Doch eine ’self-executing‘ Ausgangssperre
Zur Auslegung des Schrankenvorbehalts bei Eingriffen in die Freiheit der Person
Mit seinem Beschluss vom 19. November 2021 (Bundesnotbremse I) hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur die lange ersehnte Antwort auf die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gegeben. Es hat sich zugleich zu der hoch umstrittenen Frage geäußert, ob die »Bundesnotbremse« Ausgangsbeschränkungen unmittelbar durch Gesetz anordnen durfte. Obwohl die grundrechtlich geschützte Freiheit der Person mit einem speziellen Schrankenvorbehalt ausgestattet ist, der nach seinem Wortlaut nur Eingriffe aufgrund Gesetzes zulässt (Art. 2 Abs. 2 S. 2/3, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG), sieht das BVerfG in der unmittelbar wirkenden Ausgangssperre keine Verletzung jenes Schrankenvorbehalts. Die Argumente des Gerichts überzeugen nicht. Auch ein weites Verständnis von Eingriffen in die Freiheit der Person vermag an dem engen Schrankenvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG nichts zu ändern.
Das Problem
Schon im Gesetzgebungsverfahren war vorgetragen worden, dass die Ausgangssperre durch Gesetz mit dem Schrankenvorbehalt unvereinbar ist. Ich habe die Verfassungswidrigkeit der Ausgangssperre durch Gesetz hier ausführlich zu begründen versucht. Auch mehrere Verfassungsbeschwerden zur Bundesnotbremse hatten sich u.a. auf eben diesen Aspekt gestützt (vgl. Rz. 25 f., 42, 44, 46).1) In der Rechtswissenschaft waren die Stimmen dagegen geteilt. Während einige bereits einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bestritten, stufte die Mehrheit die Ausgangssperre als einen solchen Eingriff ein und hielt sie bereits aufgrund der Verletzung des Schrankenvorbehalts für verfassungswidrig.2)
Auch mehrere Eilanträge gegen die Ausgangsbeschränkung hatten das Problem aufgeworfen; zu einer Stellungnahme des BVerfG zu dieser Frage kam es allerdings nicht (Beschl. v. 05.05.2021, Rz. 11, 33 ff.).
Der Argumentationsgang des BVerfG
Umso erfreulicher ist, dass das BVerfG sich in »Bundesnotbremse I« nun ausführlich mit dem Problem auseinandersetzt. Das Gericht bejaht dabei zunächst die Frage, ob Ausgangssperren in die Freiheit der Person eingreifen. Auch wenn die Freiheit der Person typischerweise Fälle unmittelbaren körperlichen Zwangs (etwa einer Verhaftung) betreffe, sei anerkannt, dass dies kein zwingendes Erfordernis ist. Vielmehr könne »in die Fortbewegungsfreiheit auch durch allein psychisch vermittelten Zwang eingegriffen werden«, wenn eine »Zwangswirkung, die nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar ist«, vorliegt (Rz. 246).
Sodann widmet sich das BVerfG dem Schrankenvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. Der Wortlaut deute »eher auf ein zumindest auch kompetenzielles Verständnis der Schranken hin« und »könnte nahelegen, dass dem parlamentarischen Gesetzgeber Eingriffe in dieses Freiheitsrecht unmittelbar durch Gesetz nicht zugänglich sind« (Rz. 268 f.). Jedoch konstatiert das Gericht, dass der Wortlaut nicht zwingend sei; so werde er etwa bei Art. 10 Abs. 1 GG auch übergangen (Rz. 269).
Die Entstehungsgeschichte der Norm sei zwar »uneindeutig«, lasse sich aber so lesen , »dass bei der Formulierung ›auf Grund eines Gesetzes‹ der gesetzesunmittelbare wie auch der durch die Verwaltung vermittelte Eingriff als möglich erachtet wurde, aber nicht umgekehrt die Legislative von der unmittelbaren Regelung ausgeschlossen sein sollte« (Rz. 270).
In systematischer Hinsicht stellt das Gericht fest, dass Art. 104 GG ein »erkennbar auf den administrativen Vollzug freiheitsbeschränkender Maßnahmen und die hierbei zu wahrenden legislativen und judikativen Vorgaben ausgerichtetes Normprogramm zugrunde« liege (Rz. 271). Damit werde ein Freiheitsschutz durch die Zuweisung verschiedener Aspekte des Grundrechtseingriffs auf funktional verschiedene Stellen bezweckt.
