Dieter Grimm zum 75. Geburtstag
Von OLIVER LEPSIUS
Dieter Grimm feiert heute seinen 75. Geburtstag. Dazu gratuliert der Verfassungsblog auf das Herzlichste! Mit großer Anerkennung und Respekt blicken wir auf ein eindrucksvolles Leben im Dienste des Verfassungsrechts, der Grundlagen des Rechts, für die internationalen wie interdisziplinären Beziehungen des Rechts, für die Institutionenordnung des Grundgesetzes und das Gemeinwohl – und nicht zuletzt auf ein Leben für die Wissenschaft.
Wem muss man Dieter Grimm vorstellen? Schon Jurastudenten im 2. Semester kennen sein berühmtes Sondervotum zu der jeden Juristen interessierenden Frage, ob das „Reiten im Walde“ zum Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gehört (BVerfGE 80, 137). Der Vollständigkeit halber seien wichtige Lebensdaten gleichwohl berichtet.
Dieter Grimm wurde 1937 in Kassel geboren, studierte Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft in Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Berlin (West) sowie Paris. Er erwarb dann einen LL.M. an der Havard Law School und wurde nach dem 2. Staatsexamen 1967 wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt. Nach seiner Habilitation für deutsches und ausländisches Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte der Neuzeit und Rechtstheorie wurde Dieter Grimm Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, der er 20 Jahre treu blieb, zeitweise auch als Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung, einer wunderbaren Einrichtung an den Hängen des Teutoburger Waldes.
1987 wurde Grimm zum Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Er übernahm dort von Konrad Hesse vor allem die Zuständigkeit für die Meinungs- und Rundfunkfreiheit; das Dezernat umfasste auch die Versammlungsfreiheit. In seine Zeit in Karlsruhe fielen viele grundlegende Entscheidungen zu den Grundrechten, etwa der Meinungsfreiheit („Soldaten sind Mörder“), Versammlungsfreiheit („Sitzblockade“), Pressefreiheit („Caroline von Monaco“) und nicht zuletzt der Rundfunkfreiheit. Dort hat Grimm die Pluralismusanforderungen bei der Programmgestaltung und Organisation des privaten Rundfunks hoch gehalten – eine damals nicht unumstrittene Rechtsprechung, für die wir nach der Erfahrung von Murdock und Berlusconi dankbar sind. Auch war er mitverantwortlich für mutige Entscheidungen, die seinerzeit auf mitunter heftige Kritik gestoßen sind. Dazu gehört etwa die Bürgschaftsentscheidung 1993 gegen die viele Zivilrechtler Sturm liefen, oder auch der Kruzifix-Beschluss 1995. Grimm darf sich sogar die Ehre anrechnen, dass der Bayerische Ministerpräsident am Münchener Odeonsplatz eine Demonstration gegen Urteile des Bundesverfassungsgerichts anführte, die auch seine Handschrift trugen.
1999, nach seinem Ausscheiden aus dem Gericht, verlagerte Herr Grimm seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin. Er wirkte als Professor an der Humboldt-Universität und wurde 2001 zum Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin gewählt, ein Amt das er bis 2007 inne hatte. Zudem war er regelmäßig Gastprofessor an der New York University Law School der University of Toronto (die ihm auch einen Ehrendoktor verlieh), sowie der Yale Law School. Nach New Haven führte ihn immer wieder ein gemeinsames Seminar von Verfassungsrichtern verschiedener Länder, aus dem sich langjährige Kontakte und persönliche Freundschaften entwickelten. In diesem Kreise konnte Dieter Grimm viel für die Weltgeltung des deutschen Verfassungsrechts tun: Es darf vermutet werden, dass etwa die opinions von Justice Stephen Breyer zum proportionality principle im amerikanischen Verfassungsrecht ihren gedanklichen Ursprung in diesem Kreis hatten, wie so mancher Verfassungsrichter in der Welt den verfassungsvergleichenden und verfassungstheoretischen Fundus Dieter Grimms angezapft haben dürfte. Die heutige Weltgeltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verdankt sich sicherlich zu einem guten Teil dem hintergründigen Wirken Dieter Grimms.
