Die Zugangsrevolution steht noch immer aus
Die Pandemie hat der Diskussion um „Open Science“ und „Open Access“ zu einem unverhofften Höhenflug verholfen, der aber ebenso schnell wieder enden wird. Mit dem Ziel, den Erkenntnisgewinn im Rennen gegen das Virus maximal zu beschleunigen, stellten Forscher:innen aus der ganzen Welt ihre Daten und Erkenntnisse im Internet offen zur Verfügung; zahlreiche freie Online-Datenbanken wie „OpenAIRE for COVID19“ oder „COVID-19: Response from the Information Community“ entstanden. Um Hindernisse rechtlicher Natur (wie geistiges Eigentum) zu beseitigen, wurde kurzerhand die „Open COVID License“ ins Leben gerufen. Innerhalb kürzester Zeit konnten Therapien und Impfstoffe gegen das Virus entwickelt werden – dank einer beispiellosen Zusammenarbeit von Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt, ermöglicht durch die globale Vernetzung durch das Internet und offene Forschungspraktiken nach den Grundsätzen von Open Science. „While states have closed their borders in response to the coronavirus outbreak, science has opened up in a unique way“, schrieb ein Blog für „Open Science“. Die Pandemie scheint damit eines der zentralen Argumente für mehr Offenheit in der Forschung direkt zu belegen: Der freie Zugang zu wissenschaftlicher Information über das Internet treibt den Erkenntnisgewinn voran, und zwar massiv.
Die Wissenschaft hat in der Pandemie also gewissermaßen das enorme Potential wiederentdeckt, das im Medium Internet für die Forschung steckt. Trotzdem wäre es naiv zu glauben, dass Corona nun die große „Zugangsrevolution“ bringt und das wissenschaftliche Publikationssystem nun offener und gerechter wird. Zwar hat die Pandemie kurzfristig andere Anreize gesetzt; die eine oder andere Praxis wird sich vielleicht auch durchsetzen. An der Grundlogik aber hat sie nichts geändert, wie ich im Folgenden aufzeigen möchte. Auch wenn einige Ausführungen generellerer Natur sind, liegt der Fokus dabei auf der Frage des freien Zugangs zu wissenschaftlicher Literatur (Open Access; im Folgenden OA). Die weitergehende Frage offener Forschungsprozesse (Open Science) spielt in der Rechtswissenschaft, meiner eigenen Disziplin – zumindest bislang – noch kaum eine Rolle.
Das Internet als Chance für Erkenntnisgewinn
In seinen Anfangsjahren galt das Internet als enorme Chance für die Wissenschaft. Dies hängt mit der Natur der Wissenschaft als gemeinschaftliche Tätigkeit zusammen, die von Austausch und Kommunikation über alle Grenzen hinweg lebt. Dies zeigt sich exemplarisch in den Naturwissenschaften, wo neue Erkenntnisse auf früheren Erkenntnissen aufbauen, diese weiterentwickeln oder widerlegen. Je einfacher und niederschwelliger der Zugang zu den Erkenntnissen, desto schneller der Erkenntnisgewinn, so die Überlegung. In den Geisteswissenschaften, zu denen die Rechtswissenschaft gehört, geht es demgegenüber eher um den erleichterten Austausch von Ideen und Meinungen.
Für den wissenschaftlichen Austausch schien das Internet gänzlich neue Möglichkeiten zu eröffnen: Es verspricht Zugang zu wissenschaftlichem Wissen von überall auf der Welt für jede und jeden mit einem Internetanschluss. Dieser frühe Enthusiasmus lässt sich ganz deutlich in der „Budapest Open Access Initiative“ aus dem Jahr 2002 ablesen, die davon spricht, dass eine alte Tradition und eine neue Technologie zusammengekommen seien, „um ein noch nie dagewesenes öffentliches Gut zu ermöglichen.“ Die „Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen“ vom 22. Oktober 2003 sagte voraus, dass das Internet die Art der Verbreitung wissenschaftlichen Wissens fundamental verändern werde.
„For the first time ever, the Internet now offers the chance to constitute a global and interactive representation of human knowledge, including cultural heritage and the guarantee of worldwide access.“
Angetrieben von den überzogenen Preisen für wissenschaftliche Zeitschriften, die viele öffentliche Budgets überstiegen, aber auch angespornt vom Versprechen einer offeneren, demokratischeren, ja gerechteren Wissenschaft, formierte sich die OA-Bewegung. Diese fordert im Kern, wissenschaftliches Wissen – zumindest öffentlich finanziertes – über das Internet dauerhaft kostenlos verfügbar (und je nach Definition nachnutzbar) zu machen.