Das gelte aber, so das Gericht, nur »an sich« und »grundsätzlich« – im vorliegenden Fall aber gerade nicht. Die genannten Sicherungen seien nur auf unmittelbaren körperlichen Zwang zugeschnitten. »Bei einem erweiterten Eingriffsverständnis«, das auch nicht unmittelbar körperlichen Zwang einschließe, sprächen aber teleologische Gründe dagegen, »die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen«. Im Übrigen sei weder ein »mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz« noch eine Situation, in der die weiteren Schutzmechanismen aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 2. Hs., S. 2 GG notwendig wären, gegeben (alles Rz. 272).
Argumentation voller Widersprüche
Obwohl sich das BVerfG erfreulich ausführlich mit der Frage nach der Schranke beschäftigt hat, überzeugen die Argumente nicht.
Erstens: Dass der Wortlaut nicht zwingend ist, will das BVerfG mit dem Verweis auf eine eigene frühere Entscheidung zu Art. 10 Abs. 1 GG, der einen Eingriff ebenfalls nur aufgrund Gesetzes erlaubt, veranschaulichen (Rz. 169). Allerdings wird hier durch Selbstzitation ein Argument vorgetäuscht, wo keines ist. Denn die dort zitierte Entscheidung bleibt jedes Argument zur Frage schuldig und stellt schlicht die Verfassungsmäßigkeit eines Eingriffs durch Gesetz in Art. 10 Abs. 1 GG fest (E 125, 260, 313 = hier Rz. 198). Folgt man dem dortigen Verweis, findet man ebenso wenig eine Begründung zur aufgeworfenen Frage (E 85, 385, 396 ff. = hier Rz. 45 ff.). Die Ausführungen beißen sich im Übrigen mit der Feststellung wenige Sätze später, es fehle »an einem System der verschiedenen Schrankenregelungen in dem Sinne, dass Gehalt und Wirkungen des Verfassungstextes bei gleicher sprachlicher Fassung jeweils gleich zu verstehen wären und umgekehrt« (Rz. 270). Warum dann der Verweis auf das Übergehen des Wortlauts in Art. 10 Abs. 1 GG?
Zweitens ist unverständlich, weshalb das erweiterte Eingriffsverständnis notwendig »Konsequenzen« für den Schrankenvorbehalt haben muss. Es bleibt zunächst unklar, weshalb aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber »unmittelbar« durch das erweiterte Eingriffsverständnis an das Grundrecht der Freiheit der Person gebunden ist, gefolgert wird, er müsse »umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können« (Rz. 272). Der Gesetzgeber ist ohnehin kraft der Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an das Grundrecht der Freiheit der Person gebunden. Dies wirkt sich dahingehend aus, dass der Gesetzgeber schon bei der Schaffung eines Gesetzes, das der Exekutive einen Eingriff erlaubt, an das Grundrecht gebunden ist – wie das Gericht selbst betont (vgl. Rz. 244). Sieht man die »unmittelbare« Bindung des Gesetzgebers darin, dass der Eingriff durch dessen Gesetz erfolgt, lässt sich mit einer Kontrollüberlegung bestreiten, dass dieses Eingriffsverständnis ein erweitertes Verständnis des Schrankenvorbehalts bedingt: Auch auf dem Verordnungsweg durch die Landesexekutive verhängte Ausgangssperren sind nach dem Eingriffsverständnis des BVerfG als Eingriffe in die Freiheit der Person zu klassifizieren. Diese erfolgen aber, als exekutive Maßnahme, aufgrund Gesetzes. Es bedarf also keiner Erweiterung des Schrankenvorbehalts, damit überhaupt noch verfassungsgemäße Ausgangsbeschränkungen verhängt werden können. Das weite Eingriffsverständnis führt erst dazu, dass Ausgangsbeschränkungen überhaupt in die Freiheit der Person eingreifen, sagt aber noch nichts über den Schrankenvorbehalt aus. Man mag ein verändertes Verständnis des Schrankenvorbehalts für eine plausible Reaktion auf das erweiterte Eingriffsverständnis halten, müsste das dann aber darüberhinausgehend begründen. Das tut das BVerfG jedoch nicht.
