Keine ‘self-executing’ Ausgangssperre
Zur Freiheitsbeschränkung im Infektionsschutzrecht unmittelbar durch Gesetz
Mit der jüngsten Reform des Infektionsschutzgesetzes gilt in Landkreisen, sobald die „Notbremse“ greift, eine Ausgangsbeschränkung von „22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetags“ (§ 28b I 1 Nr. 2 IfSG). Anders als bei den bisher erlassenen, gleichgerichteten Verordnungen auf Landesebene stellt sich die Frage, ob ein Gesetz eine solche Beschränkung unmittelbar anordnen kann. Wie von den Sachverständigen Möllers und Kießling im Gesundheitsausschuss des Bundestags kritisch angemerkt, vollzieht § 28b I 1 Nr. 2 IfSG den Eingriff selbst, als self-executing Maßnahmegesetz. Art. 2 II 3 und Art. 104 I GG erlauben allerdings eine Einschränkung des Grundrechts der Freiheit der Person nur auf Grund eines Gesetzes, nicht durch Gesetz. Weil § 28b I 1 Nr. 2 IfSG diese wichtige formelle Schranke nicht beachtet, ist die Ausgangsbeschränkung jenseits von Verhältnismäßigkeitsfragen verfassungsrechtlich unzulässig.
Ausgangsbeschränkung als Eingriff in Art. 2 II 2 GG
In geltender Grundrechtsdogmatik schützt die Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) die „persönliche Bewegungsfreiheit im engeren Sinne“, wie es im Herrenchiemseer Entwurf hieß (JöR 1951, 63). Den elementaren Kern dieses Grundrechts stellt die Freiheit dar, den gegenwärtigen Aufenthaltsort zu verlassen (statt aller Brunner JURA 2020, 1328, 1330/1). Die Frage nach dem Eingriff ist in vielerlei Hinsicht umstritten und wird erschwert durch die in Art. 104 GG angelegte Differenzierung zwischen Freiheitsbeschränkung, Art. 104 I GG, und Freiheitsentziehung, Art. 104 II-IV GG (Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. III, 7. Aufl. 2018, Art. 104 Rn. 18 ff.). Dass die Ausgangsbeschränkung keine Freiheitsbeschränkung sei, lässt sich allerdings nur dann behaupten, wenn man für einen Eingriff einen unmittelbaren Zwang fordert (so Gerichte hier Rn. 46 ff. und hier Rn. 32).
Aber: dass das Grundrecht in der ideengeschichtlichen Tradition des habeas corpus primär Freiheit vor physischem Zwang bieten sollte, kann nicht dazu führen, andere, vergleichbar schwere Eingriffe abzulehnen. Ein Verstoß gegen § 28b I 1 Nr. 2 IfSG wäre eine Ordnungswidrigkeit (§ 73 Ia Nr. 11c IfSG), für die man bis zu 25.000 Euro Bußgeld zahlen müsste (§ 73 II Hs. 2 IfSG, Einzelheiten nach § 17 OWiG), weil der Entwurf die neuen Ordnungswidrigkeiten nicht in die ausnahmsweise Reduktion der Höhe auf 2.500 Euro nach § 73 II Hs. 1 IfSG aufnimmt. Die Rhetorik rund um die „Notbremse“ und ihre Symbolwirkung dürften zudem auf viele einen darüberhinausgehenden psychischen Druck, die Ausgangsbeschränkung einzuhalten, bewirken. Schließlich ist zu bedenken, dass man sich nach § 74 IfSG strafbar macht, wenn man gegen den § 28b I 1 Nr. 2 IfSG vorsätzlich verstößt und dabei das Corona-Virus „verbreitet.“ Ungeachtet der strafrechtlichen Probleme beim Thema Virus-Übertragung wird der dazu erforderliche Kausalitätsnachweis einer Übertragung in der Praxis kaum zu erbringen sein (Lorenz/Oğlakcıoğlu in: Kießling, IfSG, 2020, Vor §§ 73 ff. Rn. 19) – die von § 74 IfSG in Aussicht gestellten bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe dürften bei den meisten Leuten aber für Abschreckung sorgen. Spätestens hier wird der Eingriffscharakter evident. Trotzdem einen unmittelbaren, d.h. physischen Zwang zu fordern, würde damit der speziellen Sachlage keinesfalls gerecht (vgl. insb. Kießling in: dies., a.a.O., § 28 Rn. 33; allgemein ähnlich Schulze-Fielitz in: Dreier, GG, Bd. III, Art. 104 Rn. 25; Mehde in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104 Rn. 67; Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, a.a.O., Art. 104 Rn. 22/3). Richtigerweise haben Verwaltungsgerichte bei der Prüfung von Ausgangsbeschränkungen immer wieder einen Eingriff in Art. 2 II 2 GG angenommen (etwa hier Rn. 72; hier; hier Rn. 31/2; weitere Nachweise bei Kämmerer/Jischkowski GesR 2020, 341, 345/6).
