; andere Städte blieben gänzlich unversorgt.
Aufgrund der unterirdischen Tunnelsysteme der Hamas, über denen sich oftmals Wohnhäuser oder zivile Einrichtungen befinden, der extrem dichten Bebauung des Gazastreifens sowie der Tatsache, dass in vielen Wohnhäusern auch Einrichtungen der Hamas oder anderer militanter Gruppierungen sind, beziehungsweise sich dort Kämpfer und Führungsfiguren aufhalten, ist eine strikte Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen aus der Luft im Einzelfall sehr schwierig. Infolge führen die israelischen Luftschläge zu hohen Opferzahlen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung und massiven Schäden an Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur. So wurde etwa am 17.10. eine UNRWA-Schule durch israelischen Beschuss getroffen. Die Urheberschaft für die am selben Abend erfolgten Zerstörungen an einem Krankenhaus in Gaza-Stadt, bei der nach Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums in Gaza über 400 Menschen zu Tode kamen, konnte zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht unabhängig überprüft werden. Die US-Geheimdienste gehen von 100-300 Toten aus. Seit Beginn der israelischen Luftschläge wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza fast 3800 Palästinenser:innen – und auch einige der Geiseln – getötet.
Premierminister Netanjahu hatte vor den Luftschlägen die Zivilbevölkerung aufgefordert, die Kampfzonen im Gazastreifen zu verlassen. In Vorbereitung auf eine Intensivierung der Luftschläge bzw. eine israelische Bodenoffensive, rief das israelische Militär dann am 13.10.2023 die Zivilbevölkerung und internationale Organisationen dazu auf, den nördlichen Gazastreifen zu evakuieren. Die Hamas-geführte Regierung rief demgegenüber die Bevölkerung auf, den nördlichen Gazastreifen nicht zu verlassen, und versuchte nach Angaben des israelischen Militärs, Zivilist:innen an der Flucht zu hindern. Die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen hielten eine Massenevakuierung dieses Ausmaßes (von rund 1,1 Millionen Menschen) innerhalb von 24 Stunden für unmöglich und forderten die Rücknahme der israelischen Aufforderung.
Tatsächlich gibt es für Gazas Zivilbevölkerung kaum Möglichkeiten, sich in Sicherheit zu bringen. Schutzräume und Bunker für Zivilist:innen existieren nicht; nur einige Hunderttausende konnten in UN-Einrichtungen oder Krankenhäusern Aufnahme finden. Versorgung und Schutz sind selbst dort nur bedingt gesichert. Der Grenzübergang nach Ägypten (Rafah) ist mittlerweile vollständig geschlossen und wurde mehrfach auf der palästinensischen Seite von Israel bombardiert.
Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten
Unabhängig davon, wer den bewaffneten Konflikt ausgelöst hat, gelten für alle Konfliktparteien die Regeln des humanitären Völkerrechts. Was im Rahmen eines bewaffneten Konflikts völkerrechtlich zulässig ist, hängt auch nicht davon ab, ob die jeweilige Konfliktpartei als Angreifer oder als Verteidiger handelt. Denn es geht hier ausschließlich um den Schutz der Zivilbevölkerung und anderer geschützter Personen und Rechtsgüter, wie medizinisches Personal, Journalist:innen und Kulturgüter. Dieser Schutz soll unter anderem durch das Verbot von unterschiedslosen Angriffen (also Angriffen, die nicht zwischen Zivilist:innen und Kämpfer:innen unterscheiden) gewährleistet werden. Dieses Verbot gilt in allen Arten von bewaffneten Konflikten und ist in Art. 48 ZP I (1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen); Art. 51 Abs. 1 und Abs. 2 ZP I; sowie Art. 13 Abs. 1 und Abs. 1 ZP II (2. Zusatzprotokoll) kodifiziert. Dabei stehen Krankenhäuser und medizinisches Personal unter einem besonderen Schutz und dürfen grundsätzlich nicht Ziel von militärischen Angriffen sein, wenn sie entsprechend gekennzeichnet sind. Ein Verstoß gegen dieses Verbot stellt ein Kriegsverbrechen nach Rom Statut Art. 8 Abs. 2 b) xxiv) und e) ii) dar.
Nach Art. 51 Abs. 7 ZP I darf die eigene Zivilbevölkerung nicht an der Flucht aus einem Kampfgebiet gehindert werden, um dadurch militärische Ziele vor Angriffen abzuschirmen. Gleichzeitig gilt: Auch eine Aufforderung zur Evakuierung führt nicht dazu, dass Zivilist:innen, die nicht evakuieren können oder wollen, ihren Schutzstatus verlieren. Aufgrund andauernder Kampfhandlungen und der Abriegelung (vonseiten Israel und Ägypten) ist es der Zivilbevölkerung des Gazastreifens aber nicht möglich, das von der Belagerung betroffene Gebiet (also den Gazastreifen) zu verlassen. Ägypten hat in den ersten Tagen der Militäroperation einige Palästinenser:innen aus Gazastreifen ausreisen lassen, hält die Grenze aber seither geschlossen. Dabei sind Sicherheitsbedenken sowie die Gefahr einer dauerhaften Flucht und Vertreibung der Bevölkerung Gazas auf ägyptisches Staatsgebiet entscheidende Faktoren.