Amerika ist ihm zu einer zweiten akademischen Heimat geworden. In seinem wissenschaftlichen Werk ist Grimm mehr als andere Staatsrechtslehrer der Idee des Pluralismus verbunden. Dieser ist im deutschen Staatsrecht nicht jedermanns Sache. Er steht nicht in einer französischen Tradition der volonté générale oder einer deutschen Tradition der Sehnsucht nach im Staat verkörperter Einheit, die Pluralismus tendenziell als etwas Bedrohliches empfunden hat. Der Pluralismus wird von ihm als gesellschaftliche Voraussetzung des Rechts verteidigt, und das Recht erhält einen normativen Auftrag zur Sicherung des Pluralismus gegenüber politischen Kräften wie gegenüber gesellschaftlich-wirtschaftlicher Macht. Nicht ohne Grund beginnt sein Buch „Deutsche Verfassungsgeschichte“ mit dem Jahr 1776 – und nicht mit Napoleon oder gar Bismarck.
Das Modell ist der westliche Verfassungsstaat, und die verfassungshistorischen Verirrungen des 19. Jahrhunderts – unter denen wir bis heute pfadabhängig leiden – stören bei Grimm nicht einen Weg, der seit 1776 vorgezeichnet ist und 1949 in Erfüllung ging.
Bereits in seinen frühen Publikationen propagierte Grimm eine stärkere Hinwendung zu den Sozialwissenschaften. Sozialwissenschaften sind dabei weit gefasst. Sie umfassen zuerst die Politikwissenschaft: Schon der erste Aufsatz unseres Jubilars in der Juristenzeitung 1965 trug den Titel „Politikwissenschaft als normative Wissenschaft“. Erwähnt sei auch sein Beitrag über „Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft“ in dem von ihm herausgegebenen Band „Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften“. Hinzu tritt sodann die Geschichte. Grimm verdanken wir sowohl grundlegende Abhandlungen über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Geschichte wie auch scharfsinnige Verfassungs- und sozialgeschichtliche Analysen (Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987). Wohl erst an dritter Stelle folgt die Soziologie, verkörpert durch Buchtitel wie „Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts“ (1990) oder „Staatsaufgaben“ (1994). In dieser späten Hinwendung zur Soziologie zeigt sich wohl auch eine Prägung durch Grimms Wirkungsstätte Bielefeld, der Heimat der Systemtheorie, im Unterschied zu seinem Herkunftsort Frankfurt am Main, dessen intellektuelles Milieu damals eher durch die politischere Diskurstheorie geprägt war. Die Systemtheorie hat Grimm wohlwollend begleitet ohne sich ihr zu verschreiben. Sie hilft ihm bei der Diagnose gesellschaftlicher Entwicklungen und leitet doch nicht seine juristischen Überzeugungen oder Schlussfolgerungen an. Welche Sozialwissenschaften fehlen in seinem Oeuvre? Vielleicht die Wirtschaftswissenschaften, vielleicht auch die Psychologie, denn auch deren Rolle ist hintergründig in seinen medienrechtlichen Urteilen spürbar.
Dieter Grimm thematisiert daher wie kaum ein anderer das Zusammenspiel von Recht und Nachbarwissenschaften. Dabei unterscheidet er sich von vielen anderen Rechtswissenschaftlern, die ähnliche Ziele verfolgen. Die meisten haben eine Referenzwissenschaft: etwa die systemtheoretisch geprägte Soziologie oder die gleichgewichtsorientierte Ökonomie. Für Grimm kann man die Konzentration auf eine Sozialwissenschaft hingegen nicht feststellen. Und trotz seines interdisziplinären Interesses ist er außerdem stets Jurist geblieben.
Die Aufgaben des Rechts und die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit sind Themen, die sich durch das wissenschaftliche Werk von Dieter Grimm ziehen. Die Reflektion über Recht bedarf einer Distanz des Juristen zu seinem Gegenstand. Wer nur dogmatisch arbeitet, vermag wohl keine Maßstäbe für die Aufgaben und Grenzen des Rechts zu gewinnen. Diese Distanz verschafft sich Dieter Grimm mit Hilfe der Nachbarwissenschaften. Seine Probleme und Fragestellungen sind juristische und keine sozialen. Es geht ums Recht, nicht um die Gesellschaft. Vor allem hat Grimm nie den Vorrang der Verfassung aufgegeben, weder gegenüber den Sozialwissenschaften noch gegenüber dem Privatrecht.