Schließlich ist drittens zu bestreiten, dass die funktionale Freiheitssicherung in Form der Verteilung der einzelnen Schritte des Grundrechtseingriffs auf verschiedene Stellen – Bundesgesetzgeber und Landesexekutive – vorliegend nicht benötigt werde, weil kein körperlicher Zwang ausgeübt wird. Die Freiheit der Person, auch wenn sie ursprünglich nur körperlich verstanden wurde, war offensichtlich von solch überragender Bedeutung, dass – wie das BVerfG selbst anerkennt – das Grundgesetz den funktionalen Freiheitsschutz als zusätzliche Sicherung neben der materiellen Grundrechtsbindung normiert. Warum sollten teleologische Erwägungen dafürsprechen, dass diese Sicherungen bei psychischem Zwang nicht erforderlich sein sollten? Vielmehr sprechen gerade teleologische Erwägungen dafür, das normierte Verfahren für jeden Eingriff aufrechtzuerhalten. Denn wenn der Eingriff durch psychischen Zwang deshalb neben dem Eingriff durch physischen Zwang anerkannt wird, weil er »in Ausmaß und Wirkungsweise einem unmittelbaren physischen Zwang vergleichbar« ist (Rz. 242), dann ist es doch gerade geboten, den funktionalen Grundrechtsschutz auch auf diese – ebenso schwerwiegenden – Eingriffe zu erstrecken. Auch das Argument, es ergebe sich durch den Eingriff durch Gesetz kein Rechtsschutzdefizit, ist wenig überzeugend: Das Gericht tut sich sichtlich schwer damit, Einzelfälle einzuordnen. Die Crux der ‚self-executing‘ Norm ist ihre Pauschalität, die eine differenzierte Betrachtung erschwert. Bei Ausgangsbeschränkungen auf dem Exekutivweg ist den örtlichen Verwaltungsgerichten eine solche differenzierte Herangehensweise deutlich leichter gefallen, wie etwa das niedersächsische OVG bewiesen hat.
Fazit
Die vom BVerfG vorgetragenen Argumente, weshalb der Schrankenvorbehalt bei der Ausgangssperre der »Bundesnotbremse« nicht zu deren Verfassungswidrigkeit führt, sind nicht überzeugend. Die Feststellung, es spreche »[n]ichts … dafür, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nach ihrem Zweck gegenüber dem Gesetzgeber ein absolutes, uneinschränkbares Recht begründen soll«, ist nicht haltbar. Das Gericht hätte, gerade weil es zum einen den Eingriff in die Freiheit der Person bejaht und zum anderen den Aspekt des funktionalen Freiheitsschutzes betont, zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Ausgangssperre der »Bundesnotbremse« verfassungswidrig war.
References
↑1 | Anders jedoch die Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte, S. 76 ff.; vgl. BVerfG, a.a.O., Rz. 33. |
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↑2 | Eingriff und Schranken-Problem: Kießling in dies., IfSG, 22021, § 28b Rz. 25; Kingreen, NJW 2021, 2766, Rz. 32; Lepsius, JZ 2021, 955 ff.; Schwarz, CoVuR 2021, 258, 260 f.; Wagner, CoVuR 2021, 647, 648 f., 650 f.; vorsichtig auch Kuhlmann, jM 2021, 288, 291 f. Kein Eingriff (hilfsweise kein Schranken-Problem): Greve/Lassahn, NVwZ 2021, 665, 668 f.; Rixen in Kluckert, Das neue Infektionsschutzrecht, 22021, § 18 Rz. 25 ff. |
Danke für diesen prägnanten Beitrag. Diese Auslegungsfrage war für die Problematik der Ausgangsbeschränkungen entscheidungserheblich. Gerade daher irritiert mich die Begründungstiefe und -weise des Ersten Senats auf den Rn. 267 ff., die wohlgemerkt völlig ohne Befassung mit dem Literaturstand und mit der (widersprüchen) Zitation einer eigenen Entscheidung auskommt, die, wie Sie auch schreiben, selbst im Ansatz keine Begründung für das Ergebnis der “verwandten” Auslegungsfrage liefert. Böse Zungen könnten meinen, der Erste Senat habe es nach der – im Ansatz überzeugenden – Bestimmung der Kontrolldichte und dem Nachvollzug der gesetzgeberischen Prognosegrundlage – nicht an einer Lappalie wie dem Wortlaut der Schrankenbestimmung scheitern lassen wollen.
