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27 February 2020

Die Krise und die Versprechen der Demokratie in der Longe durée des 20. Jahrhunderts

Das Versprechen der Demokratie

Demokratie baut auf das Volk. Aber das Volk verhält sich oft enttäuschend. Es nützt die verfassungsgebende Gewalt dazu, autokratische Systeme einzurichten, und nimmt sich auf diese Weise selbst aus dem Spiel. Es wählt Parteien, die versprechen, die Demokratie abzuschaffen oder zu denaturieren. Es entscheidet in Referenden irrational und schlecht informiert. Es gibt keinen Grund, das Volk zu idealisieren. Es gibt auch keine Gewähr, dass Entscheidungen des Volkes den Entscheidungen von Repräsentanten überlegen sind, weder an Rationalität noch an Legitimationskraft. Dennoch ist das Volk demokratisch unentbehrlich, zumindest als Zurechnungssubjekt der öffentlichen Gewalt und als Auftraggeber für Herrschaftspositionen.

Das Versprechen der Demokratie ist nicht, dass dem Willen des Volkes Geltung verschafft wird. Denn den Willen des Volkes gibt es nicht. Es gibt vielmehr nur unzählige Kombinationen von Meinungen und Interessen, aus denen jeweils von neuem ein dem Volk zurechenbarer Wille gebildet werden muss. In dem so gebildeten Willen werden sich nie alle wieder finden. Das Versprechen der Demokratie ist aber, dass alle bei der Bildung des Willens mitwirken und also Einfluss auf das Ergebnis nehmen können und dass der jeweiligen Mehrheit nicht alles erlaubt ist, insbesondere nicht, die Minderheit um ihre Chancen zu bringen, selbst Mehrheit zu werden, samt den Voraussetzungen, die dafür nötig sind.

Wenn man nicht weiß, wann und wobei man zur Mehrheit oder zur Minderheit gehört, müsste das eigentlich ein attraktives Versprechen sein. Für wen ist es nicht attraktiv? Für jemanden, der sich im Wahrheitsbesitz wähnt, sowie für alle, die ein homogenes Volk mit einheitlichem Willen postulieren und sich oder ihre Gruppe als Verkörperung dieses Willens verstehen, denn dann geht es nur um die ungehinderte Durchsetzung dieses Willens; aber auch für diejenigen, welche sich einer strukturellen Mehrheit gegenüber finden, also keine Aussicht haben, selber zur Mehrheit zu werden; schließlich für diejenigen, welche ein Versagen des Systems erleben und das Vertrauen in seine Fähigkeit verlieren. Die Demokratie ist ein riskantes System.

Das 20. Jahrhundert

1919

Beziehen wir das auf Deutschland und die drei Epochenjahre, die hier zur Sprache kommen sollen, so waren 1919 die Anfänge vielversprechend. Die demokratischen Parteien hatten in der Nationalversammlung eine Drei-Viertel-Mehrheit, und mit dieser Mehrheit wurde die Weimarer Verfassung angenommen. An den Debatten des Verfassungsausschusses hatte sich auch die Minderheit konstruktiv beteiligt. Konservative und radikale Linke wurden zwar nicht müde zu versichern, dass entweder die konstitutionelle Monarchie oder das Rätesystem der parlamentarischen Demokratie überlegen seien, stellten sich aber auf den Boden der neuen Gegebenheiten und versuchten nur, den Verfassungsentwurf etwas mehr in die eine oder andere Richtung zu lenken. Die Demokratie war aber noch nicht verinnerlicht. Viele, die ihr zustimmten, taten es in der Erwartung, sich dadurch einen milden Friedensvertrag zu verdienen. Diese Erwartung wurde enttäuscht. Der Versailler Vertrag lastete von Anfang an als schwere Hypothek auf dem demokratischen Gebäude. Die Demokratie bekam aber auch keine Chance, sich im Lauf der Zeit zu etablieren. Von schwersten Wirtschaftskrisen geschüttelt, funktionierte sie mit Ausnahme weniger Jahre nur im Krisenmodus und legte sich schließlich völlig lahm, so dass am Ende selbst die Demokraten der parlamentarischen Demokratie keine Zukunft mehr gaben. Einzelne Schwächen der Weimarer Verfassung hatten daran Anteil, aber nicht den entscheidenden.

