This article belongs to the debate » Gedenksymposium zu Ehren von Ernst-Wolfgang Böckenförde
07 May 2019

Die Menschenwürde als normatives Prinzip – und ihre Bedeutung für den Embryonenschutz

I. Böckenfördes Kritik am Herdegen´schen „Epochenbruch“

Gewöhnlich erregt die Neu-Kommentierung einer Gesetzesnorm, selbst wenn es sich um eine zentrale Vorschrift des Grundgesetzes handelt, kein größeres Aufsehen jenseits der Fachwelt. Anders 2003: In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung griff Ernst-Wolfgang Böckenförde Matthias Herdegens Kommentierung des Art. 1 GG, der Verfassungsbestimmung, die die Unantastbarkeit der Würde des Menschen proklamiert, empört und mit scharfen Worten an: „Die Würde des Menschen war unantastbar“ (Böckenförde, FAZ v. 3.9.2003, Nr. 204, S. 33); diese Neukommentierung markiere einen „Epochenbruch“. Was war der Hintergrund? Herdegen hatte die ursprünglich (1958) von Günter Dürig für den „Maunz-Dürig“, den in den frühen Jahren der Bundesrepublik führenden Grundgesetz-Kommentar, verfasste, seither unveränderte Kommentierung 2003 auf aktuellen Stand gebracht. Aber nicht nur das: Die „Fortschreibung“ sei eine „Umschreibung“, so Böckenförde (zur Auseinandersetzung mit Herdegen siehe Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 238 ff.).

Zum zentralen Leit- und Merksatz der Dürig‘schen Kommentierung war die Objektformel geworden, nach der die Menschenwürde getroffen ist, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“ (Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. I, Rn. 28, 1958). Dieser vorbehaltlos formulierte Obersatz ließ keinen Spielraum für Abwägungen, verlangte im Einzelfall eine Subsumtion ohne Wenn und Aber. Herdegen kritisierte das Beharren der herrschenden Meinung auf dem absolut abwägungsfeindlichen normativen Anspruch der Menschenwürde, verdeutlicht in der von Dürig popularisierten „Objektformel“, und forderte stattdessen „Abwägungsoffenheit“ im Rahmen einer „wertend-bilanzierenden Konkretisierung“. Der harte, abwägungsfeste Würdekern markiere in Wahrheit nur ein äußerst schmales Feld von Maßnahmen (typischerweise Verfolgungsmaßnahmen totalitärer Regime), die sich der Art und Weise oder auch der Zwecksetzung nach leicht als Würdeverletzung identifizieren ließen. Im Begriffshof der Menschenwürde seien dagegen Abwägungen möglich und geboten. So könne die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe zur Ahndung schwerster Schuld gerechtfertigt sein und sei dann im Ergebnis dieser Abwägung nicht als Würdeverletzung zu qualifizieren. (Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 43 ff., 69, Stand Feb. 2003).

