Die grenzenlose Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge und was wir daraus lernen
Mit der spontanen Aufnahme der ukrainischen Frauen, Kinder und Hilfsbedürftigen hat die europäische Zivilgesellschaft gezeigt, wie gut sie mit Flüchtlingen interagieren kann, wenn die Grenzen sich öffnen und hemmende Regulierungen entfallen. Die Staaten lernen in den letzten Wochen, eher unterstützend als kontrollierend zu wirken. Diese Erfahrungen sollten motivieren, kritischer als bisher zu hinterfragen, wieweit Einschränkungen der freien Entfaltung Geflüchteter und ihrer Unterstützer sinnvoll sind.
Bürger-Solidarität und die Öffnung der Staaten und Transportunternehmen
Millionen Ukrainer flüchteten seit dem 24. Februar 2022, Millionen Engagierte nahmen sie auf. Überall in Europa boten Menschen Wohnungen an oder luden Ukrainer zu sich nach Hause ein. Freiwillige brachten Versorgungsgüter an die ukrainische Grenze und holten Flüchtlinge ab. Aktivisten gründeten Vermittlungsbörsen, auf denen sich Wohnungsanbieter und Flüchtlinge treffen und vernetzen können. Spontan organisiert konnten viele Geflüchtete in den ersten Tagen und Wochen Halt und Stabilität finden, „eingebettet sein“, wie es Lukas Kunert formulierte, einer der Gründer von „unterkunft-ukraine.de“. Private Netzwerke funktionierten schnell und unkompliziert, auch für die Jobvermittlung. Überall in Europa bildeten sich Unterstützergruppen, oft mit Beteiligung von im Land lebenden Ukrainern. In Portugal organisierte eine “Ukrainian Refugees Association” (UAPT) Flüge für Flüchtlinge, eine ähnliche Gruppe arbeitet in Luxemburg. Behindertengruppen fanden Aufnahme, Krankenhäuser übernahmen Patienten oder ganze Patientengruppen. Die Flüchtlinge orientierten sich über Freunde, Verwandte oder soziale Netzwerke und wählten auch ihr Zielland gezielt aus. Sie flüchteten zunächst in die Nachbarstaaten, aber von Anfang an auch weiter in den gesamten offenen Schengenraum, bis nach Portugal und Spanien, nach Israel und Mexiko, überall, wo sie ohne Visum hinkommen konnten.
Nach einer Woche reagierte der EU-Ministerrat auf den unregulierten Zustrom und die europaweite Hilfsbereitschaft, er aktivierte die „Richtlinie (…) für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“, eine Alternative zum Asylsystem. Die Ukrainer können ihr Aufnahmeland frei wählen, sie können arbeiten und sie werden unterstützt. In den großen Bahnhöfen arbeiteten Aktivisten mit den Behörden bei der Aufnahme und Verteilung zusammen. Die Schweiz, Norwegen, Irland und Island schlossen sich der EU-Öffnung an, Dänemark verabschiedete ein „Ukrainer-Gesetz“. Statt des Gegeneinanders der Staaten, der Schikanen an einigen EU-Außengrenzen, der langen Wartezeiten in Asylzentren und der überbordenden Asylbürokratie werden die Ukrainer schnell und solidarisch aufgenommen. Die europäischen Bahngesellschaften ließen Ukrainer kostenlos reisen und öffneten Europa damit auch faktisch. TAP, Wizz Air und FlixBus schlossen sich an.
Die Fluchtbewegung in Europa
Bis zum 22. Mai zählte der UNHCR 6.553.000 ukrainische Flüchtlinge, die die Grenze nach Polen, Ungarn, Moldawien, Rumänien und in die Slowakei überschritten. Im selben Zeitraum kehrten 2,049 Millionen Ukrainer in ihr Land zurück. Die offenen Grenzen erleichtern Rückkehrentscheidungen, weil man ohne Weiteres erneut ausreisen kann und nicht festsitzt. In der unkalkulierbaren Kriegssituation öffnet dies Handlungsfreiheit. Zahlenangaben sind wenig verlässlich, im Unterschied zu 2015 erzeugt das aber keine zwischenstaatlichen Spannungen.
In Deutschland zählte die Bundespolizei 400.000 Flüchtlinge, das Ausländerzentralregister verzeichnet 727.000 Flüchtlinge und das BAMF hat in seinem Verteilungssystem 832.000 Geflüchtete erfasst. Offensichtlich ist ein Teil dieser Flüchtlinge in andere Länder weitergereist, andere sind in die Ukraine zurückgekehrt.
