Die Made im NATO-Speck
Die österreichische Neutralität im Kontext der Ukraine-Krise
Der Krieg in der Ukraine hat innerhalb kürzester Zeit Grundprämissen des etablierten österreichischen Neutralitätskonzepts in Frage gestellt – selbst ein NATO-Beitritt wurde diskutiert. Der Gang dieser Diskussion vermochte innerhalb kürzester Zeit die gesamten rechtlichen Schwachstellen des österreichischen Neutralitätskonzepts offen zu legen. Gleichzeitig zeigt sich, wie opportun es für Österreich ist und weshalb wohl auch weiter daran festgehalten wird.
Das Paradoxon der freiwilligen Verpflichtung
Das österreichische Neutralitätskonzept weist eine völkerrechtliche, eine europarechtliche und eine verfassungsrechtliche Dimension auf. Alle drei Perspektiven sind eng miteinander verbunden. Die österreichische Neutralität kann nur vor dem Hintergrund der Bemühungen im Jahr 1955 gesehen werden, die volle Souveränität des damals noch besetzten Österreichs wiederherzustellen – trotz Kalten Krieges. Dazu bot sich als politisches Instrument das Neutralitätskonzept an – von dem aber schon 1955 nicht klar war, ob dieses für Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in rechtlicher Hinsicht überhaupt Bestand haben konnte.1)
In Österreich wurde die Neutralitätsverpflichtung aber sehr wohl als rechtliche Verpflichtung interpretiert, in einem sich ständig überbietenden Dogmatismus und gleichzeitig weitgehend unbeachtet von Recht und Politik außerhalb Österreichs. Ob völkerrechtlich eine Bindung geschaffen worden war, war von Anfang an unklar. Österreich war nämlich sehr bemüht, eben keine Neutralisierung des Landes herbeizuführen, so wie sie beispielsweise jetzt für die Ukraine diskutiert wird: Die damit verbundene Einschränkung der nationalen Souveränität war damals und ist heute mit Unabhängigkeit nur schwer in Einklang zu bringen. Österreich strebte deshalb eine „Neutralitätsverpflichtung aus freien Stücken“ an.
Wie sollte dieses Paradoxon der „freiwilligen Verpflichtung“ realisiert werden? Der Wiener Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges enthielt keine Neutralitätsverpflichtung. Das Bekenntnis zur „immerwährenden Neutralität“ im Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 nahmen die Mitglieder der Staatengemeinschaft nur teilweise zur Kenntnis. Diese „wechselseitige aufeinander bezogenen einseitigen Rechtsgeschäfte“ sollten – so die gängige österreichische Lehre – eine freiwillig begründete Neutralitätsverpflichtung Österreichs herbeigeführt haben, von welcher sich Österreich durch contrarius actus wiederum lösen könnte. Inwieweit dieser Ansatz juristisch stringent ist, lässt sich schwer beurteilen, da er – soweit ersichtlich – im Ausland kaum wahrgenommen worden ist.2) War eine völkerrechtliche Neutralitätsverpflichtung rechtlich zweifelhaft, entstand immerhin eine verfassungsrechtliche Bindung über das Neutralitätsgesetz aus 1955.
Das Neutralitätskonzept seit dem EU-Beitritt
Mit dem EU-Beitritt 1995, der ohne Neutralitätsvorbehalt vorgenommen wurde, änderte sich diese Situation aber grundlegend. In rechtlicher Hinsicht wird der Neutralitätsverpflichtung weitgehend durch die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) das Fundament entzogen, insbesondere durch dessen verteidigungspolitischen Arm. Daran, dass Österreich an dieser uneingeschränkt mitwirken würde, ließ der im Vorfeld des EU-Beitritts 1994 eingefügte Art. 23 f B-VG keinen Zweifel. Seit dem Vertrag von Lissabon lautet die nunmehr einschlägige Bestimmung in Art. 23j B-VG folgendermaßen:
„Österreich wirkt an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union […] in der Fassung des Vertrags von Lissabon mit […]“.
Da diese Bestimmung dem Neutralitätsgesetz aus 1955 als lex posterior und lex specialis im Geltungs- und Wirkungsbereich der GASP derogiert,3) bleibt vom Neutralitätsrecht wenig übrig. Hinzukommt die „Beistandsverpflichtung“ gemäß Art. 42 Abs. 7 TEU. Im Fall eines „bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats“ begründet dieser ein handfestes Militärbündnis, das dem Neutralitätsgesetz zuwiderläuft. Allerdings ist die Ausnahmebestimmung in Art. 42 Abs. 7 UAbs. 1 zu berücksichtigen:
„Dies [die Beistandsverpflichtung] lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.“
Diese sogenannte „irische Klausel“ schirmt nach herrschendem Verständnis den außen- und sicherheitspolitischen Gestaltungsspielraum der Neutralen ab. Aber bis zu welchem Punkt? Haben Neutrale somit Anspruch auf Beistand, müssen solchen im Bedarfsfall aber nicht leisten? Eine radikale Ausnahme der Neutralen würde ein System asymmetrischer Solidarität schaffen und damit die Bestandskraft der Beistandsverpflichtung in Frage stellen. Die damit zusammenhängenden Fragen sind weitgehend ungeklärt.
Die „Europäische Friedensfazilität“
Angesichts zunehmender Krisen weltweit will die EU militärisch mehr Präsenz zeigen. Im Schatten der Corona-Krise, weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit, hat die Union im März 2021 eine „Europäische Friedensfazilität“ geschaffen. Das ist eine Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit, die über ein eigenes Budget verfügt, das sich im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung der Mitgliedstaaten zusammensetzt und die gemeinsame Kosten militärischer GSVP-Operationen und –Missionen finanziert. Dieses Budget ist also nicht Teil des allgemeinen Haushalts, denn über diesen könnten Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen gemäß Art. 41 Abs. 2 EUV grundsätzlich nicht finanziert werden. Über die Friedensfazilität können Waffen und Munition an Drittstaaten geliefert werden.