II. Die schwierige „Objektformel“ und die Gefahr einer Relativierung der Subjektstellung des Menschen

In der Tat entfernt sich diese Perspektive bewusst von der in ihrer These auf den ersten Blick klaren, in der Anwendung aber oft schwierigen „Objektformel“, die jede Instrumentalisierung des Menschen unter allen Umständen strikt untersagt, weil sie ihn als zu fremden Zwecken frei verfügbare Sache gebraucht und sich das nicht mit seiner (Rechts-) Subjektstellung, seinem „Dasein um seiner selbst willen“ verträgt – eine Deutung, die sich dem Selbstzweckgedanken aus Kants Moralphilosophie verpflichtet weiß (Böckenförde, JZ 2003, S. 809, 811 f.). Aber wann ist eine solche Instrumentalisierung anzunehmen? Das Absolute kennt keine Spielräume, sondern verlangt nach eindeutiger Zuordnung des Falles zum Obersatz. Herdegens Abwägungskonzept will demgegenüber den Würdeanspruch von Fall zu Fall normimmanent konkretisieren, es will bewusst, wie Böckenförde kritisiert, das „Tor zu Abwägung und flexibler Handhabung (öffnen)“. Herdegens Kritik wendet sich indessen nicht einfach pauschal gegen die Scheingewissheit einer absoluten Abwägungsfestigkeit der Würdenorm, wenn sie auf die Unausweichlichkeit von Abwägungen zum Interessenausgleich verweist. In der Tat werden etwa unter dem Titel der Menschenwürde auch Leistungsansprüche auf menschenwürdiges Dasein diskutiert, die aus einem beständigen Abwägen bestehen – zwischen Bedürftigkeit einerseits, der Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme andererseits (im Ausgangspunkt anders BVerfGE 125, 175; 132, 134). Diese stark abwägungsabhängigen Ansprüche haben – auch historisch – mit der (Rechts-) Subjektstellung des Menschen unmittelbar nichts zu tun, weil diese durch soziale Not als solche nicht in Frage gestellt wird (erhellend Manfred Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 236). Böckenfördes Opposition galt freilich gerade und besonders der Gefahr einer Relativierung der Rechtssubjektstellung des Menschen. Denn nach Herdegens Vorstellung sollten der Würdeargumentation ganz grundsätzlich Anwendungsfelder erschlossen werden, die jenseits des allgemeinen, aber sehr engen Konsenses über Würdeverletzungen angesiedelt sind, wie sie in Gestalt von totalitären Verfolgungsmaßnahmen begegnen. Dazu musste das Argumentationsschema flexibilisiert werden, und aus dieser Flexibilisierung erwuchs die von Böckenförde identifizierte Gefahr eines Abschieds vom absoluten Anspruch des Menschen auf Achtung und Schutz um seiner selbst willen.

III. Der Kern der Kontroverse: Embryonenschutz als Würdeschutz

Die Heftigkeit von Böckenfördes Reaktion auf Herdegens Neukommentierung erklärt sich indessen zu einem Gutteil daraus, dass deren Flexibilisierung auch vor dem Embryonenschutz nicht haltmacht. Nimmt man die sehr kontroversen und immer wieder nahezu unversöhnlichen Diskussionen in den Blick, wie sie nicht nur um die Abtreibung (BVerfGE 88, 203), sondern um den Embryonenschutz überhaupt, damit den rechtlichen Status des menschlichen Embryos geführt wurden und werden (Embryonenschutzgesetz vom 13.12.1990, BGBl. I S. 2746; Stammzellgesetz vom 28.6.2002, BGBl. I S. 2277, mit Änderung der Stichtagsregelung durch Gesetz v. 14.8.2008, BGBl. I S. 1708; bedingte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik im Embryonenschutzgesetz durch Gesetz v. 21.11.2011, BGBl. I S. 2228), sprechen zunächst gute Gründe für eine größere Flexibilität (um nicht von Toleranz zu sprechen): Auf Dauer gesamtgesellschaftlich tragfähige Konfliktlösungen verweigern sich selbst angesichts existenzieller Problemkonstellationen wie der des Embryonenschutzes regelmäßig einer rigiden Alles-oder-Nichts-Logik. Auch Böckenförde hat derlei Probleme sozialer Akzeptanz keineswegs geleugnet und so sich z.B. (vergeblich) dafür eingesetzt, dass die katholische Kirche sich an einer Schwangerschaftskonfliktberatung beteiligt, in deren Verlauf jeweils Bescheinigungen über die Beratung ausgestellt werden – als Voraussetzung einer straffreien Abtreibung. Auch auf Ausgleich bedachte Lösungen durften aber, das war Böckenfördes dezidierte Gegenrede und wesentlicher Antrieb seiner Stellungnahmen zur verfassungsrechtlichen Funktion der Menschenwürde (FAZ v. 3.9.2003, Nr. 204, S. 33; nahezu zeitgleich in der Juristenzeitung vom 5. September 2003, JZ 2003, 809), gerade beim Embryonenschutz keinesfalls auf Kosten der Subjektstellung des Menschen gehen.