Die Budapest Open Access Initiative definiert OA so:
„By ‚open access‘ to this literature, we mean its free availability on the public internet, permitting any users to read, download, copy, distribute, print, search, or link to the full texts of these articles, crawl them for indexing, pass them as data to software, or use them for any other lawful purpose, without financial, legal, or technical barriers other than those inseparable from gaining access to the internet itself. The only constraint on reproduction and distribution, and the only role for copyright in this domain, should be to give authors control over the integrity of their work and the right to be properly acknowledged and cited.“
Unterstützung erhält die OA-Bewegung inzwischen auch von internationalen Akteuren. Die UNESCO arbeitet zurzeit an einer Empfehlung für Open Science. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hielt in einer Allgemeinen Erklärung letztes Jahr fest: Das Recht nach Art. 15 (1)(b) des Sozialpakts, an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendung teilzuhaben, verlange grundsätzlich von Staaten, „eine offene Wissenschaft und die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen nach dem Prinzip des freien Zugangs“ zu fördern (Rn. 16). Die Gründe dafür sind zum einen, dass Zugang zu Wissen für breite Teile der Bevölkerung in der Demokratie essentiell ist, gerade in Zeiten von „Fake News“ (Stichtwort „citizen science“; Rn. 24); zum anderen sieht aber auch der Ausschuss einen direkten Zusammenhang zwischen Zugänglichkeit und Erkenntnisgewinn und verweist neben der Corona-Krise auf den Klimawandel (Rn. 81).
Die Pandemie als (Tür-)Öffnerin
Doch die vielbeschworene „access revolution“ blieb bislang aus. Die OA-Transformation dümpelte trotz großangelegter Initiativen wie dem „PlanS“ oder der EU-Förderung durch Horizon2020 (inzwischen Horizon Europe) und zunehmendem Druck auch aus der Wissenschaft Jahre vor sich hin. Zu stark vorgespurt schienen die Pfade, zu groß die Anreize, Altbewährtem treu zu bleiben. Dies gilt ganz besonders in der Rechtswissenschaft, wie eine Studie jüngst wieder einmal belegte. Während bekannt ist, dass die Akzeptanz von OA stark nach wissenschaftlichen Disziplinen variiert, versucht diese Studie die Unterschiede systematisch herauszuarbeiten und den Gründen auf die Spur zu gehen. Sie kommt zum Schluss, dass in einigen Disziplinen OA die „natürliche Fortsetzung“ der Publikationskultur sei; in anderen brauche es jedoch tiefergehende Änderungen. Dazu gehört die Rechtswissenschaft.
Die Pandemie verlieh Diskussionen um Open Science und OA nun also neuen Schwung. Auch jenseits von Forschung zum Virus führte sie zu einer Öffnung: Nachdem Universitäten und Bibliotheken schließen mussten, zogen zahlreiche Verlage und Datenbankanbieter nach, um Menschen im „Home Office“ Zugang zu Fachliteratur zu ermöglichen (einen Überblick gibt es hier; siehe auch hier). Plötzlich ließen sich viele wissenschaftliche Artikel und teils sogar Monographien ganz bequem von zu Hause lesen und herunterladen. Auch in Ländern wie Deutschland ist das eine große Novelle: Zugang zu der neuesten Forschungsliteratur ist keine Selbstverständlichkeit und nicht alle Universitäten und Bibliotheken können sich ihn leisten. Noch größer wird der Unterschied, wenn wir über die Landesgrenzen oder sogar auf andere Kontinente blicken. Eine (bereits etwas ältere, aber sicherlich nicht veraltete) Studie zeigt auf, dass die Universität Harvard 2008 fast 100‘000 Zeitschriften abonniert hatte; an der am besten ausgestatteten Uni in Indien waren es nur knapp 11‘000, und viele afrikanische Universitäten haben nur Zugang zu gespendeten Zeitschriften. Dies verdeutlicht, dass der viel beklagte „knowledge gap“ ganz direkt mit den finanziellen Möglichkeiten des nationalen Wissenschaftssystems zusammenhängt. Die freie Verfügbarkeit von wissenschaftlicher Information über das Internet verspricht hier Abhilfe zu schaffen.
