Doch eine ’self-executing‘ Ausgangssperre
Zur Auslegung des Schrankenvorbehalts bei Eingriffen in die Freiheit der Person
Mit seinem Beschluss vom 19. November 2021 (Bundesnotbremse I) hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur die lange ersehnte Antwort auf die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gegeben. Es hat sich zugleich zu der hoch umstrittenen Frage geäußert, ob die »Bundesnotbremse« Ausgangsbeschränkungen unmittelbar durch Gesetz anordnen durfte. Obwohl die grundrechtlich geschützte Freiheit der Person mit einem speziellen Schrankenvorbehalt ausgestattet ist, der nach seinem Wortlaut nur Eingriffe aufgrund Gesetzes zulässt (Art. 2 Abs. 2 S. 2/3, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG), sieht das BVerfG in der unmittelbar wirkenden Ausgangssperre keine Verletzung jenes Schrankenvorbehalts. Die Argumente des Gerichts überzeugen nicht. Auch ein weites Verständnis von Eingriffen in die Freiheit der Person vermag an dem engen Schrankenvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG nichts zu ändern.
Das Problem
Schon im Gesetzgebungsverfahren war vorgetragen worden, dass die Ausgangssperre durch Gesetz mit dem Schrankenvorbehalt unvereinbar ist. Ich habe die Verfassungswidrigkeit der Ausgangssperre durch Gesetz hier ausführlich zu begründen versucht. Auch mehrere Verfassungsbeschwerden zur Bundesnotbremse hatten sich u.a. auf eben diesen Aspekt gestützt (vgl. Rz. 25 f., 42, 44, 46).1) In der Rechtswissenschaft waren die Stimmen dagegen geteilt. Während einige bereits einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG bestritten, stufte die Mehrheit die Ausgangssperre als einen solchen Eingriff ein und hielt sie bereits aufgrund der Verletzung des Schrankenvorbehalts für verfassungswidrig.2)
Auch mehrere Eilanträge gegen die Ausgangsbeschränkung hatten das Problem aufgeworfen; zu einer Stellungnahme des BVerfG zu dieser Frage kam es allerdings nicht (Beschl. v. 05.05.2021, Rz. 11, 33 ff.).
Der Argumentationsgang des BVerfG
Umso erfreulicher ist, dass das BVerfG sich in »Bundesnotbremse I« nun ausführlich mit dem Problem auseinandersetzt. Das Gericht bejaht dabei zunächst die Frage, ob Ausgangssperren in die Freiheit der Person eingreifen. Auch wenn die Freiheit der Person typischerweise Fälle unmittelbaren körperlichen Zwangs (etwa einer Verhaftung) betreffe, sei anerkannt, dass dies kein zwingendes Erfordernis ist. Vielmehr könne »in die Fortbewegungsfreiheit auch durch allein psychisch vermittelten Zwang eingegriffen werden«, wenn eine »Zwangswirkung, die nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar ist«, vorliegt (Rz. 246).
Sodann widmet sich das BVerfG dem Schrankenvorbehalt in Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG. Der Wortlaut deute »eher auf ein zumindest auch kompetenzielles Verständnis der Schranken hin« und »könnte nahelegen, dass dem parlamentarischen Gesetzgeber Eingriffe in dieses Freiheitsrecht unmittelbar durch Gesetz nicht zugänglich sind« (Rz. 268 f.). Jedoch konstatiert das Gericht, dass der Wortlaut nicht zwingend sei; so werde er etwa bei Art. 10 Abs. 1 GG auch übergangen (Rz. 269).
Die Entstehungsgeschichte der Norm sei zwar »uneindeutig«, lasse sich aber so lesen , »dass bei der Formulierung ›auf Grund eines Gesetzes‹ der gesetzesunmittelbare wie auch der durch die Verwaltung vermittelte Eingriff als möglich erachtet wurde, aber nicht umgekehrt die Legislative von der unmittelbaren Regelung ausgeschlossen sein sollte« (Rz. 270).
In systematischer Hinsicht stellt das Gericht fest, dass Art. 104 GG ein »erkennbar auf den administrativen Vollzug freiheitsbeschränkender Maßnahmen und die hierbei zu wahrenden legislativen und judikativen Vorgaben ausgerichtetes Normprogramm zugrunde« liege (Rz. 271). Damit werde ein Freiheitsschutz durch die Zuweisung verschiedener Aspekte des Grundrechtseingriffs auf funktional verschiedene Stellen bezweckt.
