Dilemmata bei der Zuteilung von Beatmungsgeräten
1. Tragische Situationen entstehen, wenn mehrere Menschen in akuter Lebensgefahr sind und Retter sich zwischen Handlungsoptionen entscheiden müssen, mit denen nicht alle gerettet werden können. Während in Moralphilosophie, Strafrechtstheorie und Verfassungslehre meist hypothetische Fälle diskutiert wurden, ist wegen der Verbreitung von Covid-19 und einem Mangel an Beatmungsgeräten reales Verhalten zu beurteilen. Ein Beispiel könnte sein: Zwei Patienten werden zeitgleich in die Intensivstation gebracht; bei beiden liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit Beatmung bei über 90 %, ansonsten unter 50 %. Die zuständige Ärztin entschließt sich, Patient A (40 Jahre, keine Grunderkrankungen, Arzt in der Intensivstation des Klinikums einer anderen Stadt) gegenüber Patient B (75 Jahre, ebenfalls keine gesundheitliche Vorbelastung, guter Allgemeinzustand) zu bevorzugen; Patient B stirbt. Dilemmata dieser Art werfen unterschiedliche Fragen auf: Wie ist ex post nach strafrechtlichen Maßstäben die unterlassene Beatmung von Patient B zu beurteilen? Sollte es allgemeine Regeln geben, die ex ante Vorgaben machen, und welche Vorgaben?
2. In der strafrechtlichen Lehre (ex post-Beurteilung) würde der obige Fall als „echte Pflichtenkollision“ eingeordnet. Es ist weitgehend anerkannt, dass diejenigen, die Lebensrettungspflichten gegenüber mehreren Personen haben und nicht allen gerecht werden können, rechtmäßig handeln, wenn eine Person gerettet wird. Die Gründe für die Auswahl werden nicht geprüft. Entscheidend ist allein die faktische Unmöglichkeit, alle Rettungspflichten zu erfüllen. Danach wäre die Ärztin gerechtfertigt und nicht zu bestrafen. Die interessante, bisher kaum diskutierte Frage ist, ob sich die Beurteilung ändert, wenn allgemeine Regeln ex ante bestimmte Auswahlkriterien als unzulässig einstufen. Am 25. März 2020 haben sieben medizinische Fachgesellschaften klinisch-ethische Empfehlungen formuliert, der Deutsche Ethikrat am 27. März eine Ad-Hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“. Beide Papiere wenden sich gegen die Berücksichtigung von Lebensalter und sozialen Kriterien (wozu auch der Beruf des Patienten gehören dürfte). Könnte sich die Ärztin trotzdem auf eine Pflichtenkollision berufen, wenn einer oder beide dieser Faktoren ausschlaggebend war? Oder verlangt die Einheit der Rechtsordnung, dass ein zuvor als unzulässig markiertes Verhalten nicht mehr gerechtfertigt sein kann? Meines Erachtens ist die Annahme einer rechtfertigenden Pflichtenkollision weiterhin vertretbar, sofern Regelwerke nur Empfehlungen aussprechen. Ob dies allerdings Staatsanwaltschaften und Gerichte auch so sehen würden, ist nicht klar zu prognostizieren. Alternativ käme eine Entschuldigung in Betracht. Ein Fall des gesetzlich geregelten entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB) liegt nicht vor – dieser erfasst nur Handlungen zugunsten von Angehörigen oder persönlich nahestehenden Personen. Es bliebe die Prüfung eines übergesetzlichen Entschuldigungsgrunds, wobei, weil die Rechtsfigur umstritten ist, auch zu diesem Punkt der Ausgang eines eventuellen Strafverfahrens schwer vorherzusagen wäre.