In allen europäischen Ländern ist der größte Teil der Ukrainer privat aufgenommen worden, Dänemark geht von privater Unterbringung als Normalfall aus. In Deutschland lebten Anfang April 65 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in Privatwohnungen. Über das menschliche und zeitliche Engagement hinaus bedeutet das, dass die Gastgeber finanzielle Lasten tragen. In den ersten Wochen erhielten sie kaum finanzielle Unterstützung, sondern mussten eher den überforderten Behörden „nachlaufen“, wie es ein frustrierter Schweizer Gastgeber in starken Worten ausdrückte: „Die Behörden machen gar nichts… Es passiert einfach gar nichts. Sie sind auf sich selber gestellt. Wenn nicht andere Leute helfen würden, hätten sie nicht einmal etwas zu essen.“ Im selben Beitrag beschreibt eine Ukrainerin, wie sie sehnlich auf die Registrierung wartet, um Arbeit suchen zu können. Derartige Probleme sind aus vielen Ländern bekannt, sie kontrastieren mit der schnellen Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft. Nach drei Monaten zeichnet sich eine gewisse Konsolidierung ab.
Erstaufnahme und Versorgung funktionieren kooperativer als 2015, ablehnende Stimmen bleiben ohne Echo. Die Behörden kümmern sich um Menschen, die keine private Aufnahme finden, und versuchen zunehmend, sie über das Land zu verteilen, nachdem die meisten Flüchtlinge zunächst an den großen Bahnhöfen in Warschau, Berlin, Prag oder Zürich angekommen waren. Zwar konnte die Ukraine nicht der EU beitreten, aber ihre Bürger werden wie Europäer behandelt.
Die Umsetzung der Öffnung
Mit unterschiedlicher Geschwindigkeit haben die europäischen Länder ihr Rechtssystem auf den neuen Rechtsrahmen eingestellt. Die Tschechische Republik begann schnell mit der Registrierung und hatte am 17. März schon 187.786 ukrainische Flüchtlinge mit einem Rechtstatus versehen, Ende April waren es 310.000. Das entspricht drei Prozent der Bevölkerung. Polen beherbergt mit 1,2 Millionen Registrierten einen ähnlichen Prozentsatz. Ähnliche Prozentsätze werden für Estland, Lettland und Litauen gemeldet. In all diesen Ländern arbeiteten schon vor dem Krieg viele Ukrainer, ebenso wie in Italien. Polen verabschiedete am 11. März ein „Sondergesetz“, das eine neue Kategorie im staatlichen PESEL-Registriersystem für ukrainische Flüchtlinge einführte und damit den Zugang zu Arbeit, Gesundheit und Sozialhilfe öffnete. Italien rief den Katastrophenfall aus, in den Niederlanden erhielten die Bürgermeister auf Grund des Katastrophen-Evakuierungsgesetzes von 1988 besondere Vollmachten. Die Schweiz und Österreich erließen rasch Verordnungen, um den neuen Rechtsstatus umfassend zu regeln.
Schätzt man die Zahl der Ukrainer in Deutschland auf 600.000, so wären das 0,7 Prozent der Bevölkerung, ähnlich dürfte der Prozentsatz in Österreich, Luxemburg und der Schweiz liegen, in Italien, Spanien, Belgien und den Niederlanden bei 0,2, in Frankreich bei 0,1 Prozent. Das wichtigste Weiterwanderungsland ist Deutschland, ein Schwerpunkt Berlin mit 55.000 Registrierten. Bemerkenswert ist die rasche und ungehemmte Diffusion über ganz Europa, im Unterschied zur Konzentration der Syrien-Flüchtlinge 2015 auf wenige Länder.
In Deutschland führte die Bund-Länder-Konferenz am 7. April zu endgültiger Klärung. Ukrainische Flüchtlinge werden ab 1. Juni in die Sozialhilfe (Hartz IV) einbezogen und bekommen damit Zugang zur Arbeitsvermittlung, statt wie zunächst ins Asylbewerberleistungsgesetz eingeordnet zu werden, das vor zwanzig Jahren abschreckend konzipiert worden ist. Alle bisherigen Bescheide müssen geändert werden – ein umständlicher Vorgang des „Rechtskreiswechsels“. Auch § 14 (6) Aufenthaltsgesetz wurde korrigiert. Er hatte ein Arbeitsverbot enthalten und widersprach europäischem Recht, wie in Nr.2, Buchstabe b der Begründung zu der Gesetzesänderung ausgeführt wird. Das hatte anfangs vielfach zu Verwirrung und falschen Auskünften geführt. Die Anpassung macht den Blick ins deutsche Gesetz wieder lohnend. Auch die Krankenversicherung ist inklusiv geregelt.