Nur ein temporäres Phänomen
Doch wer geglaubt hatte, dass die Pandemie die „Paywalls“ endgültig zu Fall bringen und die Zugangsrevolution doch noch vollenden würde, hat sich getäuscht – und das war eigentlich von Anfang an klar (siehe etwa schon früh Samuel Moore). Zum einen bleibt das frei verfügbare Angebot sehr lückenhaft; es handelt sich um ausgewählte Verlage und das Angebot blieb auf einen Teil der Inhalte beschränkt. Die Geste der Verlage während der Pandemie bleibt also ein Tropfen auf den heißen Stein. Ältere Bestände sind zu einem großen Teil nicht digitalisiert; aber auch bei jüngerer Literatur ist zumeist neben dem physischen Werk zusätzlich eine E-Lizenz für die digitale Version erforderlich, die oft erst angeschafft werden müsste – was die Etats vieler Bibliotheken übersteigt. Dies macht sich auch für privilegierte Forschende wie mich bemerkbar: Am Max-Planck-Institut ist einiges, aber bei Weitem nicht alles digital verfügbar. Dies gilt insbesondere für Bücher, die in der Rechtswissenschaft bis heute eine große Rolle spielen, aber in der weltweiten OA-Debatte bis heute etwas vernachlässigt werden. Zeitschriftenartikel sind demgegenüber inzwischen zu großen Teilen online verfügbar, und zwar auch aus älteren Jahrgängen. Bei jüngerer Literatur spielen (nicht frei zugängliche, aber über die Bibliothek verfügbare) E-Books zwar eine zunehmende Rolle und wurden in der Pandemiezeig vermehrt angeschafft; Standard ist aber immer noch das physische Bibliotheksexemplar. Hier sind wir also noch nicht ganz im digitalen Zeitalter angekommen. Dies gilt umso mehr für bereits ein paar Jahre alte Bücher, die für seriöse Forschung selbstverständlich relevant bleiben. Um auch im „Home Office“ nicht abgeschnitten zu sein von Literatur, unternimmt unsere Bibliothek enorme Anstrengungen und scannt Kapitel im äußersten Fall für den Individualgebrauch manuell ein. Zudem gelten gelockerte Bestimmungen zur physischen Ausleihe von Büchern im Home Office. Wie es aber Forschenden an anderen Institutionen ergehen mag? Oder solchen, die an gar keiner Institution angebunden sind?
Ohnehin ist die momentane Aufhebung der Bezahlschranke lediglich eine temporäre Angelegenheit (siehe dazu hier). Nicht ohne Grund ist die dauerhafte ungehinderte Zugänglichkeit Teil der gängigen OA-Definitionen. Nach der Pandemie wird es vielen Forschenden und Interessierten also wieder gehen wie vor der Pandemie: Sie bleiben darauf angewiesen, dass Universitäten und Bibliotheken ihnen Zugang zu Fachliteratur bereitstellen.
Noch wichtiger ist, dass nichts darauf hindeutet, dass die Pandemie das wissenschaftliche Publikationswesen fundamental verändert hätte. Wie auch hätte sie das gekonnt? Während die Pandemie kurzfristig andere Anreize setzte, ist es heute eine Realität, dass das Publikationssystem von einer Handvoll mächtiger kommerzieller Großverlage dominiert wird. Regelmäßig ist gar von einem Oligopol die Rede (dies gilt gerade auch für die „social sciences“; siehe hier). Längst ist auch OA zu einem neuen „Business Modell“ geworden. Statt für Zugang zu Zeitschriften wird im sogenannten „Gold Open Access“ heute dafür gezahlt zu publizieren – und dies zu teilweise horrenden Preisen. Damit hat sich die Kostenproblematik letztlich nur verlagert. Und auch das Problem hat sich dadurch nur verlagert: Im „Gold Open Access“ werden zwar keine Leser:innen ausgeschlossen, dafür aber Autor:innen, die sich die Publikationsgebühren nicht leisten können (siehe als Reaktion die Initiative „Fair Open Access“). Zugang in der Wissenschaft kann aber nicht nur Zugang zu einem Endprodukt bedeuten. Er muss auch den Zugang zu den Orten beinhalten, wo das Wissen produziert wird. Das Problem spitzt sich dadurch noch zu, dass dieses Modell von allen OA-Modellen das beliebteste und erfolgreichste ist (siehe hier). Statt Zugang zu erleichtern und Gräben zu überwinden, scheint OA zunehmend den altbekannten Dynamiken zu folgen.