1949

1949 bildete in Westdeutschland in allem das Gegenteil. Die Demokratie war nach dem totalen Zusammenbruch alternativlos. Selbst wer ihr innerlich fern stand, wusste, dass die Siegermächte eine andere Staatsform nicht zulassen würden. Die Demokratie konnte sich aber in langen Jahren anhaltenden Wohlstandswachstums etablieren. Die Zustimmung für das System wuchs kontinuierlich. Am Ende gab es sogar etwas so Seltenes wie den Verfassungspatriotismus. Er erklärt sich daraus, dass die näher liegenden Anknüpfungspunkte für Patriotismus im Nachkriegs-Westdeutschland nicht zur Verfügung standen: die Nation nicht, weil sie geteilt war; die Geschichte nicht, weil sie mit dem Holocaust belastet war; die Kultur nicht, weil sie als letztes einigendes Band um die beiden Teilstaaten benötigt wurde. In diese Lücke konnte das Grundgesetz springen und über seine juristische Geltungskraft hinaus auch eine gesellschaftliche Integrationskraft entfalten. Dass es durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts täglich als relevant erlebbar wurde, spielte dabei eine erhebliche Rolle. Man darf das freilich nicht mit sozialer und politischer Harmonie verwechseln. Es gab in der alten Bundesrepublik tiefe und bittere Auseinandersetzungen, außenpolitisch wie innenpolitisch, die hart, aber nicht immer fair ausgetragen wurden. Doch die Gegensätze waren im parlamentarischen Spektrum abgebildet. Die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD erlangten in den Wahlen zusammen regelmäßig eine Mehrheit von 80 %, zweimal sogar von 90 %. Autoritäre Bestrebungen hatten nie eine Chance. Die Vorkehrungen, welche das Grundgesetz gegen eine Wiederholung der Weimar-Erfahrung getroffen hatte, mussten nicht eingesetzt werden. Wenn wir bei jedem Jubiläum des Grundgesetzes hören, es habe sich bewährt, steht dahinter auch, dass ihm große Bewährungsproben bis jetzt erspart geblieben sind.

1989

Auch 1989 war die Anfangssituation günstig. Die Mehrheit der DDR-Bürger wünschte sich ein System nach Art des Grundgesetzes, ob in Form einer reformierten DDR oder eines wieder vereinigten gesamtdeutschen Staates war anfangs offen. Der Verfassungsentwurf des zentralen Runden Tisches, an dem Ulrich Preuß Anteil hatte, ist noch heute ein interessantes Dokument. Von der im März 1990 freigewählten Volkskammer wurde er verworfen. Inzwischen ging es nur noch um eine schnelle Wiedervereinigung. Die Frage, ob sie nach Art. 23 GG durch Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes oder nach Art. 146 GG durch Annahme einer gesamtdeutschen Verfassung erfolgen sollte, führte zu einer Stellvertreterdiskussion über die beschwiegene Grundfrage, wie man sich die Wiedervereinigung vorzustellen habe, als eine räumlich-personelle Erweiterung der Bundesrepublik oder als einen gemeinsamen Neuanfang zweier vierzig Jahre getrennter Landesteile. Dabei wurden die beiden Grundgesetz-Artikel in ein Verhältnis wechselseitiger Ausschließlichkeit gerückt. Ich habe mich damals dagegen ausgesprochen und dargelegt, dass beide kombinierbar seien: der schnelle Beitritt gemäß Art. 23, der wegen der Unsicherheit der außenpolitischen Lage unabweisbar war, das Window of Opportunity hätte sich schnell schließen können, und nach erfolgter Vereinigung die Einlösung des Versprechens von Art. 146 durch Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung, die eine gemeinsame Verfassung ausgearbeitet und zur Abstimmung gestellt hätte. Die Artikel können in dem Band, in dem Tine Stein die damalige Diskussion dokumentiert hat, nachgelesen werden.1) Mir lag an diesem Weg, nicht weil ich das Grundgesetz los werden wollte, sondern weil ich mir von diesem Vorgehen die symbolische Wirkung versprach, dass in der DDR-Bevölkerung nicht das Gefühl aufkomme, es sei ihr etwas aufgenötigt worden, sondern sie sei an der Schaffung der gemeinsamen Rechtsgrundlage beteiligt worden. Ich hatte keine Sorge, dass das Ergebnis etwas gänzlich anderes als das Grundgesetz gewesen wäre. Ob diese symbolische Wirkung eingetreten wäre, vermag niemand zu sagen. Heute könnten wir sie gebrauchen, aber die Verfassunggebung ist heute nicht mehr nachholbar.