Wie ist eine solche Vorkehrung mit der Neutralität einzelner Mitgliedstaaten, darunter Österreich, in Einklang zu bringen? Diesbezüglich wurde geschickt Vorsorge betrieben, zumindest in der Form, weniger in der Substanz: Neutrale „Mitgliedstaaten mit einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit besonderem Charakter“ müssen Maßnahmen nicht mitfinanzieren, die mit der Anwendung „tödlicher Gewalt“ verbunden sind.4) Sie müssen aber dafür andere Maßnahmen finanzieren – zum selben Betrag. Dementsprechend sind am 28. Februar 2022 zwei unterschiedliche GASP-Beschlüsse zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte getroffen worden: Einmal wurden 450 Mio. für militärische Ausrüstung und Plattformen zur Anwendung tödlicher Gewalt zur Verfügung gestellt, zum anderen 50 Mio. für andere Unterstützungsmaßnahmen für die ukrainischen Streitkräfte. Nur der zweite Beschluss verpflichtet Österreich, doch ändert dies nichts am reziproken Umfang der Unterstützungsleistung.
Wie sehr diese Fragen einer Lösung harren, haben die Entwicklungen der letzten Wochen gezeigt. So wertvoll ein Neutralitätsstatus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sein konnte, also in einer Ära, in der Krieg ein Instrument der Politik war und Staaten in der Neutralität Zuflucht suchten, so heikel ist er in einer Friedensordnung, die diesen Frieden durch Solidarität garantieren möchte. Für die EU, in der der Solidaritätsgedanke zum leitenden Prinzip wird, gilt dies noch umso mehr. Bundeskanzler Nehammer hat mit dem Satz „Wer das Völkerrecht missachtet, missachtet auch die Neutralität“ das Grundproblem bereits pointiert zum Ausdruck gebracht – mit weiteren Implikationen als vielleicht intendiert.
Weshalb der rasche Rückzieher der nationalen österreichischen Politik in der Neutralitätsdiskussion? Wenn 80% der Bevölkerung die Sinnhaftigkeit der Neutralität – was immer diese konkret bedeuten möge – befürwortet, dann ist die Infragestellung dieses Konzepts zumindest für Großparteien kontraproduktiv. Da Österreich von NATO-Staaten (und der genuin neutralen, wehrhaften Schweiz) umgeben ist, lebt diese Utopie jedenfalls auch von der Gnade der Geografie. Eine NATO-Mitgliedschaft würde höhere Militärausgaben mit sich bringen. Dass die Einsparungen sich über das Festhalten an einem Prinzip, das moralischen Vorrang insinuiert, nicht nur rechtfertigen, sondern auch noch verbrämen lassen, mag von kritischen Geistern als bequeme Lebenslüge bezeichnet werden. Netter erscheint aber eine Wendung, die letzthin von der österreichischen Qualitätspresse ins Spiel gebracht worden ist: jene der „angeblich neutralen Made im NATO-Speck“. Bodenständige Begrifflichkeiten, die auch ohne große völkerrechtliche und europarechtliche Vorkenntnisse einen Nachdenkprozess über den Wesensgehalt von Solidarität in Gang setzen können.
Eine frühere, kürzere Fassung dieses Beitrags ist am 4. März 2022 in der „Wiener Zeitung“ erschienen.
References
↑1 | Zu dieser Diskussion herauf bis zur Gegenwart und mwN vgl. nur P. Hilpold, Solidarität und Neutralität im Vertrag von Lissabon, Facultas: Wien 2010; ders., Neutralität als prioritäres Charakteristikum, in: P. Hilpold/M. Matzka/W. Hämmerle, 100 Jahre B-VG, Facultas/Wiener Zeitung: Wien 2020, S. 143-146; ders., How to Construe a Myth: Neutrality Within the Untied Nations System Under Special Consideration of the Austrian Case, in: 18 ChJIntL 2/2019, S. 247-279; Die österreichische Neutralität und der Kampf gegen den Terrorismus, in: 24 Journal für Rechtspolitik 4/2016, S. 282-286; ders., Die österreichische Neutralität und die GASP – Stationen einer dynamischen Entwicklung, in: Wiener Blätter zur Friedensforschung 2015, Nr. 164, S. 41-51; ders., Österreichs Neutralität nach Lissabon im Lichte der Beistands- und Solidaritätsverpflichtung, in: 65 ÖJZ 13/2010, S. 590-598; G. Jandl, Die gemeinsame europäische Verteidigung –was ist sie, und wenn ja, wie viele?, in: S+F 4/2018, S. 171-226 sowie ders., Die österreichische Neutralität – facta et cruces, in: Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim, FS Michael Gehler, 2022, S.277-287. |
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↑2 | Interessanterweise geht eine rezente juristische Monographie zum Stellenwert der Neutralität im Völkerrecht auf die österreichische Neutralität kaum ein. Siehe J. Upcher, Neutrality in Contemporary International Law, OUP 2020, was aber auch Fragen über die Qualität der betreffenden Arbeit aufwerfen kann. |
↑3 | Vgl. G. Jandl, 2022, S. 281. |
↑4 | Vgl. Art. 5 des Beschlusses (GASP) 2021/509 des Rates v. 22. März 2021 zur Einrichtung einer Europäischen Friedensfazilität und zur Aufhebung des Beschlusses (GASP) 2015/528. |