Dies wird beispielsweise deutlich beim Umgang mit dem Begriff der Verfassungswirklichkeit – einer Kategorie, über die gerne außerjuristische Verfassungserwartungen mit sozial verpflichtender Kraft aufgeladen werden. In seinem einflussreichen Artikel über die Verfassung im Staatslexikon formuliert Grimm: Die Verfassung bildet nicht die soziale Wirklichkeit ab, sondern richtet Erwartungen an sie, deren Erfüllung nicht Selbstwert ist und eben deswegen rechtlicher Stützung bedarf. Die Verfassung bezieht also Distanz zur Wirklichkeit und gewinnt daraus erst das Vermögen, als Verhaltens- und Beurteilungsmaßstab für Politik zu dienen. Hier vernehmen wir deutlich jene Distanz, die es uns erst ermöglicht über die Aufgaben und Grenzen des Rechts nachzudenken (dazu Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991; Die Verfassung und die Politik, 2001). Diese Distanz herzustellen ist eine juristische Aufgabe, gerade wenn es darum geht, die historischen, politischen, sozialen oder ökonomischen Einflüsse des Rechts, aber auch auf das Recht zu behandeln.
Anders gesagt: Gerade weil wir Normwissenschaftler sind, interessieren wir uns für die Fakten. Dieter Grimm liebt das Recht gerade auch, indem er Distanz zu ihm gewinnt. Mögen wir noch lange teilhaben an seiner intellektuellen Offenheit, seiner interdisziplinären Neugier und seiner juristischen Weisheit. Alles Gute zum Geburtstag!
Oliver Lepsius ist Professor für Öffentliches Recht, allgemeine und vergleichende Staatslehre an der Universität Bayreuth.
Foto: Rechtskulturen / Maurice Weiss (Ostkreuz)
Von OLIVER LEPSIUS
Dieter Grimm feiert heute seinen 75. Geburtstag. Dazu gratuliert der Verfassungsblog auf das Herzlichste! Mit großer Anerkennung und Respekt blicken wir auf ein eindrucksvolles Leben im Dienste des Verfassungsrechts, der Grundlagen des Rechts, für die internationalen wie interdisziplinären Beziehungen des Rechts, für die Institutionenordnung des Grundgesetzes und das Gemeinwohl – und nicht zuletzt auf ein Leben für die Wissenschaft.
Wem muss man Dieter Grimm vorstellen? Schon Jurastudenten im 2. Semester kennen sein berühmtes Sondervotum zu der jeden Juristen interessierenden Frage, ob das „Reiten im Walde“ zum Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gehört (BVerfGE 80, 137). Der Vollständigkeit halber seien wichtige Lebensdaten gleichwohl berichtet.
Dieter Grimm wurde 1937 in Kassel geboren, studierte Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft in Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau, Berlin (West) sowie Paris. Er erwarb dann einen LL.M. an der Havard Law School und wurde nach dem 2. Staatsexamen 1967 wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt. Nach seiner Habilitation für deutsches und ausländisches Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte der Neuzeit und Rechtstheorie wurde Dieter Grimm Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, der er 20 Jahre treu blieb, zeitweise auch als Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung, einer wunderbaren Einrichtung an den Hängen des Teutoburger Waldes.