Vielen Dank für den Kommentar! Zu Ihrer Spekulation möchte ich mich mit Verweis auf kompetentere Kommentatoren der Ebene(n) jenseits der Dogmatik enthalten. Deshalb nur eine kleine Anmerkungen: Es ist in der Tat unbefriedigend, dass das BVerfG die Auseinandersetzung mit der Literatur – die ja einiges dazu zu sagen hat(te) – gemieden hat. Die Qualität der Argumente hat davon jedenfalls nicht profitiert.
Finde der Wortlaut hier ist weit genug, sodass er nicht zwingend ist. Vom alltäglichen Sprachverständnis liegt der Begriff “auf Grund eines Gesetzes” bzw- “durch Gesetz” doch noch absolut im “Sprachhof” und so im Bereich der Auslegung ohne die Wortlautgrenze zu überschreiten.
Eine Begründung unter Verweis auf eine eigene nicht begründete vorherige Entscheidung ist natürlich trotzdem wissenschaftlich unbefriedigend.
Ja, soweit so plausibel, aber was ist dann mit der expliziten Unterscheidung durch/auf Grund die in Art. 8 II GG und Art. 11 II GG getroffen wurde. Hier würde ich davon ausgehen, dass der Grundgesetzgeber sehr wohl eine Unterscheidung treffen wollte.
Vielen Dank für den Einwand. Mir fehlt allerdings offen gestanden ein wenig die Phantasie für Ihre Einordnung in den »Sprachhof« – auch das BVerfG spricht ja davon, dass der Wortlaut gegen einen Eingriff durch Gesetz spreche. Aber ich will gar nicht ausschließen, dass ich hier zu sehr vom Ergebnis her denke. Entscheidend scheint mir ohnehin, dass das systematische Argument für die Unterscheidung zwischen dem Eingriff durch Gesetz und dem aufgrund eines Gesetzes – auch das referiert das BVerfG, bevor es davon abweicht – ein etwaiges Wortlautargument überbietet.
Vielen Dank für den Beitrag. Hier wird meines Erachtens allerdings ein wesentlicher Teil der Entscheidung außer Acht gelasen. Den Streit um den Wortlaut und das Verhältnis von Schutzbereich und Schranke mal beiseite gelegt, ist doch am Ende entscheidend, welchen besonderen Schutz der “gestreckte Vollzug” bietet und inwiefern die Pandemielage es rechtfertigt, diesen Schutz zu beeinträchtigen. Insoweit steht die Schrankenproblematik in einem Zusammenhang mit den Rn. 135 ff., in denen Grund und Grenzen selbstvollziehender Normen ausführlich untersucht werden. Das weite Schrankenverständnis eröffnet dem BVerfG die Möglichkeit, auch bei Eingriffen in Art. 2 II GG die Handlungsform flexibler zu kontrollieren. Ein weites Schrankenverständnis bedeutet also nicht: Selbstvollziehende Eingriffe sind immer möglich. Sondern: Selbstvollziehende Eingriffe sind grundsätzlich möglich; die Handlungsformenwahl unterliegt aber verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Das entlastet die Streitfrage um die Schranke und lässt deshalb eine weite Auslegung eher zu. Insoweit scheint mir der Verweis auf die uneindeutige Entstehungsgeschichte und das zumindest plausible Bedürfnis, bei weiter Schutbereichsauslegung auch die Schranke weit zu verstehen, überzeugend. Ihre Argumentation scheint hingegen sehr darauf aufzubauen, dass ein weites Schrankenverständnis den prozeduralen Schutz des gestreckten Vollzugs voll aushebeln würde. So ist es aber nicht.
Die eigentlich wichtige Frage lautet dann: War auch in konkreten Fall eine selbstvollziehende Norm akzeptabel? Insoweit wird hier nur auf die “Pauschalität” und die fehlende gerichtliche Kontrolle im Einzelfall hingewiesen. Mir ist nicht klar, wieso das bei einer RVO besser sein sollte (s.a. Rn. 150). Das zitierte OVG-Urteil scheint mir insoweit der Entscheidung des BVerfG nicht wesentlich überlegen zu sein. Und ist diese Argumentation nicht auch etwas sehr “pauschal”, weil sie eben die besonderen Bedürfnisse einer “pandemischen” Gesetzgebung ignoriert? Mir scheint die Argumentation in den Rn. 135 ff. durchaus plausibel.
Trotzdem ein interessanter Beitrag, über eine Antwort würde ich mich freuen.