3. Aus mehreren Gründen kann es zur Bewältigung tragischer Dilemmata nicht ausreichen, strafrechtliche Überlegungen anzustellen. Erstens sind, wie eben skizziert, die einschlägigen Regeln umstritten, und Festlegungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung kämen zu spät. Zweitens erschwert der enorme Druck, der in der Pandemie auf Medizinern und Pflegepersonal lastet, und eine sich zuspitzende, sehr schnelle Entscheidungen erfordernde Notlage ruhiges Nachdenken. Die Orientierung an vorformulierten allgemeinen Maßstäben wirkt entlastend. Drittens bewegen Priorisierungsentscheidungen im Gesundheitswesen die Öffentlichkeit in besonderem Maß. All dies spricht für die Überlegung des Deutschen Ethikrats, dass statt spontaner Priorisierung „wohlüberlegte, begründete, transparente und möglichst einheitlich angewandten Kriterien“ benötigt werden.
Wie aber sollten ex ante-Kriterien gefasst werden? Eine nahe liegende Lösung stellt auf die klinischen Erfolgsaussichten ab: Zu beatmen sind Patienten mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit und besserer Gesamtprognose. Die klinisch-ethischen Empfehlungen der Fachgesellschaften stufen klinische Erfolgsaussicht als einzig zulässiges Kriterium ein. Zu bezweifeln ist allerdings, dass damit für alle Knappheitssituationen die Auswahl vollständig vorstrukturiert werden kann. Es muss mit Fällen wie meinem Beispiel gerechnet werden, in denen der aktuelle klinische Zustand von Patienten ebenso wie ihr Allgemeinzustand und Vorerkrankungen vergleichbar sind. Wenn Überlebenswahrscheinlichkeit und Gesamtprognose keine Differenzierung erlauben, wird es unvermeidbar, nach sonstigen Kriterien zu suchen. Warum sollten solche Zusatzkriterien nicht das Lebensalter sein oder der Umstand, dass ein Patient nach Gesundung und Immunität gegen das Virus als Arzt oder Pflegekraft dringend benötigt wird?
Ein Diskussionsstrang in philosophischen Beiträgen argumentiert mit „Individualrechte gegen Utilitarismus“, s. dazu den Beitrag von Weyma Lübbe. Ein Abstellen auf längere voraussichtliche Lebenszeit wird dabei vielfach als Verweis auf soziale Nützlichkeit (mehr Jahre als Steuerzahler u.ä.) interpretiert. Damit wird jedoch das Altersargument überfrachtet. In medizinischen Notlagen wird meist die Zeit fehlen, um Prognosen zum zukünftigen Leben des Patienten und dessen Nützlichkeit für das Gemeinwesen anzustellen. Die einfachere Überlegung ist, dass das längere Leben für den wertvoll ist, der es lebt. Eindeutiger ist der Bezug zur sozialen Nützlichkeit, wenn wegen des Berufs bevorzugt wird. Die entscheidende Frage ist, welche Individualrechte des Patienten B angegriffen werden, wenn Patient A wegen seines Alters oder der Bedeutung seiner zukünftigen Berufstätigkeit an das Beatmungsgerät angeschlossen wird. Der Verweis auf Lebensrechte führt nicht weiter: Bei beiden Patienten bestehen in symmetrischer Weise Lebensrechte und Schutzpflichten der Ärzte. Aus moralphilosophischer und verfassungsrechtlicher Sicht wird an dieser Stelle auf die Menschenwürde verwiesen, so auch in der Empfehlung des Deutschen Ethikrats.
Würde aber in meinem Beispiel wirklich die Menschenwürde von Patient B missachtet? Die unterbliebene Zuweisung eines Beatmungsgeräts ist nicht mit einem Flugzeugabschuss vergleichbar, über den das BVerfG im Urteil zu Art. 14 Abs. 3 LuftSiG entschieden hat (BVerfGE 115, 118). Die expressiv-soziale Bedeutung von unterbliebener medizinischer Behandlung hängt entscheidend vom Kontext ab. Eine Missachtung von Menschenwürde würde vorliegen, wenn eine lebensrettende Behandlung aller Patienten faktisch möglich wäre, aber einem Individuum oder einer Gruppe signalisiert würde „Ihr seid den Aufwand und die Kosten nicht wert“, oder wenn die generelle, notstandsunabhängige Minderwertigkeit einer Gruppe angedeutet würde. Wenn aber bei unauflöslicher Knappheit und vergleichbaren klinischen Prognosen notgedrungen nach einem weiteren rational begründbaren Differenzierungskriterium gesucht wird, bedeutet dies nicht, dass dadurch der benachteiligte Patient „zum bloßen Objekt“ gemacht oder entwürdigt werde. Außerdem spielt eine Rolle, wer Kriterien festsetzt. Der Deutsche Ethikrat differenziert zwischen dem Staat, der keinerlei positive Differenzierungskriterien entwickeln dürfe, und zivilgesellschaftlichen Akteuren, etwa den medizinischen Fachgesellschaften, die mehr Spielraum hätten. Das ist ein überzeugender Ansatz. Allerdings geht der Ethikrat den Weg nicht konsequent zu Ende. Seine Beispiele für „unfaire Einflüsse“, die auch Fachgesellschaften ausschließen müssten (etwa: eine Berücksichtigung von Alter), entsprechen dem, was zuvor als „dem Staat verboten“ eingeordnet wurde.