Auch wenn Israel das 1. und 2. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert hat, gelten die genannten Vorschriften völkergewohnheitsrechtlich1) und sind damit auch für Israel bindend.
Ebenfalls in allen Arten bewaffneter Konflikte ist das Aushungern einer feindlichen Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung (siege warfare) ausdrücklich verboten2) und nach Art. 8 Abs. 2 b) xxv) Rom-Statut als Kriegsverbrechen geächtet. In der Praxis bedeutet dies, dass eine komplette Abriegelung bzw. eine Belagerung nur gegen ein legitimes militärisches Ziel eingesetzt werden darf. Zivilist:innen dürfen auf keinen Fall Ziel der Belagerung sein, und die Versorgung der Zivilbevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern darf nicht verhindert werden. Der Zugang zu Lebensmitteln darf auch dann nicht verhindert werden, wenn diese auch Kämpfern zukommen könnten.3) Eine vollständige Abriegelung, welche die Lieferung von Lebensmitteln, Trinkwasser und Medikamenten für Gazas Zivilbevölkerung unmöglich macht, ist, anders als etwa die Verhinderung der Einfuhr von Treibstoff oder der Lieferung von Strom, unter keinen Umständen verhältnismäßig und völkerrechtlich zulässig. Nicht zuletzt ist die Blockade von zentralen Versorgungsgütern eine Kollektivstrafe4) i.S.d. Art. 33 der Vierten Genfer Konvention und verstößt damit gegen humanitäres Völkerrecht.
Am 18. Oktober hat Israels Regierung auf amerikanischen Druck angekündigt, dass einmalig Hilfsgüter über den Grenzübergang Rafah, d.h. aus Ägypten, eingeführt werden können, allerdings nur für die Versorgung im Süden des Gazastreifens und solange diese nicht der Hamas zukommen. Einer humanitären Waffenruhe, die für die Lieferungen essentiell ist, hat sie bislang nicht zugestimmt. Allerdings: Die angekündigte Lieferung wird nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein und dem Bedarf an lebensrettender Grundversorgung der Zivilbevölkerung nicht gerecht werden. Dazu bräuchte es nach Angaben der UN rund 100 LKWs an Hilfsliegerungen täglich. Eine Lieferung von Hilfsgütern aus Israel hat Premier Netanjahu abgelehnt, solange die Hamas die Geiseln nicht freigibt.
Deutsche Solidarität, deutsche Verantwortung
Die Selbstverpflichtung der deutschen Politik auf die Sicherheit Israels, die Abscheu über die Gräueltaten der Hamas und die weitgehende Zustimmung zu Israels Ziel, die Hamas zu zerschlagen, entheben Deutschland nicht seiner völkerrechtlichen Verantwortung. Deutschland hat vielmehr, wie andere Drittstaaten auch, nicht nur eine Verpflichtung, die Regeln des Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zu respektieren. Es hat auch nach dem gemeinsamen Art. 1 der vier Genfer Konventionen eine völkerrechtliche Pflicht auf deren Einhaltung zu drängen. Dies hat der Internationale Gerichtshof (IGH) unter anderem im Jahr 2004 in seinem Mauergutachten bestätigt.5)
In diesem Sinne sollte die Bundesregierung jetzt vordringlich ihre engen Beziehungen zu Israel nutzen, um darauf einzuwirken, die Geiseln durch Verhandlungen zu befreien; die Bevölkerung Gazas durch die Einrichtung von Schutzzonen effektiv zu schützen; auf den Einsatz von unzulässigen Methoden der Kriegsführung zu verzichten; humanitären Zugang zu gewährleisten, so dass Trinkwasser, Lebensmittel, Medikamente und Treibstoff für die Generatoren der Krankenhäuser geliefert werden können; und humanitäre Korridore einzurichten, welche die Evakuierung etwa von dringenden medizinischen Fällen und ausländischen Zivilist:innen erlauben. Gleichzeitig gilt es auch, über Staaten mit Kontakten zur Hamas-Führung, wie Ägypten und Katar, auf erstere einzuwirken, um das Wohlergehen der Geiseln zu gewährleisten und auf deren Freilassung zu dringen, den wahllosen Raketenbeschuss auf Israel einzustellen und die Flucht der eigenen Bevölkerung aus Kampfzonen nicht zu verhindern.
Im Nachgang der akuten Eskalation muss es auch darum gehen, die Untersuchung vermuteter Kriegsverbrechen aller am Konflikt in Israel und den palästinensischen Gebieten Beteiligten durch den Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen. Denn dass gravierende Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte nicht sanktioniert u