Herdegen schlug demgegenüber vor, die Entwicklungsphasen menschlicher Existenz nicht ohne Rücksicht auf die Umstände dieser Entwicklung und die von außen an sie herangetragenen Zwecksetzungen zu würdigen (Erzeugung auf natürlichem Wege oder in vitro; Erzeugung oder gentechnische Intervention zu therapeutischen Zwecken oder zu industriellen Zwecken etc.). Er konstatierte eine „unterschiedliche Qualität des Würdeanspruchs“, die offen war für Differenzierungen zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ des Schutzes. Herdegen redete dem „Konzept eines gestuften, entwicklungsabhängigen Schutzes der Menschenwürde“ das Wort. Mit dieser Öffnung für Abhängigkeiten, Kontextualisierungen, Nützlichkeitserwägungen würden – so Böckenförde – die Unabdingbarkeit der Menschenwürde und ihrer Achtung selbst relativiert und dadurch zum Verschwinden gebracht (FAZ v. 3.9.2003, Nr. 204, S. 35; JZ 2003, 809, 812 in Fn. 15). Denn mit der zweiten Abtreibungs-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ging Böckenförde, der an ihr mitgewirkt hatte, von der Kontinuitätsthese aus: der Mensch entwickele sich in allen Phasen seiner – auch vorgeburtlichen – Existenz als Mensch und nicht etwa zum Menschen, habe also jederzeit im selben Maße das aus seiner Würde fließende Anrecht auf Achtung und Schutz um seiner selbst willen (BVerfGE 88, 203 (252)). In Böckenfördes Worten: „allein auf das Menschsein kommt es an, unabhängig von den Stadien dieses Menschseins. Art. 1 GG kennt keine Differenzierung nach solchen Stadien“. Das absolute Schutzregime des Art. 1 GG war darum zwingend auf den Embryo – auch den in vitro erzeugten – auszudehnen. Auch das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz folgen dieser Logik (Böckenförde, JZ 2003, 809, 811 ff.; § 8 Abs. 1 ESchG; § 3 Nr. 4 StZG).

IV. Der weitere Zusammenhang der Kontroverse

Näheres Hinsehen zeigt, dass die Kontroverse Böckenförde-Herdegen nicht hervorgehoben für sich steht, sondern eingebettet ist in weitere Zusammenhänge: Zum einen wendet sich Böckenförde in der Sache keineswegs allein gegen Herdegen (ausdrücklich Böckenförde, JZ 2003, 809, 812 m. Fn. 15; Biographisches Interview v. Dieter Gosewinkel, in: Böckenförde, Wissenschaft-Politik-Verfassungsgericht, 2011, S. 467 f.). Neben Herdegen bemühten und bemühen sich noch andere Autoren um ein Konzept, das eine ungeachtet ihres dem Grunde nach absoluten Anspruchs systemkonforme und rechtsdogmatisch überzeugende Anwendung der Würdenorm garantieren soll (vgl. Bäcker, Der Staat 55 (2016), 433, 457; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 3. Aufl. 2018, S. 271 f., 282 ff.; Dederer, JÖR 57 (2009), 89, 117, 124; Goos, Innere Freiheit, 2011, S. 159 ff.; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 201, Rn. 97). Zu diesem Zweck werden Öffnungsklauseln in die Würdenorm integriert, die – teils unter Differenzierung zwischen Achtungs- und Schutzpflicht – eine flexible Handhabung des absoluten Anspruchs durch tatbestandsimmanente Flexibilisierung ermöglichen sollen (Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 107-109, 123 f., 388 f.): Das Individualinteresse an Achtung und Schutz der Würde genießt absoluten Vorrang, soweit nicht qualifizierende Umstände eine Würdeverletzung ausschließen. Damit ist, wie Böckenförde richtig gesehen hat, kein Verzicht auf relativierende Abwägung verbunden, die lediglich in den Tatbestand hineinverlagert wird, als Abwägung, die sich den Anschein der Subsumtion gibt.

Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht selbst von Anfang an Zurückhaltung gegenüber einer Verabsolutierung des Würdeschutzes erkennen lassen. Die zweite Abtreibungsentscheidung stellt (gemeinsam mit der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz, BVerfGE 115, 118) eher eine Ausnahme dar, wenn sie ihre Begründung der staatlichen Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen menschlichen Lebens zentral auf die  Menschenwürde stützt und darum in sinngemäßem Anschluss an das Instrumentalisierungsverbot der Objektformel formuliert: „würde … die Verfügung über das Lebensrecht des nasciturus … der freien, rechtlich nicht gebundenen Entscheidung eines Dritten … überantwortet, wäre rechtlicher Schutz des Lebens … nicht mehr gewährleistet“ (BVerfGE 88, 203 (255)).