1987 wurde Grimm zum Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Er übernahm dort von Konrad Hesse vor allem die Zuständigkeit für die Meinungs- und Rundfunkfreiheit; das Dezernat umfasste auch die Versammlungsfreiheit. In seine Zeit in Karlsruhe fielen viele grundlegende Entscheidungen zu den Grundrechten, etwa der Meinungsfreiheit („Soldaten sind Mörder“), Versammlungsfreiheit („Sitzblockade“), Pressefreiheit („Caroline von Monaco“) und nicht zuletzt der Rundfunkfreiheit. Dort hat Grimm die Pluralismusanforderungen bei der Programmgestaltung und Organisation des privaten Rundfunks hoch gehalten – eine damals nicht unumstrittene Rechtsprechung, für die wir nach der Erfahrung von Murdock und Berlusconi dankbar sind. Auch war er mitverantwortlich für mutige Entscheidungen, die seinerzeit auf mitunter heftige Kritik gestoßen sind. Dazu gehört etwa die Bürgschaftsentscheidung 1993 gegen die viele Zivilrechtler Sturm liefen, oder auch der Kruzifix-Beschluss 1995. Grimm darf sich sogar die Ehre anrechnen, dass der Bayerische Ministerpräsident am Münchener Odeonsplatz eine Demonstration gegen Urteile des Bundesverfassungsgerichts anführte, die auch seine Handschrift trugen.
1999, nach seinem Ausscheiden aus dem Gericht, verlagerte Herr Grimm seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin. Er wirkte als Professor an der Humboldt-Universität und wurde 2001 zum Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin gewählt, ein Amt das er bis 2007 inne hatte. Zudem war er regelmäßig Gastprofessor an der New York University Law School der University of Toronto (die ihm auch einen Ehrendoktor verlieh), sowie der Yale Law School. Nach New Haven führte ihn immer wieder ein gemeinsames Seminar von Verfassungsrichtern verschiedener Länder, aus dem sich langjährige Kontakte und persönliche Freundschaften entwickelten. In diesem Kreise konnte Dieter Grimm viel für die Weltgeltung des deutschen Verfassungsrechts tun: Es darf vermutet werden, dass etwa die opinions von Justice Stephen Breyer zum proportionality principle im amerikanischen Verfassungsrecht ihren gedanklichen Ursprung in diesem Kreis hatten, wie so mancher Verfassungsrichter in der Welt den verfassungsvergleichenden und verfassungstheoretischen Fundus Dieter Grimms angezapft haben dürfte. Die heutige Weltgeltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verdankt sich sicherlich zu einem guten Teil dem hintergründigen Wirken Dieter Grimms.
Amerika ist ihm zu einer zweiten akademischen Heimat geworden. In seinem wissenschaftlichen Werk ist Grimm mehr als andere Staatsrechtslehrer der Idee des Pluralismus verbunden. Dieser ist im deutschen Staatsrecht nicht jedermanns Sache. Er steht nicht in einer französischen Tradition der volonté générale oder einer deutschen Tradition der Sehnsucht nach im Staat verkörperter Einheit, die Pluralismus tendenziell als etwas Bedrohliches empfunden hat. Der Pluralismus wird von ihm als gesellschaftliche Voraussetzung des Rechts verteidigt, und das Recht erhält einen normativen Auftrag zur Sicherung des Pluralismus gegenüber politischen Kräften wie gegenüber gesellschaftlich-wirtschaftlicher Macht. Nicht ohne Grund beginnt sein Buch „Deutsche Verfassungsgeschichte“ mit dem Jahr 1776 – und nicht mit Napoleon oder gar Bismarck.
Das Modell ist der westliche Verfassungsstaat, und die verfassungshistorischen Verirrungen des 19. Jahrhunderts – unter denen wir bis heute pfadabhängig leiden – stören bei Grimm nicht einen Weg, der seit 1776 vorgezeichnet ist und 1949 in Erfüllung ging.
