EGMR sendet Friedenssignal nach London
Die Briten haben es nicht einfach zur Zeit an der Europa-Front: Ob EU, ob EMRK, überall lauern irgendwelche Finsterlinge, die der Queen in Parliament das Leben sauer und die Kompetenzen streitig machen wollen.
Um so erleichterter dürfte man in London das heutige Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Al-Khawaja und Tahery vs. UK zur Kenntnis nehmen: Der EGMR setzt offenbar auf Entspannung und friedliche Koexistenz und hat an einer weiteren Eskalation des hier ja schon öfter thematisierten Konflikts mit dem Vereinigten Königreich kein Interesse.
Abwesende Zeugen
In dem einen entschiedenen Fall geht es um einen Arzt, dem vorgeworfen wurde, hypnotisierte Patientinnen sexuell missbraucht zu haben. Eine der Opfer beging vor Beginn des Prozesses Selbstmord, zuvor hatte sie aber noch vor der Polizei den Mann beschuldigt. Diese Aussage wurde der Jury vorgelesen.
Im anderen Fall ging es um eine Messerstecherei unter Iranern mit tödlichem Ausgang. Ein Zeuge beschuldigte einen Mann, wollte aber aus Angst nicht vor Gericht aussagen, so dass seine Aussage ebenfalls der Jury vorgelesen wurde.
Beide Beschuldigte wurden verurteilt und riefen den EGMR an, weil sie ihr Recht auf einen fairen Prozess verletzt sahen: Art. 6 III d EMRK gewährt Angeklagten ausdrücklich das Recht, Belastungszeugen zu befragen. Dieses Recht sei ihnen vorenthalten worden.
“sole or decisive”
2009 sah eine Kammer des EGMR das genauso und verurteilte das Vereinigte Königreich: Jemanden “allein oder entscheidend” aufgrund der Aussage eines Zeugen zu verurteilen, den man nicht einem Kreuzverhör unterziehen kann, sei mit Art. 6 EMRK fast immer unvereinbar. Dieses Urteil richtete sich direkt gegen zwei vom britischen Parlament erlassene Gesetze, die Zeugnisse vom Hörensagen in genau solchen Fällen zugelassen hatten.
Hätte die Große Kammer dieses Urteil jetzt bestätigt, dann wäre der Furor der Briten enorm angefacht worden. Man kann sich leicht vorstellen, was Politik und Presse aus dem Fall gemacht hätten: Diese weltfremden Richter in Straßburg, nicht nur zwingen sie uns, verurteilten Axtmördern die bürgerlichen Ehrenrechte zu gewähren, sondern sie hindern uns auch noch daran, Verbrecher zu verurteilen, nur weil die Zeugen tot oder eingeschüchtert sind!
Hat sie aber nicht. Laut Pressemitteilung (der Link zum Urteil funktioniert irgendwie nicht) war der Großen Kammer der Frieden mit Großbritannien eine Aufweichung der “allein-oder-entscheidend”-Regel wert: Der Gerichtshof
found that the sole or decisive rule should not be applied in an inflexible way, ignoring the specificities of the particular legal system concerned. To do so would transform the rule into a blunt and indiscriminate instrument that ran counter to the Court’s traditional approach to the overall fairness of proceedings, namely to weigh in the balance the competing interests of the defence, the victim, and witnesses, and the public interest in the effective administration of justice.
Also: Abwägung all over. Man kann nicht “sole or decisive” aufgrund einer nicht im Prozess attackierbaren Zeugenaussage verurteilt werden – es sei denn, allerhand spricht dafür, dass man es doch kann.
Ich habe da rechtspolitisch gar nicht unbedingt etwas dagegen: So rigide darauf zu bestehen, dass jeder Belastungszeuge in persona vor den Schranken der Gerichts erscheint, scheint mir ein ziemlicher Anachronismus. Um so richtiger finde ich es auch, dass sich der EGMR nicht diesen Fall ausgesucht hat, um Mannesmut vom Richterthron herab zu demonstrieren. Aber den Fair-Trial-Grundsatz gar so larifari dem Abwägungsvorbehalt zu unterwerfen, war das wirklich nötig?
Der britische Richter und gegenwärtige EGMR-Präsident Nicholas Bratza hat eine concurring opinion beigefügt, außerdem der Ungar András Sajó und die Türkin Isil Karakas eine teils dissenting, teils concurring opinon. Auf die habe leider keinen Zugriff. Das wäre bestimmt interessant, was Bratza zu dem Fall zu sagen hat…
Update: Inzwischen habe ich Bratzas Opinion gelesen – sehr empfehlenswert, um einen Einblick in die Praxis des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds zu erhalten.
Foto: Dixie Wells, Flickr Creative Commons
“Ich habe da rechtspolitisch gar nicht unbedingt etwas dagegen: So rigide darauf zu bestehen, dass jeder Belastungszeuge in persona vor den Schranken der Gerichts erscheint, scheint mir ein ziemlicher Anachronismus.”
Also, ich bin kein Jurist und kenne auch nicht die entsprechenden Verfahrensdetails, aber öffnet das Verleumdungsklagen nicht Tür und Tor?
Die Briten beschreiten bereits mit ihren Anti-social-behaviour-orders seit einem Jahrzehnt einen recht eigenwilligen Weg.
Ich verstehe auch nicht, warum das ein Anachronismus sein soll. Habe ich da Fortschritte in der Aussagepsychologie verpasst? Kann man heute die (schriftlichen oder von Dritten wiedergegebenen) Aussagen abwesender Zeugen besser würdigen als früher?
Mehr zu dem Urteil hier.
Kurz vor dem Urteil hat Lordrichter Irvine noch mal nachgelegt mit einer saftigen EGMR-Attacke, mehr dazu hier.
Saftig ist dafür fast noch untertrieben!
[…] voran Großbritannien) tatsächlich auf einen “appeasement approach” verlegt, wie Max Steinbeis hier auf dem Verfassungsblog und Helen Fenwick auf dem UKCLG Blog (in einem höchst informativen […]
[…] that responds to harsh criticism from certain signatory states (most outspokenly from the UK), as Max Steinbeis has speculated here on the Verfassungsblog, and Helen Fenwick over on the UKCLG Blog (in a highly […]