PS: Die Wortlaut-Argumentation ist tatsächlich etwas unbefriedigend. Von einem “Vortäuschen” eines Arguments zu sprechen, ist aber vielleicht doch etwas zu hart. Das Argument scheint mir eher so gemeint zu sein, dass man dieselbe Auslegung ja bei Art. 10 GG bereits vertreten habe und sich insofern damals (zumindest soweit ich das überblicke) kein besonderer Widerstand geregt hat. Es geht ja insoweit auch nur um die Vertretbarkeit der Auslegung, nicht darum, dass das besonders überzeugend sei.
Vielen Dank für den wirklich gehaltvollen Kommentar! Der Bitte um Antwort komme ich gerne nach.
Die Randziffern 135 ff. habe ich mit einer gewissen Absicht außer Acht gelassen, weil ich sie für die konkrete Frage für nicht entscheidungserheblich halte. Zum generellen Thema des »selbstvollziehenden Gesetzes« gibt es ja gehaltvolle Beiträge: Herr Lepsius sieht darin »erhebliche Eingriffe in die verfassungsrechtliche Tektur des Rechtsstaats« (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-1bvr78121-1bvr97121-corona-bundes-notbremse-massnahmen-kontakt-ausgang-schule-kinder-grundrechte-kommentar-verfassung-rechtstaat/); Herr Kluckert etwa hat im Frühjahr hier auf dem Blog einige Bedenken ausgeräumt (https://verfassungsblog.de/infektionsschutzmasnahmen-in-der-schnittmenge-von-verwaltungsanordnung-und-gesetzesbefehl/). Ich bleibe hier mal beim Verweis auf die Expertenansichten stehen und erlaube mir den Luxus, mich nicht entscheiden zu müssen, und zwar aufgrund der Einschätzung, dass die speziellen Vorschriften zum Grundrecht der Freiheit der Person den allgemeinen Erwägungen vorgehen – wie es bei Kluckert am Ende explizit heißt und auch bei Lepsius anklingt, wenn er den Art. 104 GG als gesonderte Schwachstelle der Entscheidung nennt. Die in der Anm. 2 genannte Literatur sieht das wohl auch so. Soll heißen: man kann dem Ergebnis der Rz. 135 ff. vollumfänglich zustimmen, aber beim Art. 2 II 2 GG eben doch ein durch Art. 104 GG normiertes absolutes Verbot für ein selbstvollziehendes Gesetz sehen. Das BVerfG scheint das ähnlich zu sehen, wenn es das Problem des selbstvollziehenden Gesetzes in den Rz. 135 ff. im Rahmen der Eingriffe durch die Kontaktbeschränkungen diskutiert, aber bei der Ausgangsbeschränkung und dem Art. 104 GG dann doch das speziellere Problem aufwirft. Ich halte es im Rahmen dieser Vorschrift, wie dargelegt, für zwingend, ein absolutes Verbot für den selbstvollziehenden Eingriff zu sehen – was man natürlich mit dem BVerfG anders sehen kann. Nur würde ich Ihnen erwidern, dass sich dieses konkrete Problem der Art 2 II 3, Art. 104 I 1 GG eben nicht durch den Verweis auf die allgemeinen Erwägungen lösen lässt.
Die Frage des Rechtsschutzes wird in meinem Beitrag in der Tat recht »pauschal« abgefertigt. Das Ideal einer »Feinsteuerung durch die Verwaltung mit ihrer freiheitssichernden Abwägungsleistung in Gestalt der Einzelfallkonkretisierung« (so Lepsius, a.a.O.) ist bei den Handlungsformen der Pandemiebekämpfung sicherlich ein wenig zu idealistisch gedacht. Nur ist das eben, und damit komme ich zurück zum gerade Gesagten, eine Betrachtung des »Einzelfalls«, die an der strikten Unzulässigkeit des gewählten Eingriffs nichts ändert. Das BVerfG stellt ja auch selbst nicht unmittelbar auf die konkrete Rechtsschutzerwägungen der Rz. 135 ff. ab, sondern hält die prozeduralen Sicherungen des Art. 104 GG für nicht erforderlich, weil kein körperlicher Zwang vorliegt (Rz. 271 f.) – was ich aufgrund des oben unter »drittens« Ausgeführten für verfehlt halte –, und nennt das Rechtsschutzargument erst am Ende von Rz. 272.