Die Begründung zum § 28b I 1 Nr. 2 IfSG ist anderer Ansicht. Es handle sich „nicht um eine Freiheitsentziehung, sondern lediglich um eine Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit zu regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten, die sich als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit auswirkt“ (S. 12). Die Aussage muss irritieren – immerhin ist die persönliche Bewegungsfreiheit Inhalt des klassischen Schutzbereichs der Freiheit der Person, und dies auch nachts. § 28b XI IfSG nennt auch die Freiheit der Person als Grundrecht, das durch den neuen Paragraphen eingeschränkt werden darf. Bis auf die Ausgangsbeschränkung ist allerdings keine Maßnahme ersichtlich, die in dieses Grundrecht eingreifen könnte – man möchte meinen, der Gesetzgeber hat den hier vorgetragenen Einwand antizipiert und hilfsweise das Zitiergebot aus Art. 19 I 2 GG schon einmal erfüllt. Dass ein Eingriff in Art. 2 II 2 GG in Form der Freiheitsbeschränkung vorliegt, ist demnach ersichtlich.
Zur Unterscheidung zwischen Eingriffen auf Grund eines Gesetzes und durch Gesetz
Soweit mithin ein Eingriff in Form der Freiheitsbeschränkung vorliegt, stellt sich die Frage der Rechtfertigung. Anders als bei den restlichen Grundrechten wird die Schranke des Art. 2 II 3 GG überlagert durch Art. 104 GG. Als formelle Anforderung gestattet Art. 2 II 3 GG einen Eingriff „nur auf Grund eines Gesetzes“; Art. 104 I 1 GG „auf Grund eines förmlichen Gesetzes.“ Wie bei einigen anderen (Art. 6 III, Art. 10 II, Art. 13 VII, Art. 16 I 2 GG), aber im Gegensatz zu den meisten Grundrechten ist die Einschränkung durch Gesetz nicht zulässig. Worin liegt der Unterschied? Wird ein Grundrecht durch Gesetz eingeschränkt, vollzieht das Gesetz den Eingriff selbst; bei einer Einschränkung auf Grund eines Gesetzes ist eine weitere Stelle zwischengeschaltet (vgl. Jarass in: ders./Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Vor Art. 1 Rn. 42). Das mag wie abstrakte Begriffsjurisprudenz klingen, allerdings sollten die Unterschiede in der Sache aber nicht aus den Augen geraten. Beide Formeln eint, dass die den einen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt normieren. Die „auf Grund“-Formel hat aber einen darüberhinausgehenden Bedeutungsgehalt: die Legislative soll in dieser Formulierung nicht absolute Verfügungsgewalt über den Eingriff erhalten. Vielmehr wird die Freiheit auch ihr gegenüber abgesichert, indem keine selbstvollziehenden Gesetze erlassen werden dürfen – checks and balances im besten Sinne. Auch Legislative und Exekutive sind durch Art. 1 III GG an die Grundrechte gebunden und können sich gegenseitig (in begrenztem Rahmen freilich) in Schach halten, ohne dass ein Gericht eingreifen muss, wie auch das Bundesverfassungsgericht (Rn. 51) betont. Der sicherlich nicht freiheitsaffine Carl Schmitt hat diesen Punkt präzise ausformuliert: „Auf der Unterscheidung von genereller gesetzlicher Regelung und Anwendung dieser Regeln durch den Richter oder eine Verwaltungsbehörde beruht die eigenartige Konstruktion des rechtsstaatlichen Schutzes. Der Eingriff in Freiheit und Eigentum geschieht nicht durch Gesetz, sondern auf Grund eines Gesetzes“ (Verfassungslehre, 11. Aufl. 2017, S. 152; Hervorhebung im Orig.). Kann diese Unterscheidung auf Art. 2 II 3, 104 I GG übertragen werden?
Wider zwei grundsätzliche Einwände
Erster Einwand: Art. 2 II 3 GG erlaube nur den Eingriff auf Grund eines Gesetzes, weil ein Gesetz gar nicht unmittelbar jemanden „gefangen nehmen“ könne (Kunig/Kämmerer in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. I, 7. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 145). Das Argument ist in zweifacher Hinsicht verfehlt. Zum einen ist das ein offensichtlicher Zirkelschluss: dass die Grundrechtsschranke gewisse Eingriffsmodalitäten nicht für zulässig erklärt, kann normlogisch nicht zur Beschränkung des Eingriffsbegriffs auf zulässige Modalitäten führen. Zum anderen ist die Aussage mit Blick auf weitere Grundrechte nicht zwingend. So wird bei Art. 16 I 2 GG, der den Verlust der Staatsangehörigkeit auf Grund eines Gesetzes erlaubt, niemand behaupten wollen, ein Gesetz selbst wäre nicht in der Lage, die Rechtsfolge direkt anzuordnen (vgl. v. Arnauld/Martini in: v. Münch/Kunig, a.a.O., Art. 16 Rn. 40/1). Warum das Argument dann aber gerade bei Art. 2 II 3 GG überzeugend sein soll, ist nicht ersichtlich.