Die Krise der Demokratie

Damit sind wir beim Heute und bei der Erosion des westlichen Verfassungsmodells, die zurzeit zu beobachten ist und nicht allein als ein Ost-Phänomen betrachtet werden darf. Die repräsentative, im Wesentlichen über den Parteienwettbewerb vermittelte Demokratie leidet an Erschöpfung. Nach neuen oder ergänzenden Formen wird gesucht. Inzwischen etablieren sich populistische Regime. Wie die Beispiele Ungarn und Polen zeigen, geht es dabei nicht um eine antidemokratische Revolution wie 1933, sondern um eine Umdefinition der Demokratie. Populistische Parteien identifizieren sich mit dem Volk und leiten daraus den Anspruch ab, ihre Vorstellungen ungehindert zu verwirklichen. Den Preis zahlen die verfassungsrechtlichen Vorkehrungen, die das eingangs beschriebene Versprechen der Demokratie sichern sollen.

Die Frage ist, ob sich die Verfassung dagegen schützen kann. Die so genannte streitbare Demokratie ist auf eine andere Situation bezogen. Die populistischen Parteien bleiben, solange sie nicht an der Macht sind, gewöhnlich unterhalb der Schwelle des Parteiverbots. Der ungarische Fall zeigt, dass bei einem Wahlsieg der populistischen Partei mit Zwei-Drittel-Mehrheit alles verloren ist. Sie kann dann die Verfassung nach ihren Vorstellungen formen und sich mithilfe der Verfassung in der Machtposition verschanzen. Reicht es lediglich zu einer absoluten Mehrheit wie in Polen, ist die Situation anders. Die dortige populistische Partei konnte ihre Absichten nur mit eklatanten Verfassungsbrüchen verwirklichen. In diesem Fall hängt alles davon ab, ob sich das Volk auf die Seite der Verfassung stellt. In Polen hat es daran gefehlt.

Beide Länder bieten aber eine Lehre für Deutschland. Die dortigen Parteien konnten sich den Ausgangspunkt für die Systemtransformation nur aufgrund ihres Wahlrechts schaffen. Die polnische PiS-Partei erhielt für 36 % der Wählerstimmen eine absolute Mehrheit im Parlament, die ungarische Fidesz-Partei für 53 % der Stimmen sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Das deutsche Wahlsystem ließe das nicht zu. Es ist aber nur einfachrechtlich geregelt und deswegen gegen eine Umformulierung im ungarischen oder polnischen Sinn nicht gefeit. Man sollte daher das Wahlsystem auf der Verfassungsebene befestigen. Alles Weitere ist keine Frage des Verfassungsrechts, sondern der Verfassungskultur.

References

References
1 Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991, S. 117 ff. und 261 ff.

SUGGESTED CITATION  Grimm, Dieter: Die Krise und die Versprechen der Demokratie in der Longe durée des 20. Jahrhunderts, VerfBlog, 2020/2/27, https://verfassungsblog.de/die-krise-und-die-versprechen-der-demokratie-in-der-longe-duree-des-20-jahrhunderts/, DOI: 10.17176/20200227-101232-0.

One Comment

  1. Sepp Fri 28 Feb 2020 at 13:06 - Reply

    “Es nützt die verfassungsgebende Gewalt dazu, autokratische Systeme einzurichten, und nimmt sich auf diese Weise selbst aus dem Spiel.”

    Die Frage ist: Nimmt sich das Volk, beziehungsweise die Mehrheit des Volkes, bewusst selber aus dem Spiel? Dass eine Minderheit potentiell die Demokratie abschaffen will, scheint mir plausibel. Nicht aber die Mehrheit, da sie ja per Definition die Macht hat.

    Weshalb votiert dann eine Mehrheit trotzdem für autoritäre Politiker bzw. Parteien?
    – Andere Themen, wie die Wirtschaft oder Immigration, haben Priorität. Putin, Erdogan oder Chavez haben eine Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs genutzt, um ihre Position zu zementieren.
    – Die Opposition ist genauso demokratiefeindlich oder wird so dargestellt.
    – Heutzutage behaupten autoritäre Politiker bzw. Parteien von sich immer, demokratisch zu sein. Die Wähler erkennen die Lüge nicht, oder erst, wenn es zu spät ist.

    Damit ergeben sich meiner Meinung nach eine Reihe von Rezepten:
    – Demokratische Parteien sollten pragmatisch sein und erfolgreiche Rezepte von autoritären Parteien kopieren.
    – Demokratische Parteien sollten niemals zu undemokratischen Mitteln greifen.
    – Der Wähler muss über die wahre Motivation gewisser Politiker bzw. Parteien aufgeklärt werden.
    – Man sollte den Wählern die Möglichkeit geben, Parteien und Politiker notfalls zu umgehen, denn nur so kann der Wille der Mehrheit zuverlässig zum Ausdruck kommen.

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