Das gelte aber, so das Gericht, nur »an sich« und »grundsätzlich« – im vorliegenden Fall aber gerade nicht. Die genannten Sicherungen seien nur auf unmittelbaren körperlichen Zwang zugeschnitten. »Bei einem erweiterten Eingriffsverständnis«, das auch nicht unmittelbar körperlichen Zwang einschließe, sprächen aber teleologische Gründe dagegen, »die Schrankenregelungen in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kompetenziell als Verwaltungsvorbehalt auszulegen«. Im Übrigen sei weder ein »mit dem Schutzzweck der Schranken unvereinbarer Verlust an Rechtsschutz« noch eine Situation, in der die weiteren Schutzmechanismen aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 2. Hs., S. 2 GG notwendig wären, gegeben (alles Rz. 272).
Argumentation voller Widersprüche
Obwohl sich das BVerfG erfreulich ausführlich mit der Frage nach der Schranke beschäftigt hat, überzeugen die Argumente nicht.
Erstens: Dass der Wortlaut nicht zwingend ist, will das BVerfG mit dem Verweis auf eine eigene frühere Entscheidung zu Art. 10 Abs. 1 GG, der einen Eingriff ebenfalls nur aufgrund Gesetzes erlaubt, veranschaulichen (Rz. 169). Allerdings wird hier durch Selbstzitation ein Argument vorgetäuscht, wo keines ist. Denn die dort zitierte Entscheidung bleibt jedes Argument zur Frage schuldig und stellt schlicht die Verfassungsmäßigkeit eines Eingriffs durch Gesetz in Art. 10 Abs. 1 GG fest (E 125, 260, 313 = hier Rz. 198). Folgt man dem dortigen Verweis, findet man ebenso wenig eine Begründung zur aufgeworfenen Frage (E 85, 385, 396 ff. = hier Rz. 45 ff.). Die Ausführungen beißen sich im Übrigen mit der Feststellung wenige Sätze später, es fehle »an einem System der verschiedenen Schrankenregelungen in dem Sinne, dass Gehalt und Wirkungen des Verfassungstextes bei gleicher sprachlicher Fassung jeweils gleich zu verstehen wären und umgekehrt« (Rz. 270). Warum dann der Verweis auf das Übergehen des Wortlauts in Art. 10 Abs. 1 GG?
Zweitens ist unverständlich, weshalb das erweiterte Eingriffsverständnis notwendig »Konsequenzen« für den Schrankenvorbehalt haben muss. Es bleibt zunächst unklar, weshalb aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber »unmittelbar« durch das erweiterte Eingriffsverständnis an das Grundrecht der Freiheit der Person gebunden ist, gefolgert wird, er müsse »umgekehrt auch von der vorgesehenen Beschränkungsmöglichkeit Gebrauch machen können« (Rz. 272). Der Gesetzgeber ist ohnehin kraft der Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an das Grundrecht der Freiheit der Person gebunden. Dies wirkt sich dahingehend aus, dass der Gesetzgeber schon bei der Schaffung eines Gesetzes, das der Exekutive einen Eingriff erlaubt, an das Grundrecht gebunden ist – wie das Gericht selbst betont (vgl. Rz. 244). Sieht man die »unmittelbare« Bindung des Gesetzgebers darin, dass der Eingriff durch dessen Gesetz erfolgt, lässt sich mit einer Kontrollüberlegung bestreiten, dass dieses Eingriffsverständnis ein erweitertes Verständnis des Schrankenvorbehalts bedingt: Auch auf dem Verordnungsweg durch die Landesexekutive verhängte Ausgangssperren sind nach dem Eingriffsverständnis des BVerfG als Eingriffe in die Freiheit der Person zu klassifizieren. Diese erfolgen aber, als exekutive Maßnahme, aufgrund Gesetzes. Es bedarf also keiner Erweiterung des Schrankenvorbehalts, damit überhaupt noch verfassungsgemäße Ausgangsbeschränkungen verhängt werden können. Das weite Eingriffsverständnis führt erst dazu, dass Ausgangsbeschränkungen überhaupt in die Freiheit der Person eingreifen, sagt aber noch nichts über den Schrankenvorbehalt aus. Man mag ein verändertes Verständnis des Schrankenvorbehalts für eine plausible Reaktion auf das erweiterte Eingriffsverständnis halten, müsste das dann aber darüberhinausgehend begründen. Das tut das BVerfG jedoch nicht.