Zweiter Einwand: Eine Beschränkung auf Eingriffe auf Grund eines Gesetzes könne nicht richtig sein, immerhin werde die Verfassungsmäßigkeit von § 142 StGB (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) oder § 323c I StGB (Unterlassene Hilfeleistung) niemand bezweifeln wollen (Wittreck in: HbStR VII, 3. Aufl. 2009, § 151 Rn. 27 mit Anm. 129). Die Antwort dürfte in dem Erfordernis eines Finalitätscharakters des Eingriffs liegen (Rixen in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 2 Rn. 233). Der Strafgrund der Strafgesetze besteht in der Verletzung der einschlägigen Rechtsgüter; in Art. 2 II 2 GG wird also nicht eingegriffen. Die Ausgangsbeschränkung hat aber die Freiheitsbeschränkung zum finalen Ziel.
Gewaltenteilung als funktionaler Freiheitsschutz
Das Bundesverfassungsgericht nivelliert den Unterschied zwischen den verschiedenen Eingriffsmodalitäten für die meisten Grundrechte (hier Rn. 197/8 zu Art. 10 II GG). Lässt sich wenigstens das auf Art. 2 II 3, 104 I GG anwenden? Man könnte meinen, die Differenzierung sei sinnlos (Wittreck a.a.O.). Jedenfalls für Art. 2 II 3, 104 I GG kann das nicht behauptet werden (und ist es vom Bundesverfassungsgericht bislang auch nicht). Die grundrechtsdogmatische Begründung liegt an der Schranken-Systematik des Art. 104 GG, der der materiellen Freiheitsgarantie des Grundrechts aus Art. 2 II 2 GG eine funktionale Freiheitsgarantie in Form der Gewaltenteilung an die Seite stellt (vgl. insb. Di Fabio in: Maunz/Dürig, a.a.O., Art. 2 II 2 Rn. 42).
Der Blick auf die Schranken-Schranken der Freiheitsentziehung nach Art. 104 II-IV GG mag das verdeutlichen. Die Systematik ist ersichtlich getragen von der Idee, Entziehungen der Freiheit mithilfe der Gewaltenteilung abzusichern, indem ein Zusammenspiel von vollziehender Gewalt und Richtervorbehalt ausgearbeitet wird. Art. 104 I 1 GG, der für Freiheitsbeschränkungen wie -entziehungen gleichermaßen gilt, erweitert das um den Aspekt, dass dies nur „auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen“ geschehen darf. Diese Formulierung hat also eine zweifache Schutzrichtung. Zum einen wird ein Eingriff in Art. 2 II 2 GG nur aufgrund eines Parlamentsgesetzes ermöglicht; zum anderen ist das Parlament aber wiederum auf den Vollzug durch eine funktionell verschiedene Stelle angewiesen. Die Freiheitsentziehung erfordert damit, soweit unstrittig, ein Zusammenspiel aller drei Gewalten; die Freiheitsbeschränkung verzichtet zwar auf den Richtervorbehalt, hält aber die Zweiteilung in Gesetzgebung und Gesetzesvollzug durch verschiedene Stellen aufrecht (i.E. ähnlich Mehde in: Maunz/Dürig, a.a.O., Art. 104 Rn. 41).
Dass das kein verfassungstheoretisches Hirngespinst aus der Studienkammer ist, zeigt sich ganz unmittelbar in Fragen des Rechtsschutzes. Ließen sich die einschlägigen Normen der Verordnungen auf Landesebene bis dato jedenfalls per Normenkontrollverfahren (soweit nach § 47 I Nr. 2 VwGO statthaft; ansonsten Feststellungsklage) vor dem jeweiligen OVG prüfen, steht gegen das IfSG als Bundesgesetz nur die Möglichkeit der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zur Verfügung. Damit einher geht ein aufgrund der erheblichen Anforderungen an eine Verfassungsbeschwerde substantiell erschwerter Zugang zum Rechtsschutz. Die „Bekanntmachung“ durch die zuständige Landesbehörde, wann die „Notbremse“ im jeweiligen Landkreis gilt (§ 28 I 3, 4 IfSG), ändert an der Rechtslage nichts, denn sie soll zwar Rechtssicherheit bieten, aber ausdrücklich das „unmittelbare Eingreifen der Notbremse“ nicht berühren (S. 19).
Schlussfolgerung
Die Grundrechtsdogmatik hat in der Pandemie keinen leichten Stand. Schwierige Prognoseentscheidungen und massive Gefahren für Leib und Leben zwingen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in eine defensive Position. Gerade deswegen wäre es umso wichtiger, dort grundrechtsdogmatische Pflöcke als Grenzen einzuschlagen, wo es keinen Abwägungsspielraum gibt. Die Gesetzgebung der vergangenen Monate im Bereich des Infektionsschutzes ist in vielerlei Hinsicht kein Glanzstück. Der neue § 28b I 1 Nr. 2 IfSG aber hat in der Hinsicht eine neue Qualität: er ist, schon weil er gegen die Schrankenanforderung der Art. 2 II 3, Art. 104 I 1 GG verstößt, verfassungswidrig. Angesichts der angekündigten Verfassungsbeschwerden wird sich das Bundesverfassungsgericht nicht nur mit der Verhältnismäßigkeit, sondern auch mit diesem Problem auseinandersetzen müssen.
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