Man kann über die Frage der Menschenwürdeverletzung bei den Differenzierungskriterien „Alter; krisenwichtiger Beruf“ ernsthaft diskutieren. Nichtsdestrotz gibt es gute Gründe dafür, dass medizinische Fachgesellschaften von solchen Überlegungen Abstand nehmen und sich auf das Feld der klinischen Kriterien zurückziehen. Schon die offene Diskussion darüber, welche biographischen Merkmale als Zusatzkriterien in Betracht kommen könnten, würde von sehr vielen Menschen als Affront und Tabubruch empfunden. Selbst der unter Gerechtigkeitsaspekten bedenkenswerte Vorschlag eines Losverfahrens würde Ängste auslösen, und erst recht (nicht nur) bei älteren Menschen der Vorschlag, unter bestimmten Umständen auf Lebensalter abzustellen. Empörte Stimmen würden trotz der bestehenden Unterschiede an die deutsche Geschichte und verdammenswerte Euthanasiepraktiken erinnern sowie vor einem Dammbruch warnen, wenn Lebensalter und Beruf jemals eine Rolle spielen dürften. Ein Plädoyer für etwas mehr Zurückhaltung bei der Diagnose „Missachtung der Menschenwürde“ hat besonders in der gegenwärtigen Lage keine Aussicht auf Gehör. In Zeiten der Bedrohung und persönlichen Verunsicherung wächst das Bedürfnis, sich geteilter Werte (in Deutschland: weite Auslegung von Menschenwürde) zu vergewissern. Die Empfehlungen des Deutschen Ethikrats betonen, dass in Katastrophenzeiten Staat und Gesellschaft keine Erosion der Fundamente ertragen könnten, was sicherlich eine zutreffende sozialpsychologische Beschreibung ist.
4. Wenn man die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften mit denen des Deutschen Ethikrats vergleicht, zeigt sich an einem Punkt eine Divergenz. Sie betrifft folgende Abwandlung des Beispielfalls: Patient B ist an das letzte funktionsfähige Beatmungsgerät angeschlossen, die Ärztin entfernt das Gerät, um Patient A zu beatmen.
Der Ethikrat pocht darauf, dass eine solche „Triage bei Ex-post-Konkurrenz“ anders zu beurteilen sei als eine „Triage bei Ex-ante-Konkurrenz“: Sie sei erheblich problematischer. Die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften gehen dagegen davon aus, dass die Beendigung bereits eingeleiteter intensivmedizinischer Maßnahmen nicht anders zu beurteilen sei als der Verzicht auf solche.