Doch damit nicht genug: Längst wurde bekannt, dass auch die wissenschaftlichen Großverlage Tools zur Überwachung des Informationsverhaltens ihrer Nutzer:innen verwenden. Ziel sind nicht nur zusätzliche Erlöse, sondern der weitere Ausbau der eigenen Marktmacht sowie die Einverleibung „immer weiterer Bereiche des Forschungszyklus“, wie es eine Gruppe von Professoren in der FAZ bezeichneten. Mit anderen Worten: OA bricht das Monopol der Großverlage nicht; vielmehr trägt es sogar noch zu seiner Stärkung und dem zunehmenden Einfluss privater und gewinnorientierter Akteure in der Wissenschaft bei.
Eine gerechte Publikationskultur verlangt gerechte Rahmenbedingungen
Dies führt zu der etwas absurden Situation, dass Wissenschaftler:innen zwar einerseits nach mehr Zugang rufen und das bestehende System und die Übermachtstellung von Großverlagen zunehmend anprangern. Zuweilen gehen sie sogar auf die Barrikaden, wie ein breit angelegter Boykott des Verlags Elsevier zeigt. Trotzdem sind es auch, und vor allem, wir Wissenschafter:innen, die durch unsere Publikationspräferenzen das problematische System weiter füttern.
Doch es wäre falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass alleine die Wissenschaftler:innen den Wandel hin zu einem gerechteren Publikationssystem in der Hand haben. So wird es oft dargestellt, auch innerhalb der OA-Community. Diese Sichtweise blendet aber aus, dass die bestehenden Dynamiken viel mit den Bedingungen zu tun haben, die den Wissenschaftler:innen auferlegt werden – in der Rechtswissenschaft wie anderswo. Zum einen sind es Universitäten und Hochschulorganisatoren selbst, welche OA-Deals mit Großverlagen abschließen. Das Projekt DEAL in Deutschland wird genau dafür kritisiert, dass es Großverlage stärkt (siehe etwa hier).
Dazu kommt das bestehende Anreizsystem in der Wissenschaft. Messbare Faktoren wie „impact“ und „output“ spielen eine zunehmend wichtige Rolle für das berufliche Weiterkommen, etwa im Rahmen von Berufungsverfahren (siehe dazu kritisch hier). Kein Wunder also, dass Wissenschaftler:innen bei den renommiertesten Journals publizieren wollen – die in der Regel in den Händen von Großverlagen sind. In Deutschland spiegelt sich der Produktivitäts- und Wettbewerbsgedanke etwa in der „Exzellenzinitaitive“ und der W-Professur wider, mit welcher ein System eingeführt wurde, das Leistung und messbaren Output durch finanzielle Zuschüsse direkt belohnt. Längst wurde die Frage aufgeworfen, ob dies mit der Wissenschaftsfreiheit vereinbar ist (siehe etwa hier). Die Entwicklung ist umso bedenklicher, als dass belegt ist, dass der Fokus auf Quantität nicht nur die Ungleichheiten in der Wissenschaft verstärkt, sondern zugleich falsche Anreize für Forschung setzt und damit sogar den Erkenntnisgewinn behindert.
Vieles spricht dafür, dass das Konzept „Open Access“ heillos überfrachtet wird und ihm Dinge abverlangt werden, die es unmöglich leisten kann. Daran kann auch die Pandemie nichts ändern. Eine gerechte Publikationskultur kann nur unter gerechten Rahmenbedingungen entstehen. Aber auch wenn die Pandemie die von vielen ersehnte Zugangsrevolution nicht gebracht hat, so ist sie doch immerhin ein Anlass, die Rahmenbedingungen im wissenschaftlichen Publikationssystem einmal mehr zu hinterfragen – und Probleme endlich anzugehen, und zwar auch rechtlich. Gegen Oligopole gibt es wettbewerbsrechtliche Mittel; dazu kommen im Internetzeitalter Plattformgesetze wie das in der EU geplante. Und auch die rechtlichen Rahmenbedingungen des Wissenschaftssystems sind nicht in Stein gemeißelt. Wie stark diese rechtlichen Rahmenbedingungen bewegen, zeigt sich gerade eindrücklich an der heftigen Twitter-Diskussion unter dem Hashtag #IchbinHanna, unter welchem tausende von jungen Wissenschaftler:innen insbesondere die Befristungspraxis unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz und den Mangel an Dauerstellen anprangern. Inzwischen hat das Bildungsministerium für Bildung und Forschung reagiert. Vielleicht also sind auch hier Veränderungen gar nicht so unmöglich, wie es uns noch vor der Pandemie erschien.