In der Abhörentscheidung aus dem Jahr 1970 war demgegenüber eine gewisse Distanz zur „Objektformel“ deutlich geworden: „Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht aus seine Interessen sich fügen muß“. Erst eine „`verächtliche Behandlung´“, die etwa anzunehmen sei, wenn die Subjektqualität des Menschen prinzipiell in Frage gestellt werde, führe zu einer Menschenwürdeverletzung (BVerfGE 30, 1 (25 f.)). In seiner NPD-Entscheidung von 2017 hat das Bundesverfassungsgericht diese Linie eingehalten und verlangt, dass für eine Würdeverletzung „die Subjektqualität des Menschen und der daraus folgende Achtungsanspruch grundsätzlich in Frage gestellt werden“ müsse (BVerfGE 144, 20 (207, Rn. 540)). Es gibt also „große“ Würdefälle (für deren Einordnung die Verfolgungsmaßnahmen totalitärer Regime zur Not einen Anhalt bieten könnten, vgl. BVerfGE 1, 97 (104); Baldus, Kämpfe um die Menschenwürde, 2016, S. 261, 263) und es gibt „kleine“. Zugleich bleibt es Aufgabe des Interpreten die einen von den anderen zu sondern. Damit werden aber nicht nur der Entscheidung von Randfällen im Ergebnis größere Spielräume eröffnet. Bereits die Entscheidung, ob nun ein „großer“ oder doch „kleinerer“ Fall gegeben ist, wird letztlich eine wertende Abwägung verlangen.

Dass schließlich mittlerweile die Herdegen‘sche Differenzierung zwischen Begriffskern und Begriffshof (oder Peripherie) der Würde in der (Kammer-)Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angekommen ist, bestätigt diese These von der Abwägungsaffinität und die Haltung des Gerichts, das sich auch beim Schutz der Menschenwürde nicht gern auf durch Subsumtion eineindeutig feststellbare Verletzungstatbestände festlegen lässt (BVerfG NVwZ 2016, 1804 Rn. 55 ff.: die Errichtung einer Krypta in einem Industriegebiet betrifft zwar in Gestalt von Totenruhe und postmortalem Persönlichkeitsschutz die Menschenwürde, ist aber ein Randfall, so dass das mutmaßliche Einverständnis der Verstorbenen berücksichtigt werden kann.)

V. Die Fragwürdigkeit der Kontinuitätsthese als Basis des Embryonenschutzes

So fragt sich am Ende, wo der Embryonenschutz zu verorten ist. Nach der Kontinuitätsthese (wie sie Ernst-Wolfgang Böckenförde in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat) entwickelt sich der Mensch vom Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an als Mensch, damit unter dem Schutz des absoluten Prinzips der Menschenwürde, das keinerlei fremde Verfügung über seine Daseinsberechtigung duldet. Wie verträgt sich dieser absolute Ausschluss von Fremdverfügung aber mit dem Umstand, dass es doch zweifelsohne andere sind, namentlich die Eltern, die über die Geburt eines Kindes ohne dessen vorherige Einwilligung und damit ganz ihrer eigenen Willkür gemäß entscheiden? Auch Immanuel Kant hatte keine Antwort, vermerkte nur, dass wir uns von einem Vorgang, mit dem ein genuin freies Wesen, also „eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht“ wird, schlichtweg keinen Begriff machen können (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 28). Zur strengen These von der bereits mit der Befruchtung absolut unverfügbaren Existenz des Menschen steht jedenfalls die allseits akzeptierte Befugnis der Eltern, über die Existenz eines Kindes nach eigenem Gutdünken zu befinden, indem sie es ohne seine Zustimmung „in die Welt herüber“ bringen, in merkwürdigem Gegensatz. Vielleicht birgt die europäische Rechtstradition, die in das Zeitalter der französischen Revolution und der Aufklärung zurückreicht, in dem juristisch der Mensch als Subjekt eines „Rechts auf Rechte“ (Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 428, 501 f.), damit eines Existenzrechts um seiner selbst willen entdeckt wurde, doch eine höhere Vernunft: dass diese eigene Rechtsfähigkeit des Menschen eben erst mit dem Abschluss der Geburt beginnt (§ 1 BGB). Für den Schutz des Menschen im Vorfeld dieses Zeitpunkts sprechen sehr gute Gründe, unmittelbar aus seiner Rechtsfähigkeit folgen diese nicht.