In der strafrechtlichen Literatur ist die Frage einer Rechtfertigung in dieser Konstellation umstritten. Teilweise wird eine phänomenologisch aktive Handlung wie das Entfernen des medizinischen Geräts als Unterlassen (Unterlassen der weiteren Behandlung) gedeutet, womit auch diese Konstellation in den Bereich der rechtfertigenden Pflichtenkollision fallen kann. Andere vertreten dagegen, dass der Abbruch einer bereits angefangenen medizinischen Behandlung zur Rettung eines anderen Patienten nicht als rechtfertigende Pflichtenkollision gewertet werden könne – dem hat sich offenbar auch der Deutsche Ethikrat angeschlossen. Die interessante Frage ist, ob eine scharfe Grenzziehung zwischen Tun (Abhängen vom Beatmungsgerät) und Unterlassen und darauf aufbauend eine radikal andere normative Bewertung überzeugt. Darüber wird in der moralphilosophischen Literatur unter den Stichworten „Doing vs. Allowing“ verhandelt. Die Ansicht, dass Eingreifen verwerflicher sei als Zulassen, wenn beides zum Tod eines Menschen führt, basiert auf verbreiteten Intuitionen. Zu hinterfragen sind allerdings die Wurzeln von Intuitionen und normativen Vorgaben wie „respektiere den Status Quo; lass den Dingen ihren Lauf; der Mensch soll nicht Schicksal spielen“ (letztere Formel ist häufig zu lesen). Solche Vorgaben sind dann sinnvoll, wenn der Gang der Dinge vom Willen Gottes oder einer anderen, die großen Zusammenhänge ordnenden Einheit getragen wird – dann ist es im Zweifel richtig, dass Menschen Schicksal zulassen und darauf verzichten, aktiv eingreifen. Ohne metaphysische Annahmen versteht sich das nicht von selbst. Der nüchterne Blick der medizinischen Fachgesellschaften, die keinen erheblichen Unterschied zwischen dem Abschalten eines Beatmungsgeräts und der von vornherein unterlassenen Beatmung sehen, ist vorzugswürdig.
Sehr geehrte Frau Hörnle,
vielen Dank für den sehr lesenswerten Beitrag, der allerdings einige Fragen bei mir aufgeworfen hat:
1. Ich finde die These ausnehmend interessant, im Falle der echten Pflichtenkollision externe Auswahlkriterien zum Maßstab der Auswahlentscheidung zu machen. Die Definition dieser Auswahlkriterien kann allerdings nicht irgendjemandem überlassen werden. Aus meiner Sicht ist ein Privater, ungeachtet der jeweiligen Expertise im jeweiligen Fachgebiet, nicht authorisiert, eine solche Ausgestaltung vorzunehmen. Dies schon zum einen, weil dadurch ein staatlicher Hoheitsakt, nämlich Strafrecht, konkretisiert würde. Dies steht nur der staatlichen Gewalt, namentlich wegen Art. 103 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber zu. Zum anderen, weil es den “Experten” an jedweder demokratischen Legitimation fehlt. Demokratische Kontrolle ist der Mechanismus, mit dem wir in unserem Rechtsstaat Entscheidungen durch alle und mit Wirkung gegen alle treffen lassen. Nun gerade die Entscheidung über das Leben und Sterben der demokratischen Kontrolle zu entziehen halte ich für fragwürdig. In diese Richtung geht auch der BGH in seinen aktuellen Entscheidungen rund um die Sterbehilfe, bei der er berufsrechtlich-ethische Vorgaben als Maßstab für die ärztlichen Handlungspflichten ausscheidet (klar, damit schon einen Prüfungsschritt zuvor).
2. Wenn aber demokratische Kontrolle nötig ist, dann stellt sich auf zweiter Ebene die Frage, ob die demokratisch legitimierte Gewalt verfassungsrechtlich nicht von de Entscheidung ausgeschlossen ist. Und da haben Sie zu Recht die Luftsicherheitsentscheidung angesprochen. Allerdings kann ich nicht unmittelbar nachvollziehen, warum sich die vorliegende Situation von dem Szenario Flugzeugabschuss unterscheiden soll. In beiden Fällen müssen Menschen sterben, damit andere Menschen leben können. Die staatliche Schutzpflicht gem. Art. 2 Abs. 2 GG greift in beiden Fällen. Unschuldig sind die Menschen auch in beiden Fällen. Einzig: In einem Fall erfolgt ein aktiven Tun (Abschießen), im anderen ein Unterlassen durch Distribution. Aber wie Sie für den vorliegenden Fall sehr schön herausgearbeitet haben, hat diese Unterscheidung kein tragendes Gewicht. In jedem Fall muss eine Entscheidung für das eine und gegen das andere Leben getroffen werden. Ich glaube nicht, dass Art. 1 Abs. 1 GG dem Staat das erlaubt.