Zu der zitierten Entscheidung: Ich wollte vor allem bestreiten, dass sich der »Verlust« an Rechtsschutz, der durch das erweiterte Schrankenverhältnis entsteht, gewissermaßen auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit problemlos nachholen lässt – was, hier bin ich bei der Erwiderung von Herrn Thurn auf Ihren Kommentar zu dessen Beitrag, m.E. nicht gelungen ist. Die OVG-Entscheidung sollte (Wortlaut »etwa«, aber das ist möglicherweise nicht deutlich genug geworden) als Veranschaulichung für eine (wie ich finde) bessere Verhältnismäßigkeitsprüfung dienen. Es ließen sich andere Entscheidungen anführen. Man kann lange diskutieren, wie gut die Prüfung des BVerfG ist – ich halte die Ansicht, die in dem an der entsprechenden Stelle des Beitrag verlinkten Tweet kommuniziert wird, für zutreffend. Ob gerade die verlinkte Entscheidung überzeugender ist, ist für das Argument nicht entscheidend, denke ich. Ich wollte vor allem halbwegs elegant eine Diskussion der Verhältnismäßigkeit umschiffen, weil dies zum einen andere (hier und anderswo) besser getan haben, als ich das könnte, und weil es zum anderen der Erfahrung nach die Gefahr birgt, sonstige Argumente zu »ersticken«.
Zum ihrem Postskriptum: das ›Vortäuschen‹ ist, wie ich nunmehr feststelle, eine Interpretation des Auftakts zur Argumentation, den das BVerfG mit Verweis auf den Art. 10 II GG wählt, die vielleicht gewagt ist. Wie genau nun der Wortlaut zu verstehen ist, mag man so oder so sehen. Ich war, in Übereinstimmung mit nennenswerten Teilen der Literatur, der Ansicht, der Wortlaut sei eindeutig. Dann ist der Verweis auf die Entscheidung zu Art. 10 GG als »Widerlegung« wenig ergiebig. Aber ich entnehme Ihrem Kommentar und dem von John, dass das nicht so sein muss. In dem Fall ist die Wortlaut-Argumentation tragfähiger, als ich das zugestanden habe – danke für die kritische Nachfrage.
Soweit meine Antwort – ich hoffe, ich konnte Ihren Kommentar angemessen würdigen.
Vielen Dank für die ausführliche Antwort! Sie haben natürlich völlig recht, dass die Rn. 135 ff. nicht der Schlüssel zur Schranken-Problematik sein können. Aber ich denke der Zusammenhang der Passagen liegt darin, dass das BVerfG erstmal (noch nicht gestört durch Art. 2 II GG) aufzeigt, wie streng es die Handlungsformenwahl kontrollieren will, und so die Schwelle dafür senkt, später die Schranke weit auszulegen. Mit anderen Worten: Weil man sich in den Rn. 135 ff. (auf die ja später in Rn. 255 explizit verwiesen wird) Mühe gegeben hat, kann man bei der (vielleicht auch für den Senat schwerer zu entscheidenden) Schrankenproblematik diffuser bleiben – man fällt ja weich. Ihrer Kritik liegt natürlich nicht zu Unrecht zu Grunde, dass saubere Dogmatik anders aussieht. Ich finde, es macht die Entscheidung aber in der Sache wenigstens “vernünftiger”, als sie auf den ersten Blick scheinen mag. Es ist vielleicht am Ende nur das typische “Einzelfallkontrolle schlägt generelles Verbot”. Ihre dogmatische Kritik berührt das natürlich im Kern nicht.
Unsere Diskussion zeigt mE aber vor allem auch, dass es der Entscheidung an kommunikativer Qualität mangelt (was Sie in der Sache ja auch bereits kritisiert haben). Ein gewisser Hang zu kryptischen Formulierungen ist ja nichts neues, aber es ist doch sehr schade, dass wir uns hier den Kopf zerbrechen müssen darüber, was der Senat wirklich gedacht hat. Es wäre so einfach gewesen, klarer zu formulieren, welche Erwägungen genau hinter der weiten Auslegung liegen. Man hätte den Bezug zu den Rn. 135 ff., so er denn überhaupt besteht, auch einfach offen legen können. Hat man aber nicht. Gerade im Hinblick darauf, dass das Urteil von vielen Seiten heiß ersehnt und Streit darüber absehbar war, hätte vieles einfach klarer sein müssen.