Bereits in seinen frühen Publikationen propagierte Grimm eine stärkere Hinwendung zu den Sozialwissenschaften. Sozialwissenschaften sind dabei weit gefasst. Sie umfassen zuerst die Politikwissenschaft: Schon der erste Aufsatz unseres Jubilars in der Juristenzeitung 1965 trug den Titel „Politikwissenschaft als normative Wissenschaft“. Erwähnt sei auch sein Beitrag über „Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft“ in dem von ihm herausgegebenen Band „Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften“. Hinzu tritt sodann die Geschichte. Grimm verdanken wir sowohl grundlegende Abhandlungen über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Geschichte wie auch scharfsinnige Verfassungs- und sozialgeschichtliche Analysen (Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987). Wohl erst an dritter Stelle folgt die Soziologie, verkörpert durch Buchtitel wie „Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts“ (1990) oder „Staatsaufgaben“ (1994). In dieser späten Hinwendung zur Soziologie zeigt sich wohl auch eine Prägung durch Grimms Wirkungsstätte Bielefeld, der Heimat der Systemtheorie, im Unterschied zu seinem Herkunftsort Frankfurt am Main, dessen intellektuelles Milieu damals eher durch die politischere Diskurstheorie geprägt war. Die Systemtheorie hat Grimm wohlwollend begleitet ohne sich ihr zu verschreiben. Sie hilft ihm bei der Diagnose gesellschaftlicher Entwicklungen und leitet doch nicht seine juristischen Überzeugungen oder Schlussfolgerungen an. Welche Sozialwissenschaften fehlen in seinem Oeuvre? Vielleicht die Wirtschaftswissenschaften, vielleicht auch die Psychologie, denn auch deren Rolle ist hintergründig in seinen medienrechtlichen Urteilen spürbar.
Dieter Grimm thematisiert daher wie kaum ein anderer das Zusammenspiel von Recht und Nachbarwissenschaften. Dabei unterscheidet er sich von vielen anderen Rechtswissenschaftlern, die ähnliche Ziele verfolgen. Die meisten haben eine Referenzwissenschaft: etwa die systemtheoretisch geprägte Soziologie oder die gleichgewichtsorientierte Ökonomie. Für Grimm kann man die Konzentration auf eine Sozialwissenschaft hingegen nicht feststellen. Und trotz seines interdisziplinären Interesses ist er außerdem stets Jurist geblieben.
Die Aufgaben des Rechts und die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit sind Themen, die sich durch das wissenschaftliche Werk von Dieter Grimm ziehen. Die Reflektion über Recht bedarf einer Distanz des Juristen zu seinem Gegenstand. Wer nur dogmatisch arbeitet, vermag wohl keine Maßstäbe für die Aufgaben und Grenzen des Rechts zu gewinnen. Diese Distanz verschafft sich Dieter Grimm mit Hilfe der Nachbarwissenschaften. Seine Probleme und Fragestellungen sind juristische und keine sozialen. Es geht ums Recht, nicht um die Gesellschaft. Vor allem hat Grimm nie den Vorrang der Verfassung aufgegeben, weder gegenüber den Sozialwissenschaften noch gegenüber dem Privatrecht.
Dies wird beispielsweise deutlich beim Umgang mit dem Begriff der Verfassungswirklichkeit – einer Kategorie, über die gerne außerjuristische Verfassungserwartungen mit sozial verpflichtender Kraft aufgeladen werden. In seinem einflussreichen Artikel über die Verfassung im Staatslexikon formuliert Grimm: Die Verfassung bildet nicht die soziale Wirklichkeit ab, sondern richtet Erwartungen an sie, deren Erfüllung nicht Selbstwert ist und eben deswegen rechtlicher Stützung bedarf. Die Verfassung bezieht also Distanz zur Wirklichkeit und gewinnt daraus erst das Vermögen, als Verhaltens- und Beurteilungsmaßstab für Politik zu dienen. Hier vernehmen wir deutlich jene Distanz, die es uns erst ermöglicht über die Aufgaben und Grenzen des Rechts nachzudenken (dazu Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991; Die Verfassung und die Politik, 2001). Diese Distanz herzustellen ist eine juristische Aufgabe, gerade wenn es darum geht, die historischen, politischen, sozialen oder ökonomischen Einflüsse des Rechts, aber auch auf das Recht zu behandeln.
Anders gesagt: Gerade weil wir Normwissenschaftler sind, interessieren wir uns für die Fakten. Dieter Grimm liebt das Recht gerade auch, indem er Distanz zu ihm gewinnt. Mögen wir noch lange teilhaben an seiner intellektuellen Offenheit, seiner interdisziplinären Neugier und seiner juristischen Weisheit. Alles Gute zum Geburtstag!
Oliver Lepsius ist Professor für Öffentliches Recht, allgemeine und vergleichende Staatslehre an der Universität Bayreuth.
Foto: Rechtskulturen / Maurice Weiss (Ostkreuz)