3. Das führt zu einem Dilemma: Die einen sind nicht legitimiert, die anderen dürfen nicht. Wie diese Zwickmühle zu lösen ist, kann ich nicht überzeugend beantworten. Der einzelnen Ärztin die Entscheidung zu überlassen – und damit die Verantwortung aufzuladen – ist auch unbefriedigend.
4. Unabhängig davon sei noch ein Problem angesprochen: Sollte (allein oder gemeinsam mit anderen Kriterien) auf die Überlebenschancen abgestellt werden, so ist die Prognose, zumal bei einer so neuartigen Erkrankung wie Sars-CoV2, ex ante kaum seriös zu treffen. Auf die ex-ante-Prognose muss es aber ankommen; einen Tatvorsatz hinsichtlich einer ex-post-Erkenntnis zu bilden ist aufgrund des beschränkten menschlichen Erkenntnishorizonts unmöglich. Noch schwieriger als die Prognose selbst ist es allerdings, die ex-ante-Prognose ex post zu überprüfen. Sicherlich: Es wird Sachverständigenbeweis anhand (vorhandener oder nicht vorhandener) Befunde über die jeweiligen Patienten erhoben werden können. Die Einlassung, die Situation falsch oder fachlich schlicht anders eingeschätzt zu haben, wird sich jedoch kaum widerlegen lassen. Deshalb frage ich mich, ob durch das Abstellen auf solche Auswahlkriterien, die nicht unmittelbar harte Fakten abfragen (Alter, Geschlecht, Gewicht etc.), überhaupt Rechtssicherheit gewonnen weden kann. Umgekehrt sind die harten Fakten in der Medizin weitestgehend personenbezogen und gehen mit Diskriminierungen rund um Geschlecht und Alter einher. Darauf sind Sie im Text vollumfänglich eingegangen. Noch so ein Dilemma.
Gruß
Simon Pschorr
Die Empfehlung des Ethikrats sieht eine Abwägung der klinischen Erfolgsaussichten zwischen ALLEN Patienten vor, die auf eine Ressource angewiesen sind. In Ihrem Beispiel ist also keine Abwägung zwischen Patient A und Patient B zu treffen, sondern zwischen ALLEN Patienten, die zum Zeitpunkt der Aufnahme von A und B beatmetet werden – ggf. ist sogar die Beatmung von Patient C zugunsten von Patient A abzubrechen.
Sehr geehrte Frau Kollegin Hörnle, Sie haben wichtige Aspekte der Problematik beleuchtet. Ihrer abschließenden Bewertung kann ich indes keineswegs beipflichten: “Der nüchterne Blick der medizinischen Fachgesellschaften, die keinen erheblichen Unterschied zwischen dem Abschalten eines Beatmungsgeräts und der von vornherein unterlassnen Beatmung sehen, ist vorzugswürdig.”
Gehen wir davon aus, dass hier beide Patienten Überlebenschancen bei einer Beatmung haben, ist doch der Unterschied zwischen dem bereits an das Beatmungsgerät Angeschlossenen und dem neuen, für den kein Gerät zur Verfügung gestellt werden kann, offenkundig: Dem bereits Beatmeten ist die Behandlung, künstliche Beatmung, Rettungschance zugesagt worden; sie ist bereits im Gange; er vertraut darauf; es wäre ein Vertrauensbruch, das Begonnene wieder abzubrechen; mit welchem Recht auch? Dem Anderen wird vermittelt, dass schicksalhaft eine angemessene Behandlung mangels einsatzbereiten Beratmungsgeräts nicht gewährt werden kann.Anders könnte es nur sein, wenn die Überlebenschance des Ersten schwindet.