Schließlich ist drittens zu bestreiten, dass die funktionale Freiheitssicherung in Form der Verteilung der einzelnen Schritte des Grundrechtseingriffs auf verschiedene Stellen – Bundesgesetzgeber und Landesexekutive – vorliegend nicht benötigt werde, weil kein körperlicher Zwang ausgeübt wird. Die Freiheit der Person, auch wenn sie ursprünglich nur körperlich verstanden wurde, war offensichtlich von solch überragender Bedeutung, dass – wie das BVerfG selbst anerkennt – das Grundgesetz den funktionalen Freiheitsschutz als zusätzliche Sicherung neben der materiellen Grundrechtsbindung normiert. Warum sollten teleologische Erwägungen dafürsprechen, dass diese Sicherungen bei psychischem Zwang nicht erforderlich sein sollten? Vielmehr sprechen gerade teleologische Erwägungen dafür, das normierte Verfahren für jeden Eingriff aufrechtzuerhalten. Denn wenn der Eingriff durch psychischen Zwang deshalb neben dem Eingriff durch physischen Zwang anerkannt wird, weil er »in Ausmaß und Wirkungsweise einem unmittelbaren physischen Zwang vergleichbar« ist (Rz. 242), dann ist es doch gerade geboten, den funktionalen Grundrechtsschutz auch auf diese – ebenso schwerwiegenden – Eingriffe zu erstrecken. Auch das Argument, es ergebe sich durch den Eingriff durch Gesetz kein Rechtsschutzdefizit, ist wenig überzeugend: Das Gericht tut sich sichtlich schwer damit, Einzelfälle einzuordnen. Die Crux der ‚self-executing‘ Norm ist ihre Pauschalität, die eine differenzierte Betrachtung erschwert. Bei Ausgangsbeschränkungen auf dem Exekutivweg ist den örtlichen Verwaltungsgerichten eine solche differenzierte Herangehensweise deutlich leichter gefallen, wie etwa das niedersächsische OVG bewiesen hat.
Fazit
Die vom BVerfG vorgetragenen Argumente, weshalb der Schrankenvorbehalt bei der Ausgangssperre der »Bundesnotbremse« nicht zu deren Verfassungswidrigkeit führt, sind nicht überzeugend. Die Feststellung, es spreche »[n]ichts … dafür, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nach ihrem Zweck gegenüber dem Gesetzgeber ein absolutes, uneinschränkbares Recht begründen soll«, ist nicht haltbar. Das Gericht hätte, gerade weil es zum einen den Eingriff in die Freiheit der Person bejaht und zum anderen den Aspekt des funktionalen Freiheitsschutzes betont, zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Ausgangssperre der »Bundesnotbremse« verfassungswidrig war.
References
↑1 | Anders jedoch die Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte, S. 76 ff.; vgl. BVerfG, a.a.O., Rz. 33. |
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↑2 | Eingriff und Schranken-Problem: Kießling in dies., IfSG, 22021, § 28b Rz. 25; Kingreen, NJW 2021, 2766, Rz. 32; Lepsius, JZ 2021, 955 ff.; Schwarz, CoVuR 2021, 258, 260 f.; Wagner, CoVuR 2021, 647, 648 f., 650 f.; vorsichtig auch Kuhlmann, jM 2021, 288, 291 f. Kein Eingriff (hilfsweise kein Schranken-Problem): Greve/Lassahn, NVwZ 2021, 665, 668 f.; Rixen in Kluckert, Das neue Infektionsschutzrecht, 22021, § 18 Rz. 25 ff. |
Danke für diesen prägnanten Beitrag. Diese Auslegungsfrage war für die Problematik der Ausgangsbeschränkungen entscheidungserheblich. Gerade daher irritiert mich die Begründungstiefe und -weise des Ersten Senats auf den Rn. 267 ff., die wohlgemerkt völlig ohne Befassung mit dem Literaturstand und mit der (widersprüchen) Zitation einer eigenen Entscheidung auskommt, die, wie Sie auch schreiben, selbst im Ansatz keine