Die Helfer und der Staat
Es ist evident, dass die große Leistung der Gastgeber und Helfer nicht nur gewürdigt, sondern auch unterstützt werden muss, auch im Interesse der Staaten selbst, die ansonsten große Lasten zu tragen oder ein Chaos mit hungernden Kindern zu gewärtigen hätten. Schrittweise ordnen die europäischen Länder die Ukrainer in ihre Sozialleistungssysteme ein. In Deutschland werden zunehmend Miet- oder Untermietverträge abgeschlossen, auf Grund derer die Flüchtlinge Geld bekommen und ihre Gastgeber entschädigen können. Die Slowakei vergütet Gastgebern 200 Euro für die Aufnahme eines Erwachsenen und 100 Euro für jedes Kind. Polen gibt einmalig 300 Zloty (ca. 70 Euro) und nimmt ukrainische Kinder in sein Kindergeldprogramm auf. Gastgeber erhalten keine Unterstützung.
Das Regelungsdickicht und die befreiende Öffnung
Flüchtlinge und Aktivisten haben sich immer wieder an der Langsamkeit und Komplexität bürokratischer Vorgänge in den Asylverfahren abgearbeitet. Die Verwaltungen selbst litten unter immer komplizierteren Regelungen, die befolgt werden mussten. Ein Hauptergebnis war oft die Verzögerung von Entscheidungen. Das blockierte das Leben von Flüchtlingen und machte die Helfer zu ständigen Behördengängern, statt dass sie sich auf Unterstützung für das Leben im neuen Land konzentrieren konnten. Sie versanken im Regelungsdickicht. Ein Beispiel in Deutschland sind die Wohnsitzregelungen, die ursprünglich für Aussiedler und später auch für Flüchtlinge eingeführt wurden. Leider sind sie in dem Artikelgesetz für die ukrainischen Flüchtlinge in abgeschwächter Form wieder vorgesehen. Die Wirtschaftswissenschaftler Brücker/Hauptmann/Jaschke haben nachgewiesen, dass die Wohnsitzauflagen den Zugang zu Arbeitsplätzen verlangsamen. Jannis Panagiotidis hat gezeigt, dass Aussiedler am Ende auch dann zusammenfinden, wenn sie zunächst administrativ verteilt werden. Beratungsinstitutionen berichten, dass Wohnungen schon vergeben sind, wenn die entsprechende Genehmigung eintrifft, auch wenn das Amt nur einige Tage bracht. Eine BAMF-Untersuchung zeigt, dass Wohnortwechsel im bestehenden Lenkungssystem zu einem großen Teil von Behörden ausgelöst werden, was die Rationalität dieser Planwirtschaft in Frage stellt und soziale Zusammenhänge unterbricht. Der Wunsch nach Planungssicherheit führte im Ergebnis eher zu weniger sozialem Zusammenhalt. Von daher sollten eher weiche Steuerungsmechanismen angewandt werden, etwa die Lenkung von Bahn- und Busangeboten für Neuankommende. Wie ein Projekt der Stadt Münster gezeigt hat, lassen sich durch Beratung gute Steuerungsergebnisse erreichen, die von den Betroffenen akzeptiert werden und damit nachhaltig sind, im Gegensatz zu Regelungen, die nur solange wirken, bis die entsprechenden Fristen abgelaufen sind.
Auf nationaler wie auf europäischer Ebene hat es viele Diskussionen über Verteilungsmechanismen für Flüchtlinge gegeben. Alle erfordern bürokratische Verteilungsmechanismen und ignorieren die Wünsche und Erwartungen der Migranten und der Einheimischen. Mit der neuen Offenheit und der Selbstentscheidung für Ukrainer finden wir eine breite Verteilung über den ganzen Schengenraum, mit Schwerpunkten auf Grund von Nachbarschaft und bestehender Verbindungen über vorherige Wanderungsprozesse. Diese neue Flexibilität hat auch eine zeitliche Dimension. Wenn es in den nächsten Wochen gelingt, den Krieg zu beenden, wird es eine Konsolidierung geben. Wenn nicht, wird ein Teil der Flüchtlinge weiterwandern, wenn es an den jeweiligen Standorten zu wenig Perspektiven gibt oder wenn Länder sich aktiv um Ukrainer bemühen. Im Gegensatz zu den Konfrontationen 2015/16 kann das individuell geschehen, auf Grund von Informationen anderer Ukrainer und aus anderen Quellen, und ähnlich legal und einvernehmlich wie bei der Mobilität von EU-Bürgern. Arbeitsaufnahme wird dabei ein wichtiges Kriterium sein.
Die Erfahrungen mit der Aufnahme der Ukrainer können ein Anstoß zum Abbau der Regelungsintensität sein, gleichgültig ob diese Regelungen zur Abwehr von Flüchtlingen, zur Integrationsförderung oder zur Sortierung unterschiedlicher Gruppen erdacht worden sind. Der Abbau ist auf der europäischen Ebene begonnen worden und sollte bis ins lokale Detail fortgesetzt werden. Auf diese Weise kann die Energie der Flüchtlinge, der Helfer und der Arbeitgeber freigesetzt werden und die Behörden werden entlastet und können sich um ihre Kernaufgaben kümmern.