Mit freundlichen Grüßen
Arthur Kreuzer, Prof.em.für Kriminologie, JLU Gießen
07.04.2020
Sehr geehrte Frau Hörnle,
hinsichtlich der von Ihnen herausgearbeiteten einzigen Divergenz zwischen den Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften und denen des Deutschen Ethikrates teile ich Ihre Auffassung, dass der “nüchterne Blick der medizinischen Fachgesellschaften, die keinen erheblichen Unterschied zwischen dem Abschalten eines Beatmungsgeräts und der von vornherein unterlassenen Beatmung sehen,” vorzugswürdig ist. Ausgeklammert haben Sie jedoch einen jeder Priorisierungsentscheidung vorgelagerten Aspekt, der in der Praxis von ex ante – Konkurrenzen, insbesondere in der Notfall-Aufnahme, ausnahmslos beachtet werden muss und jedenfalls einige dieser Konkurrenzen von vornherein nicht entstehen lässt.
Vor verfassungsrechtlichen Überlegungen zur Garantie der Menschenwürde, die eine egalitäre Basisgleichheit fordert und damit einen entsprechenden basalen Diskriminierungsschutz aller statuiert (vergl.: Deutscher Ethikrat, Ad-hoc-Empfehlungen, Pkt. 3. lit. a). S. 5) und zur Bewältigung dilemmatischer Entscheidungssituationen (vergl.: Deutscher Ethikrat, a.a.O., 27.03.2020, Pkt. 3. S. 4) ist die Garantie der Menschwürde des einzelnen Corona-Erkrankten in den Bick zu nehmen. Die Garantie seiner Menschenwürde verbietet es, ihn zum (bloßen) Objekt staatlichen Handels werden zu lassen (grundlegend: Dürig in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 1, Rn. 28). Dazu würde er jedoch, wäre er (bloßes) Objekt von ihm passiv zu (er-) tragender Priorisierungsentscheidungen. Die Garantie der Menschenwürde des Corona-Erkrankten verlangt daher in einem ersten Schritt die Respektierung seiner Selbstbestimmung und erst danach, in einem zweiten Schritt ihre Beachtung bei Priorisierungsentscheidungen.
Als Ausdruck seiner Selbstbestimmung ist die Einwilligung (§ 630d Abs. 1 S. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)) des Corona-Erkrankten für dessen ärztliche Behandlung erforderlich. Ist der Corona-Erkrankte einwilligungsunfähig, ist die Einwilligung eines hierzu Berechtigten (Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigten) einzuholen, soweit nicht eine Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 S. 1 die Maßnahmen gestattet (§ 630d Abs. 1 S. 2 BGB). Kann eine Einwilligung für eine unaufschiebbare Maßnahme nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf sie ohne Einwilligung des Corona-Erkrankten nur dann durchgeführt werden, wenn sie dem mutmaßlichen Willen des Corona-Erkrankten entspricht (§ 630d Abs. 1 S. 3 BGB). Der mutmaßliche Wille des Corona-Erkrankten ist gemäß § 1901a Abs. 2 S. 1 BGB in Verbindung mit den Regelungen in § 1901b BGB festzustellen.
Erst wenn die Selbstbestimmung des Corona-Erkrankten in einem dieser Fälle zum Ausdruck kommt und damit zum ärztlichen Handeln berechtigt, kann und darf es zu Priorisierungs-Entscheidungen kommen.
(Mindestens) missverständlich ist daher die Aussage der sieben Fachgesellschaften, Patienten, die eine Intensivtherapie ablehnen, werden nicht intensiv-medizinisch behandelt (vergl.: Fachgesellschaften, Klinisch-ethischen Empfehlungen vom 25.03.2020, Pkt. 2.1 Spiegelstrich 2, S. 2). Gefolgt werden kann den Fachgesellschaften jedoch hinsichtlich deren übriger Aussagen zur Selbstbestimmung des Corona-Erkrankten als Voraussetzung für Priorisierungsentscheidungen, sowohl für die Aufnahme intensivmedizinischer Behandlung (vergl. Fachgesellschaften, a.a.O., Pkt. 3.2.1, Schritt 3, S. 5), als auch für deren Beschränkung oder Abbruch (vergl. Fachgesellschaften, a.a.O., Pkt. 3.2.2, Ergebnis 3, S. 7).
Beste Grüße aus Bielefeld,
Matthias Rose